Karl Kautsky: Nochmals Klassenkampf und Ethik

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ – 19. 1900-1901, 1. Band, Heft 15 (9. Januar 1901), S. 468-472]

Dr. Försters Erwiderung bringt keine neuen Tatsachen. In Bezug auf die Erscheinung, die ihn zu seiner Philippika gegen den Klassenkampf anregt, weiß er nur die Behauptung zu wiederholen, dass sie ein „Fiasko einer wahrhaft sozialen Kommunalverwaltung“ einleite, ohne auseinanderzusetzen, worin dieses Fiasko bestehe und aus welchen Gründen es gerade in der Lehre vom Klassenkampf seinen Grund habe, Dr. Förster wird mir aber gestatten, dass ich seinen bloßen Behauptungen über englische Verhältnisse gegenüber etwas skeptisch bleibe. Wer garantiert mir, dass sich Herr Dr. Förster in Bezug auf West Ham nicht ebenso irrt, wie in Bezug auf Herrn Sanders?

Was ich im Laufe des letzten Jahrzehnts über die Schwierigkeiten von „Arbeitermajoritäten“ in London erfahren, war ganz anderer Art, als die Mitteilungen Dr. Försters. Darnach entsprangen diese Schwierigkeiten vorwiegend aus dem Mangel an Kräften und Mitteln, die der „Arbeitermajorität“ zur Verfügung standen, und aus dem kapitalistischen Charakter des Staatswesens, nicht aber aus dem Mangel an Ethik bei den städtischen Arbeitern. Die Londoner Stadtverwaltung war in ihren Befugnissen aufs Äußerste beschränkt, in allen ihren Reformen vom Parlament abhängig. Dieses aber ist, dank der famosen Politik der englischen Arbeiter, ganz in den Händen der Kapitalisten, die dafür sorgen, dass keinem kapitalistischen Interesse in London ein Haar gekrümmt wird. Daher ist, trotz des vielgerühmten englischen Munizipalsozialismus, London immer noch einer Bande von Monopolisten preisgegeben, die ihre Stellung aufs Unverschämteste ausbeuten. Nicht nur die Gasanstalten, nein, auch die Wasserversorgung, ja selbst die Märkte sind im Besitz von Privaten und Aktiengesellschaften, und das angeblich so sozialreformerische englische Parlament wacht ängstlich über ihren Privilegien und hat bisher alle Gesetzentwürfe abgelehnt, welche auf Änderung dieser skandalösen Zustände hinwirkten. So gehört z.B. das Marktrecht in Covent Garden, dem Zentralgemüsemarkt, dem Earl of Bedford, der daraus jahraus jahrein eine Reineinnahme von 800000 Mark zieht. Die acht Wassergesellschaften, die London mit Wasser versorgen, zogen schon 1893 aus ihrem Privilegium im Jahre 20 Millionen Mark Überschuss über ihre Kosten, Dafür liefern sie ungesundes Wasser in so ungenügenden Quantitäten, dass fast in jedem Jahre zeitweise ein Wassermangel (water famine) ausbricht. Der Wasserzins, den ihnen jedes Haus zu entrichten hat, wird nicht nach der Menge des gelieferten Wassers bemessen, sondern nach der Höhe der Grundrente. Da diese ununterbrochen steigt, wächst auch der Wasserzins, selbst wenn die gelieferte Wassermenge sinkt. Ein Haus, das 1851 160 Mark Wasserzins zahlte, musste 1891 440 Mark dafür entrichten. Aber vergeblich versuchte der Londoner Grafschaftsrat seit 1888, der Monopolisten Herr zu werden, sie auszukaufen, um die Wasserversorgung zu kommunalisieren. Nicht umsonst wimmelten die Parlamente und die Regierungen von Aktionären und Direktoren der Londoner Wassergesellschaften. Die liberalen unterscheiden sich von den konservativen Regierungen nur dadurch, dass diese die Vorschläge der „Arbeitermajorität“ ohne Weiteres zurückwiesen, indes jene versprachen, ihr Möglichstes zu tun, um dann die Reformvorschläge in einer Kommission zu begraben.

Derartig sind die Schwierigkeiten einer Londoner „Arbeitermajorität“, die ich kenne. Sie stammen nicht von zu viel, sondern von zu wenig Klassenkampf und Klassenbewusstsein. Diese Schwierigkeiten können nur überwunden werden durch Niederwerfung der Gegner des Proletariats

Was verlangt dagegen Dr. Förster von uns? Wir sollen die „schlummernden sozialen Kräfte (im Kapitalisten) wecken, damit den Verbrecher der Gesellschaft zurückgewinnen“ und auf diese Weise den „antisozialen Starrsinn“ besiegen. Wir sollen den Kapitalisten „Verständigung und Hilfe“ bringen, „moralische Hilfe“, und die „soziale Erziehung der oberen Klassen“ in die Hand nehmen.

Wenn Herr Dr. Förster diese Methode für so fruchtbar hält, wird ihn Niemand hindern, sie anzuwenden. Möge er sich also an die Aktionäre der Londoner Wasserwerke wenden, ihnen jene moralische Hilfe bringen, deren sie so dringend bedürfen, die Verständigung mit ihnen suchen und auf diese Weise eine der größten Schwierigkeiten einer Londoner Arbeitermajorität aus der Welt schaffen. Wenn’s ihm gelingt, werde ich ihn bitten, das gleiche Rezept bei unseren Kohlenmonopolisten anzuwenden, und die Lehre vom Klassenkampf für einen beklagenswerten Irrtum erklären. Solange ihm das aber nicht gelungen ist, darf er es mir nicht verübeln, wenn ich seine und seines Mitethikers Sanders moralische Entrüstung über die Unsittlichkeit des Klassenkampfes des Proletariats für leere Seifenblasen halte, die bei der geringsten Berührung mit der Wirklichkeit zerplatzen.

Herr Dr. Förster hat nicht einmal den Versuch gemacht, zu beweisen, dass der Klassenkampf keine Notwendigkeit, kein unentbehrlicher Hebel der sozialen Entwicklung in einer auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaft sei.

Aber hat er nicht die ethische Verwerflichkeit dieses Kampfes bewiesen? Dr. Förster erklärt es für notwendig, dass „man“ den Emanzipationskampf der Arbeiterklasse „rechtzeitig“ auf eine „breitere moralische Basis“ stelle, „das heißt, eine moralische Verpflichtung der kämpfenden Klasse gegenüber den anderen Klassen nicht nur ausdrücklich anerkenne, sondern auch im Konkreten durch die „ganze Führung des Kampfes praktiziere.“ – Er weist dann darauf hin, dass die ethischen Pflichten gegen die eigene Nation internationale Pflichten nicht ausschließen, „So gut wie jede Skrupellosigkeit im internationalen Verkehr zugleich auflösend auf die sittlichen Bindungen innerhalb der Nation wirkt“ – so wird auch jede Klasse moralisch zersetzt, die sich von ihren sozialen Pflichten gegen die anderen Klassen losspricht.

Diese Deduktion des Dr. Förster wirkt sehr bestechend, aber nur so lange, als man sie nicht näher betrachtet.

Dass wir ethische Pflichten nicht bloß gegen unsere Nation, sondern auch gegen andere Nationen haben, wird natürlich kein Sozialdemokrat bestreiten. Aber Dr. Förster vergisst einen Umstand, wenn er daraus Schlüsse auf die sittliche Verpflichtung des Proletariats gegenüber der Kapitalistenklasse zieht: die Vorbedingung der Internationalität ist die Gleichstellung der Nationen: Internationale Solidarität ist unmöglich dort, wo eine Nation die andere unterdrückt und ausbeutet Immerhin ist die Beherrschung einer Nation durch eine andere keine mit dem Begriff der Nationalität notwendig verbundene Erscheinung. Dagegen sind Unterdrückung und Ausbeutung die notwendigen Ingredienzien des Kapitalverhältnisses. Ist aber die Ethik des Herrn Dr. Förster eine derartige, dass sie aus der Unterdrückung und Ausbeutung sittliche Verpflichtungen entspringen lässt? Wenn nicht, was soll dann sein Gerede von moralischen Verpflichtungen des Proletariats als Klasse gegenüber der Kapitalistenklasse? Man verwechsle nicht die Klasse mit dem Individuum. Wo Proletarier und Kapitalist als Individuen in allgemein menschliche Beziehungen zu einander geraten, bestehen natürlich für sie auch die daraus entspringenden sittlichen Verpflichtungen. Wenn ein Fabrikant ins Wasser fällt, wird ein vorüber gehender Arbeiter nicht erst fragen, welcher Klasse der Verunglückte angehört, sondern ihm ohne Weiteres nach Kräften helfen. Aber in diesem Falle stehen sich die Beiden nicht als Kapitalist und Arbeiter gegenüber, Das hat nichts mit den sittlichen Pflichten zu tun, welche die Arbeiterklasse gegenüber der Kapitalistenklasse im Klassenkampf angeblich hat. Ob man solche anerkennt, das hängt vom Standpunkt des Untersuchenden ab.

Vom bürgerlichen Standpunkt aus ist das Kapitalverhältnis ein notwendiges, unentbehrliches für die Gesellschaft. Die Unterjochung und Ausbeutung des Arbeiters ist von diesem Standpunkt aus nicht bloß im Interesse der Kapitalistenklasse, sondern in dem der Gesamtheit gelegen. Sich der Unterdrückung und Ausbeutung zu fügen, ist daher nicht bloß ein Machtgebot der Kapitalistenklasse, sondern auch eine sittliche Pflicht für die Arbeiterklasse. Unterwürfigkeit und Bedürfnislosigkeit gelten da als ihre größten Tugenden.

Ganz anders erscheint die Sache vom proletarisch-sozialistischen Standpunkt, Von ihm aus wird das Kapitalverhältnis ein überflüssiges, ja, für die Gesellschaft schädliches. Sich der Ausbeutung und Unterdrückung durch das Kapital zu widersetzen, auf die Vernichtung des Kapitalverhältnisses hinzuarbeiten, wird nicht nur durch das Sonderinteresse des Proletariats, sondern durch das Gesamtinteresse der Gesellschaft geboten. Sich gegen die Kapitalistenklasse zu empören, sie niederzuwerfen, wo die Möglichkeit gegeben, wird von diesem Standpunkt aus eine sittliche Verpflichtung des Proletariats. Unterwürfigkeit und Bedürfnislosigkeit des Arbeiters werden nun zu einem sittlichen Makel, sie erscheinen als feiger Knechtssinn und Mangel an Kultur.

Nur wenn Dr. Förster sich auf den bürgerlichen Standpunkt stellt, kann er zur Konstruierung sittlicher Pflichten der Arbeiterklasse gegenüber der Kapitalistenklasse kommen.

Aber, wendet Dr. Förster ein, versündigt sich der Verbrecher nicht noch mehr gegen die Gesellschaft, als der Kapitalist? Und doch erkennen wir sittliche Pflichten der Gesellschaft gegenüber dem Verbrecher an. Warum nicht auch gegenüber dem Kapitalisten?

Auch hier wieder finden wir die Verwechslung von Individuen und Klasse, Gewiss erkennen wir sittliche Pflichten auch gegenüber dem Verbrecher an. Sein Leben, seine Person ist uns heilig, soweit nicht Notwehr uns zwingt, ihn anzutasten. Aber haben wir je das Gleiche von der Person des Kapitalisten bestritten? Wir erkennen jedoch nicht die mindeste sittliche Verpflichtung gegenüber der Klasse der Verbrecher an, wir fühlen vielmehr die sittliche Verpflichtung, diese Klasse auszurotten dadurch, dass wir die sozialen Bedingungen aufheben, in denen sie gedeiht. Das Gleiche gilt vom Klassenkampf gegen die Kapitalistenklasse. Um was handelt es sich dabei? Zunächst um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, dann um soziale Reformen auf Kosten der Kapitalistenklasse. Wo soll bei alledem das Proletariat jene „hilfreiche Großmut und Selbstdisziplin“ entfalten, die Dr. Förster von ihm den besitzenden Klassen gegenüber fordert! Hat es nicht vielmehr die sittliche Pflicht gegenüber der Gesellschaft wie gegenüber sich selbst, seinen Anteil an den Kulturgütern möglichst zu steigern, seine Muße zu vergrößern, das heißt die Zeit zu vermehren, die ihm bleibt, sich zu bilden und menschlich zu entwickeln?

Sicher, wenn eine Arbeiteraristokratie versucht, eine privilegierte Stellung auf Kosten der ärmeren Volksschichten zu erlangen, so erscheint uns das durchaus nicht ethisch. Wir nahmen bei unserer Kritik des Fösrsterschen Artikels an, dass er von diesem Standpunkt aus die städtischen Arbeiter von West Ham verurteile, Nun müssen wir erfahren, dass wir ihn völlig missverstanden haben, dass unsere erste Kritik ihn nicht völlig trifft, denn seine ethische Entrüstung galt den Versuchen städtischer Arbeiter, auf Kosten der besitzenden Klassen Extravorteile einzuheimsen. Er verlangt „hilfreiche Großmut und Selbstdisziplin“ der armen Teufel gegenüber Leuten, die von einer weitaus günstigeren Stellung auf sie herabsehen, Er verurteilt Lohnerhöhungen auf Kosten von Leuten, die weitaus größere arbeitslose Einkommen haben, als die Lohnempfänger aus ihrer Arbeit ziehen, er verurteilt Verkürzungen der Arbeitszeit schwer arbeitender Leute auf Kosten von Leuten, von denen ein großer Prozentsatz gar nicht einmal weiß, was arbeiten heißt.

Das hatte ich mir freilich nicht träumen lassen, dass die Ethik des Dr. Förster solche Konsequenzen hat.

Wo versucht wird, an Stelle des Klassenkampfes den persönlichen Kampf zwischen Arbeiter und Kapitalist zu setzen, werden wir stets die ethischen Pflichten gegen die Person des Letzteren betonen. Ebenso müssten wir dies in dem Moment tun, in dem der Klassenkampf zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse sein Ziel erreicht, wo das siegreiche Proletariat dieser Klasse ein Ende macht, indem es das Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln aufhebt. Damit wird allerdings die Arbeiterklasse sittliche Pflichten gegenüber jenen Elementen übernehmen, die ihr bis dahin als Kapitalistenklasse gegenüberstanden

Aber bei dem „Fiasko“ von West Ham handelte es sich doch nicht darum. Weder versuchte man dort die Propaganda der Tat noch die Expropriation der Expropriateure, sondern, wenn ich Dr. Förster recht verstanden habe, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitherabsetzungen, die das Übliche Maß überschritten und den Besitzenden unbequem wurden. Das mag unklug und kurzsichtig gewesen sein, wenn es der „Arbeitermajorität““ Verlegenheiten bereitete. Aber deswegen an die „hilfreiche Großmut“ der Proletarier zu appellieren, klingt etwas komisch.

Oder sollte ich Dr. Förster wieder missverstanden haben? Ich muss gestehen, seine Methode zu denken ist von der meinen so verschieden, dass es mir schwer fällt, mit seinen ethischen Ausführungen bestimmte Vorstellungen zu verbinden.

So ist es mir völlig dunkel geblieben, was der „neue Lassalle“ soll, „der die verdammte Bedürfnislosigkeit der Arbeiter auch auf dem Gebiet moralischen Menschentums bekämpft und mit höheren Bedürfnissen auch stärkere Antriebe zur Befreiung weckt.“ Und ebenso unklar wurde mir seine Klage über die Einschläferung des Arbeiters „durch den Mangel an tieferen ethischen Akzenten in der Propaganda, der ihn vieles ertragen und dulden lässt, was Menschen mit empfindlicherem Rechtsgefühl außer sich bringen würde“.

Ist Dr. Förster unzufrieden darüber, dass die Arbeiter sich zu viel gefallen lassen? Will er, dass sie bei der leisesten Kränkung außer sich geraten? Aber wo bleiben dann „Großmut und Selbstdisziplin“, wo die „Verständigung und Hilfe“?

Dieser Widerspruch fände eine Lösung nur dann, wenn Dr. Förster der Ansicht wäre, in ihren Klassenkämpfen sollen die Arbeiter sich möglichster Zurückhaltung befleißen, dagegen sollen sie voll höchster Entrüstung aus der Haut fahren, so oft einer anderen Klasse oder einem Individuum einer anderen Klasse ein Unrecht geschieht, das abzuwehren diese selbst zu feig ist.

In solchen Fällen wird freilich die Kampffähigkeit und Kampfeslust des Proletariats von denselben Zungen als die höchste ethische Tugend gepriesen, die sie eben vorher, wo sie sich im proletarischen Klasseninteresse betätigte, als verwerfliche Brutalität und Gemeinheit verdonnerten.

Dass das Proletariat nur bürgerliche und nicht auch seine eigenen Interessen kraftvoll vertritt, das wäre allerdings der Triumph einer über den Klassengegensätzen stehenden Ethik. Aber das Proletariat zu ihr zu bekehren, das vermöchten kein Lassalle und kein Kant zusammengenommen.


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