Rob Sewell: Krise in der Sowjetunion

Die Wirtschaft wird von der Bürokratie abgewürgt

[eigene Übersetzung aus Militant International Review, Nr. 23, Oktober 1982, S. 13-22]

Nach sechseinhalb Jahrzehnten mit atemberaubenden Fortschritten, Katastrophen und Umwälzungen bleibt die UdSSR für viele Arbeiter*innen immer noch ein enormes Paradoxon. Auf der einen Seite stehen die kolossalen Errungenschaften, auf der anderen Seite die Unterdrückung durch eine totalitäre Polizeidiktatur. Angesichts des bevorstehenden Abgangs Breschnews ist es zeitgemäß zu fragen: Was ist die Sowjetunion und wohin geht sie? Die Revolution von 1917 stellt zweifellos das größte Ereignis der Weltgeschichte dar. Mit dem Sturz des Zarismus und des Kapitalismus – der Klassenherrschaft der Bankiers, Industriellen und Großgrundbesitzer*innen – und der Machtübernahme durch die werktätigen Massen wurde die Vision des Sozialismus von der Theorie in das Reich der Realität versetzt.

Mit einer verstaatlichten Planwirtschaft hat sich die Sowjetunion trotz Misswirtschaft und Korruption zu einer führenden Weltmacht entwickelt. Trotz aller Umwälzungen, Zickzackkursen, Säuberungen, Verwerfungen und des Weltkriegs hat die verstaatlichte Wirtschaft ihre Überlegenheit bewiesen. Die folgenden Zahlen veranschaulichen die Fortschritte:


191319701981
Kohle29 Mio. Tonnen433 Mio. Tonnen(655 Mio. Tonnen im Jahr 1978)
Erdöl10 Mio. Tonnen353 Mio. Tonnen609 Mio. Tonnen
Stahl4 Mio. Tonnen116 Mio. Tonnen156 Mio. Tonnen
Elektrizität2 Mrd. KW740 Mrd. KW1.325 Mrd. KW

Während es 1913 in Russland 28.000 Ärzt*innen gab, sind es heute über 1.000.000 – ein Drittel der Gesamtzahl weltweit (die Mehrheit davon sind Frauen)! Allein in diesem Jahr werden an den höheren und mittleren Bildungseinrichtungen etwa 2,1 Millionen Spezialist*innen ausgebildet. Im Jahr 1916 waren zwei Drittel der Bevölkerung Analphabet*innen und nur 130.000 besuchten eine Hochschule. Fünfundsechzig Jahre später ist eine zehnjährige Ausbildung für alle obligatorisch. Es gibt mehr als 5 Millionen Student*innen, und ein Drittel der Gesamtbevölkerung nimmt an irgendeiner Art von Ausbildungskurs teil. Im letzten Jahr wurden 2 Millionen neue Wohnungen fertiggestellt; zur gleichen Zeit wurde in Großbritannien die niedrigste Zahl von Häusern seit den 1920er Jahren gebaut!

Trotz des kolossalen Fortschritts der Sowjetunion verweisen die Arbeiter*innen im Westen zu Recht auf das Fehlen demokratischer Rechte und auf die polizeiliche Unterdrückung

Trotz dieses kolossalen Fortschritts verweisen die Arbeiter*innen im Westen zu Recht auf das Fehlen demokratischer Rechte und die polizeiliche Unterdrückung. Was ist der Grund für all dies? Um das zu verstehen, müssen wir uns die Prozesse in der russischen Gesellschaft ansehen und einen Blick auf die wichtigsten Entwicklungen seit der Revolution werfen.

1917 versetzten die russischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen unter der Führung Lenins und Trotzkis dem Kapitalismus nicht nur in Russland, sondern auch international einen Schlag. Es wurde als der Beginn der sozialistischen Weltrevolution angesehen. Die Bolschewiki verstanden gut, dass der Sozialismus niemals innerhalb der Grenzen eines einzigen Landes aufgebaut werden konnte, insbesondere nicht innerhalb der Grenzen des rückständigen halbfeudalen Russlands. Internationalismus wurde als eine Frage von Leben und Tod betrachtet. Die Revolution musste um jeden Preis auf den hochindustrialisierten Westen ausgedehnt werden.

Am 23. April 1918 erklärte Lenin in aller Deutlichkeit: „Unsere Rückständigkeit hat uns vorwärtsgetrieben, und wir werden untergehen, wenn wir uns nicht so lange zu behaupten verstehen, bis wir eine mächtige Unterstützung durch die aufständischen Arbeiter der anderen Länder erhalten.“ (Complete Works, Bd. 27, S. 232 [auf Deutsch: Rede im Moskauer Sowjet der Arbeiter-, Bauern- und Rotarmistendeputierten, 23. April 1918. Stenografischer Bericht, Lenin Werke, Band 27, S. 219-224, hier S. 222) Lenin wiederholte diesen Gedanken einhundertundein Mal: „Es war uns klar, dass ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch nachher dachten wir: Entweder sofort oder zumindest sehr rasch wird die Revolution in den übrigen Ländern kommen, in den kapitalistisch entwickelteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen.“ (Complete Works, Band 32, S. 480 [auf Deutsch: Referat über die Taktik der KPR [auf dem 3. Kominternkongress, 5. Juli 1921], Lenin Werke, Band 32, S. 501-519, hier S. 503)

Die Niederlage der sozialistischen Revolutionen zwischen 1918 und 1923 in Deutschland, Ungarn und anderswo – bedingt durch den Verrat der sozialdemokratischen Führer*innen – war ein vernichtender Schlag für den jungen Arbeiter*innenstaat.

In den frühen Jahren war die sowjetische Wirtschaft durch Krieg, Bürgerkrieg, Hungersnöte und Krankheiten weitgehend zerstört worden. Zwischen 1918 und 1920 versuchten einundzwanzig ausländische Interventionsarmeen, die Revolution niederzuschlagen, wobei viele der aufopferungsvollsten jungen Arbeiter*innen getötet wurden. Bis 1921 hatte sich die Bevölkerung von Moskau und Petrograd halbiert. In einem Jahr verhungerten sechs Millionen Menschen, und in einigen Gegenden wurde von Kannibalismus berichtet. Jacques Sadoul, ein Augenzeuge aus dieser Periode, berichtete: „In den Bezirken außerhalb des Zentrums herrscht furchtbare Armut. Es gibt Typhus- und Pockenepidemien und Kinderkrankheiten. Säuglinge sterben massenhaft. Die, die man sieht, sind schwache, fleischlose, bedauernswerte Kreaturen.“

Dies war der Grad der Barbarei, auf den der junge Sowjetstaat zurückgeworfen wurde. Wie konnte unter diesen Bedingungen eine neue harmonische sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden? Die Sowjetregierung konnte nichts weiter tun, als die Gesellschaft vor dem Zerfall zu bewahren. Lenin beschrieb die Lage als eine Revolution, die „in einer Festung belagert wird“. Sie musste so lange wie möglich durchhalten, bis Hilfe vom Proletariat des Westens kam. Um sich eine wertvolle Atempause zu verschaffen, wurden dem Kapitalismus und den reichen Bäuer*innen 1921 mit der Neuen Ökonomischen Politik Zugeständnisse gemacht. Das Schicksal der Revolution war in der Schwebe.

Der Kapitalismus wurde nicht, wie von Marx erwartet, in einem fortgeschrittenen Industrieland, sondern im schwächsten Glied des Weltkapitalismus erstmals beseitigt

Karl Marx hatte sechzig Jahre zuvor erklärt, dass die historische Rechtfertigung des Kapitalismus darin bestand, die materielle Grundlage für den Sozialismus und die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu schaffen. Diese materielle Grundlage gab es nicht in einem bestimmten Land und konnte es dort auch nicht geben. Der Kapitalismus hatte die Weltwirtschaft entwickelt, und nur in diesem Maßstab sei die materielle Grundlage für eine klassenlose Gesellschaft gelegt worden. Der Widerspruch der Produktivkräfte, die durch das Privateigentum und den Nationalstaat eingeengt waren, explodierte im Ersten Weltkrieg. Er war der Beweis dafür, dass der Umsturz des Kapitalismus nicht nur reif, sondern schon etwas morsch geworden war. Allerdings sollte der Kapitalismus zunächst nicht in einem fortgeschrittenen Industrieland beseitigt werden, wie Marx erwartet hatte, sondern im schwächsten Glied des Weltkapitalismus: Russland. Die Isolierung der Revolution in schrecklicher wirtschaftlicher Rückständigkeit führte nicht zu „einer klassenlosen Gesellschaft, die auf Solidarität und harmonischer Befriedigung aller Bedürfnisse beruht“ (Trotzki), sondern zu einer chronischen Deformation der Revolution.

Die langen Arbeitszeiten, zu denen die sowjetischen Arbeiter*innen gezwungen waren, die erschöpfenden, übermenschlichen Anstrengungen, die schrecklichen Engpässe und Rationen, all dies schuf die Bedingungen für das Wachstum der Bürokratie. Wie Leo Trotzki in seinem brillanten Buch „Verratene Revolution“ erklärte: „Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie.“

Die Bürokratie selbst repräsentierte den Druck fremder Klassenkräfte auf den jungen Arbeiter*innenstaat. Mit jeder Niederlage oder jedem Rückschlag für die russischen Arbeiter*innen wuchsen die Bürokrat*innen in Staat, Gewerkschaften und Partei an Zahl und Stärke. Wie ein unkontrollierbares Krebsgeschwür breitete sich der Bürokratismus im ganzen Land aus. Stalin, der sich 1922 in das Amt des Generalsekretärs geschlichen hatte, begann unter dem Druck dieser konservativen Kaste zunehmend deren Interessen zu vertreten. Mitte der 1920er Jahre war er zum mächtigen Vertreter der bürokratischen Reaktion geworden.

Die stalinistische Bürokratie entriss den Arbeiter*innen durch Zickzacks und Erschütterungen die politische Macht und errichtete ein totalitäres Regime. Ein Strom von Blut trennte Stalins Regime vom Regime Lenins.

Das stalinistische Regime entriss den Arbeiter*innen und Bäuer*innen durch Zickzacks und Erschütterungen die politische Macht und errichtete ein totalitäres Regime. Dies geschah über einen längeren Zeitraum, da die Verbindungen zur Oktoberrevolution nach und nach gekappt wurden. Bis 1930 hatten die Stalinist*innen sowohl die linke als auch die rechte Opposition gesäubert und alle demokratischen Rechte unterdrückt. Am Ende dieses Jahrzehnts wurde eine Reihe von Scheinprozessen inszeniert, bei denen all jene systematisch ermordet wurden, die in irgendeiner Weise mit dem Oktober in Verbindung standen. Lenins engste Mitarbeiter*innen, die die Revolution organisiert und angeführt hatten, wurden als „Konterrevolutionäre“ erschossen.

Millionen von Menschen starben durch Erschießungskommandos und unter den harten Bedingungen der Arbeitslager. Trotz der Lügen der Stalinist*innen und ihrer Geschichtsfälschung – und auch trotz der heutigen Akademiker*innen und Professor*innen, die versuchen, das Regime Lenins mit dem Regime Stalins in Verbindung zu bringen – trennte sie ein Strom von Menschenblut.

Dieser „einseitige Bürgerkrieg“ vollendete die Festigung der Herrschaft der Bürokratie. Alle Überreste der Arbeiter*innendemokratie wurden vollständig zerstört. Die ganze Gleichheit der leninistischen Jahre wurde durch Privilegien, Rang und Pomp ersetzt. Doch die stalinistische Reaktion ging nicht bis zur Rückkehr zum Kapitalismus, wie Lenin befürchtet hatte. Als parasitäre Kaste bezog die Bürokratie ihr Einkommen aus den verstaatlichten Eigentumsrechten, die sie auf ihre eigene Weise „verteidigen“ musste.

Engels zufolge lässt sich der Staat als Produkt der Klassengesellschaft auf „bewaffnete Formationen von Menschen“ zur Verteidigung des Privateigentums reduzieren. Er ist historisch mit der Entstehung der Klassen als besonderes Instrument zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere entstanden. Sowohl Marx als auch Lenin erklärten, dass die Arbeiter*innenklasse, wenn sie an die Macht käme, keine besondere Kraft für die Unterdrückung der alten, enteigneten Kapitalistenklasse benötige. Die siegreichen Arbeiter*innen würden einen „Halbstaat“ schaffen, der, sobald er entsteht, wieder abzusterben beginnt.

Der Staat mit all seinen Apparaten, seinem Beamtentum und seiner Bürokratie ist ein riesiger Parasit, der „die lebenden Poren verstopft“. In seinem „Staat und Revolution“ erklärt Lenin, dass der alte Staatsapparat durch eine neue demokratische Form ersetzt werden muss, in der die Beamtenfunktionen rotieren und einer ständigen Kontrolle unterliegen würden. Um das Anwachsen der Bürokratie zu verhindern, skizzierte Lenin, gestützt auf Marx‘ Lehren aus der Pariser Kommune, vier Hauptvorschläge:

* Es muss regelmäßige Wahlen der Beamt*innen geben mit dem Recht, sie sofort abzuberufen.

* Alle Beamt*innen sollen den durchschnittlichen Lohn von Facharbeiter*innen erhalten.

* Kein stehendes Heer mit einer von der Bevölkerung getrennten Offizierskaste, sondern ein bewaffnetes Volk.

* Die „sofortige Einführung von Kontrolle und Überwachung durch alle, so dass alle eine Zeit lang ‚Bürokraten‘ werden können und daher niemand ein Bürokrat werden kann.“

1956 übernahmen die ungarischen Arbeiter*innen während ihres Aufstandes gegen die Bürokratie spontan die vier Punkte Lenins von 1919. Doch aus ihrer eigenen bitteren Erfahrungen mit dem Totalitarismus heraus fügten sie einen fünften Punkt hinzu: dass sie nie wieder ein Einparteiensystem zulassen würden. Politische Parteien müssen sich betätigen dürfen, sofern sie das Staatseigentum an der Produktion akzeptieren und nicht zu den Waffen gegen die Revolution greifen.

Der Staat hört also von Anfang an auf, ein „Staat“ im alten Sinne zu sein, ein besonderer Zwangsapparat, der die Mehrheit des Volkes unterwirft.

Der Staat erhob sich über die Klasse, die er vertreten sollte, was zur politischen Enteignung der russischen Arbeiter*innen führte.

Beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, so erklärte Marx, sei der „Staat“ ein notwendiges Übel. Die Gesellschaft konnte nicht sofort vom Kapitalismus zu einer klassenlosen Gesellschaft übergehen. In der Anfangsphase würden aufgrund der kulturellen Überbleibsel des Kapitalismus und der Unmöglichkeit, sofort alle Bedürfnisse zu befriedigen, Ungleichheiten bestehen bleiben. Die Produktivkräfte wären zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen, alle Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Der Staat nimmt unter diesen Umständen eine doppelte Rolle an: Er ist der Beschützer der verstaatlichten Planwirtschaft und gleichzeitig der Hüter dieser „bürgerlichen“ Unterschiede, bis die Entwicklung der Produktivkräfte sie beseitigen kann.

Die Rolle dieses Übergangsregimes bestünde darin, die Produktion auch durch Lohnanreize zu stimulieren, wobei die Unterschiede weiterhin bestehen bleiben, wenn auch auf der Grundlage eines höheren Lebensstandards. Mit dem Fortschritt der Gesellschaft würden die Unterschiede selbst verschwinden. In Russland wurden die Lohnunterschiede nach 1917 auf nicht mehr als 4 : 1 festgesetzt, obwohl die Bolschewiki aufgrund des chronischen Fachkräftemangels gezwungen waren, sie in einigen Fällen auf 8 : 1 zu erhöhen. Lenin erkannte dies als notwendiges Zugeständnis an „kapitalistische Differentiale“ an, das mit der materiellen Unterstützung durch die Arbeiter*innen des Westens rasch beseitigt werden sollte.

Bereits 1875 wies Marx darauf hin: „Aber diese Missstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.” (Kritik des Gothaer Programms)

Lenin sagte bei der Erklärung dieses doppelten Charakter eines Übergangsregimes folgendes: „Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen.

So ergibt sich, dass im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie!“ [„Staat und Revolution“, Kapitel V.4] Lenin entwickelte diesen Gedanken nicht weiter, da er erwartete, dass das Problem durch die Ausbreitung der Revolution gelöst werden würde.

Darin liegt jedoch der gefährliche Keim einer bürokratischen Entartung. Deshalb war es nach Ansicht von Marx, Engels, Lenin und Trotzki unerlässlich, dass die Arbeiter*innenklasse auf allen Ebenen der Gesellschaft, einschließlich des Staates, demokratisch mitwirkt. 1919 riet Lenin den Führern der bayerischen und sächsischen [?] Revolution, sofort den Siebenstundentag einzuführen1, um den Arbeiter*innen Zeit zu geben, die Industrie und den Staat zu führen.

Die vier Punkte Lenins gegen die Bürokratie, die unter Stalin längst abgeschafft wurden, waren ein Versuch, der Entartung entgegenzuwirken. Gerade in Russland mit seiner schrecklichen wirtschaftlichen Rückständigkeit war der Arbeiter*innenstaat äußerst schwach: Lenin sprach ehrlich über die Lage, anders als die Bürokrat*innen im Kreml heute: „Unser Staatsapparat ist […] zum größeren Teil ein Überbleibsel des alten, an dem nur zum geringeren Teil einigermaßen ernsthafte Veränderungen vorgenommen worden sind.“ (Complete Works, Band 33, S. 487 [auf Deutsch: Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen (Vorschlag für den XII. Parteitag), Lenin Werke, Band 33, S. 468-473, hier S. 468)

Lenins letzte Jahre waren ein ständiger Kampf gegen den Bürokratismus. Sein letzter politischer Block war mit Trotzki – „der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK“ [Lenin, 24. Dezember 1922, Brief an den Parteitag II, Lenin Werke, Band 36, S. 578-580] – gegen Stalin und das, was er repräsentierte. In Lenins Testament, das von der Partei unterdrückt wurde, forderte er die Absetzung Stalins als Generalsekretär. Kurz vor seinem Tod brach er alle persönlichen Beziehungen zu Stalin ab.

Der Beginn des Jahres 1924 brachte einen doppelten Schlag gegen die Revolution: den Tod Lenins und das Scheitern der deutschen Revolution. Ende des Jahres verkündet Stalin unter dem Druck der konservativen Bürokratie seine „Theorie“ des „Sozialismus in einem Land“. Dieses antimarxistische Konzept, dass der Sozialismus irgendwie in einem einzigen Land aufgebaut werden könnte, und zwar in einem rückständigen, der von der Weltwirtschaft völlig isoliert ist, wurde zum Eckpfeiler des stalinistischen Kampfes gegen den Marxismus. Niemand, nicht einmal Stalin selbst, hatte bis 1924 jemals von einem solchen utopischen Programm gesprochen, das die Wünsche der Bürokratie nach einem ruhigen, stabilen Leben widerspiegelte. Die Annahme dieser Theorie, so Trotzki, würde die nationale, reformistische Degeneration der Kommunistischen Internationale zur Folge haben. Diese Prognose wurde durch die Politik der einzelnen nationalen „kommunistischen“ Parteien von heute anschaulich bestätigt.

In den 1930er Jahren wurde die relative Gleichheit unter Lenin und Trotzki durch Rang und Privilegien ersetzt. Statt des Absterbens des Staates fand der gegenteilige Prozess statt: Es wurde ein monströses totalitäres Regime geschaffen. Unter Stalin wurden alle Kontrollen der Bürokratie abgeschafft. In der Roten Armee wurden alle Privilegien der Offizierskaste nach altem zaristischem Vorbild wiederhergestellt. In Wirklichkeit erhob sich der Staat über die Klasse, die er eigentlich vertreten sollte, was zur politischen Enteignung der russischen Arbeiter*innen führte. Es wurde ein bonapartistisches Regime geschaffen, das jedoch auf verstaatlichten Eigentumsformen beruhte.

Seit dem Tod Stalins 1953 hat die Bürokratie einige kosmetische Änderungen an der Spitze vorgenommen und die verhasstesten Organe der stalinistischen Unterdrückung abgebaut, aus Angst vor jeglicher Bewegung in Richtung politischer Revolution von unten.

Die Spitzenbürokrat*innen führen das Leben von Rubelmillionär*innen und haben einen Lebensstil, von dem die sowjetischen Massen nur träumen können.

Durch das gigantische Wachstum der sowjetischen Wirtschaft hat sich der Lebensstandard trotz aller Verschwendung und Misswirtschaft bemerkenswert verbessert. Aber weit davon entfernt, die sozialen Probleme zu lösen, haben sich neue Widersprüche aufgetan. Die Zunahme der Produktivkräfte hat nicht zu mehr Gleichheit und dem Abbau von Privilegien geführt, sondern zu einer drastischen Zunahme der Ungleichheit zwischen den Massen und der bürokratischen Elite. Die Differentiale sind heute in der UdSSR größer als im kapitalistischen Westen. Die Spitzenbürokrat*innen führen das Leben von Rubelmillionär*innen, mit einem Lebensstil, von dem die sowjetischen Massen nur träumen können. In einem kürzlich erschienenen Buch, The Final Days, einer Studie über Nixons Sturz, von Woodward und Bernstein, wird ein kleiner Einblick in den Lebensstil von Breschnew und der Bürokratie gegeben:

„Der Präsident (Nixon) hatte sein übliches Geschenk für Breschnew – ein amerikanisches Auto für die umfangreiche Sammlung des Sekretärs. Bei den ersten beiden Gipfeltreffen in den Jahren 1972 und 1973 waren zwei 10.000-Dollar-Modelle, eine Cadillac-Limousine und ein Lincoln Continental, übergeben worden. Diesmal war es ein Chevrolet Monte Carlo für 5.578 Dollar, nicht sehr beeindruckend in einer Garage, in der bereits ein Citroen-Maserati Speedster, Rolls Royce und Mercedes-Limousinen und Breschnews Liebling, ein neuer Mercedes 300SL Roadster, standen. Aber Breschnew hatte erfahren, dass der Monte Carlo von der Zeitschrift ,Motor Trend‘ zum ,Auto des Jahres‘ gekürt worden war, und er hatte verlauten lassen, dass er gerne einen hätte.“

In einem kürzlich erschienenen Buch, We Will Bury You, von Jan Šejna, einem tschechischen Spitzenbürokraten, der vor einiger Zeit in den Westen übergelaufen ist und kürzlich seine Memoiren veröffentlicht hat, heißt es weiter: „Breschnew mag Wodka und Pilsener Bier sehr, das wir ihm direkt nach Moskau zu schicken pflegten. Er liebt auch westliche Kleidung … Jedes Mal, wenn er nach Prag kam, musste der Direktor unseres Politbüro-Ladens (!) – in dem die Elite Luxusartikel kaufen konnte, die für die einfachen Leute unerreichbar waren – vor seiner Ankunft nach Italien und Westdeutschland fliegen, um einen speziellen Vorrat für ihn anzulegen.“

Und über seinen eigenen Vorgänger, Alexej Čepička, schreibt Šejna:

„Er hatte ein riesiges Privatvermögen in Millionenhöhe, über das er nie Rechenschaft ablegte und das er für prächtigen Luxus – Villen, Autos, Schmuck – für sich und seine Freunde ausgab. Seine Frau besaß zum Beispiel 17 Nerzmäntel“.

Da es in der UdSSR (und anderen stalinistischen Staaten wie der Tschechoslowakei) keine Arbeiter*innendemokratie gibt und die Arbeiter*innenklasse keine Kontrolle oder Beteiligung ausüben kann, hat die Bürokratie enorme Macht und Privilegien angehäuft. Um die allgemeine Position der Bürokratie aufrechtzuerhalten, werden manchmal bestimmte Beamt*innen für ihre „Ausschweifungen“ gemaßregelt oder bestraft. In einer solchen Gesellschaft, in der es keine demokratische Kontrolle gibt, sind Korruption, Bestechung, Misswirtschaft und Unterschlagung unausweichlich. Das Ausmaß war so groß, dass 1963 die Todesstrafe für „Wirtschaftsverbrechen“ eingeführt wurde.

Infolgedessen erscheinen in der sowjetischen Presse regelmäßig Berichte über Hinrichtungen wegen Diebstahls von Staatseigentum, Veruntreuung von Staatsgeldern und Annahme von Bestechungsgeldern in großem Umfang …

Kürzlich entging der Bürgermeister des Schwarzmeerortes Sotschi der Hinrichtung, wurde aber wegen Annahme von Bestechungsgeldern zu 13 Jahren Haft verurteilt. Er war der stolze Besitzer eines amerikanischen Ford und bewahrte ein kleines Vermögen in Form von Schmuck in seinem Haus auf, wo die Polizei auch einen Wasserbrunnen in seinem Wohnzimmer entdeckte!

Ein weiterer Skandal aus jüngster Zeit berührte die Spitzen im Kreml, als Anatoli Kolatow von seinem Posten als Leiter des russischen Nationalzirkus entlassen wurde. Er und sein Komplize Boris Zigan gaben Zirkusartist*innen die Erlaubnis, sich Truppen im Ausland anzuschließen – im Gegenzug für Diamanten und harte Währung. Bei einer Razzia in der Wohnung des Zirkusdirektors wurden Diamanten im Wert von mehr als einer Million Dollar gefunden. Der Skandal erschütterte den Kreml, als sich herausstellte, dass Boris der Geliebte von Breschnews Tochter Galina war. Im Januar soll sich Breschnews Schwager, der stellvertretende Chef des KGB, nach einem Streit über Korruption auf hoher Ebene erschossen haben.

Im April meldete die Prawda die Hinrichtung von Wladimir Rytow, dem stellvertretenden Fischereiminister, wegen seiner Beteiligung an einem großen illegalen Kaviarverkauf. Zweihundert Personen im Fischereiministerium waren beteiligt! Der Staatsanwalt fügte hinzu, dass auch gegen den ehemaligen Finanzminister Georgiens wegen Veruntreuung ermittelt werde!

Ein anderer Direktor des Sozialversicherungsamtes für Industriebetriebe in Baku hat zwei große Wohnungen, eine Datscha (Villa) mit Swimmingpool, Orangenhain und schwarzen Schwänen angehäuft … Bei seiner Verhaftung wurden 34 Kilo Gold in seinem Besitz gefunden!

Die sowjetischen Bürokrat*innen erhalten enorme Vergünstigungen und Privilegien auf dem Rücken der russischen Arbeiter*innen. Zusätzlich zu ihren aufgeblähhten Gehältern haben sie ihre geräumigen Wohnungen, Datschen auf dem Lande, Zugang zu speziellen Geschäften, in denen knappe Güter erhältlich sind, bessere medizinische Versorgung, bequeme Plätze in Ferienorten auf der Krim, Autos mit Chauffeur*in und die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Es ist ein Lebensstil, um den sie jeder westliche Kapitalist beneiden würde.

Während die Wirtschaft immer ausgefeilter wird, wird die bürokratische Verwaltung unerträglich. Sie hat das Wirtschaftswachstum auf ein Schneckentempo reduziert.

Es ist die Existenz einer privilegierten Elite, die eine parasitäre Wucherung darstellt, die die UdSSR daran hindert, sich in Richtung Sozialismus zu bewegen. Fünfundsechzig Jahre nach der Oktoberrevolution haben die russischen Arbeiter*innen weniger demokratische Rechte als ihre Gegenstücke in Westeuropa! Die Bürokratie, die in der Vergangenheit eine relativ fortschrittliche Rolle bei der Entwicklung der Wirtschaft spielte (allerdings zu dreifachen Kosten), ist jetzt eine absolute Fessel. In dem Maße, wie die Wirtschaft immer komplizierter wird, wird die bürokratische Führung unerträglich. Sie hat das Wirtschaftswachstum auf ein Schneckentempo reduziert, wie die folgenden Zahlen verdeutlichen:

Wachstum der industriellen Bruttoproduktion

1951-551956-601961-651966-701971-751976-80
13,10%10,40%8,60%8,50%7,40%4,70%

1982 (erstes Halbjahr) wuchs die Produktion nur um 2,7% (ausgedrückt als Jahresrate) – das niedrigste Ergebnis eines ersten Halbjahres seit dem Krieg!

Bürokratische Planung bedeutete für die sowjetische Wirtschaft enorme Verschwendung. Westliche Schätzungen glauben, dass es im Durchschnitt acht bis dreizehn Jahre dauert, bis ein großes sowjetisches Investitionsprojekt von den Planern zur endgültigen Produktion übergeht. Ein klassisches Beispiel ist die riesige Autofabrik, die von Fiat aus Italien importiert wurde. Der Bau begann in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre; es dauerte bis Ende der 1970er Jahre, bis die Anlage ihre volle Produktion aufnehmen konnte – dann wurde sie für veraltet erklärt!

Eine verstaatlichte Wirtschaft erfordert die Demokratie wie der menschliche Körper den Sauerstoff

Die russische Presse ist voll von Beispielen für Missmanagement und Korruption. Kürzlich wurde ein Beispiel einer ukrainischen Fabrik in Donezk gegeben, die 138.000 Sonnenbrillen herstellte, die so dunkel waren, dass die Träger*innen direkt in die Sonne blicken konnten und nichts sahen! Außerdem wurden 3.000 Plastikfußbälle hergestellt, die beim Kicken zerplatzten. Im Juni dieses Jahres stellte die sowjetische Gewerkschaftszeitung „Trud“ fest, dass die UdSSR das Produktionsziel für Marmeladengläser eingehalten hatte, fügte aber hinzu, dass man jahrelang vergessen hatte, die Deckel herzustellen!

Es gab den berüchtigten Fall vor zwei Jahren, als Rechnungsprüfer entdeckten, dass eine neue Traktorenreparaturfabrik, die angeblich in der Nähe von Leningrad in Betrieb war und 14.000 Traktoren pro Jahr reparierte, in Wirklichkeit noch nicht einmal gebaut worden war! Alle beteiligten Bürokrat*innen hatten sich an der Fiktion beteiligt, indem sie falsche Produktionszahlen vorlegten und die Unterlagen erfanden!

Arbeiter*innendemokratie ist kein sentimentaler Traum, sondern ein wesentliches Element auf dem Weg zu einer harmonischen sozialistischen Gesellschaft. Trotzki hat schon vor langer Zeit erklärt, dass eine verstaatlichte Wirtschaft Demokratie braucht wie der menschliche Körper Sauerstoff. Alle Arbeiter*innen in Großbritannien kennen Korruption, Missmanagement und Verschwendung, die in kapitalistischen Firmen und den undemokratischen, verstaatlichten Unternehmen herrschen. Ohne die demokratische Einbeziehung und Beteiligung der Arbeiter*innen an der Leitung der Industrie ist dies unvermeidlich. In kapitalistischen Ländern ist dies angesichts des Zusammenpralls der Klasseninteressen unmöglich. Aber in Russland, wo die Wirtschaft in Staatseigentum ist und die Kontrolle des Marktes abgeschafft ist, ist die Arbeiter*innendemokratie für die harmonische Entwicklung der Industrie und den Übergang zum Sozialismus absolut notwendig.

Landwirtschaft ist die Achillesferse der sowjetischen Gesellschaft

Im Bereich der Landwirtschaft liegt die Achillesferse der sowjetischen Gesellschaft. Sie hat sich nie wirklich von der Zwangskollektivierung der Stalinperiode erholt. In der vergeblichen Hoffnung, den Maßnahmen zu entgehen, schlachteten die Bäuer*innen Millionen von Tieren, was zu einer kolossalen Hungersnot und 10 Millionen Toten führte.

Von 1951 bis 1975 stieg die Getreideproduktion in den staatlichen Betrieben und Genossenschaften von einer durchschnittlichen Ernte von 90 Millionen Tonnen auf mehr als 200 Millionen Tonnen, was einem Pro-Kopf-Zuwachs von etwa 2% pro Jahr entsprach. Dies war vor allem dank der enormen unternommenen Investitionen: In den letzten 18 Jahren flossen mehr als 25% der gesamten Investitionen in die Landwirtschaft. Trotzdem entfällt auf private Grundstücke, die nur 1,5% der landwirtschaftlichen Nutzfläche ausmachen, immer noch ein Viertel der landwirtschaftlichen Produktion der UdSSR.

Die mangelnde Produktivität wird plastisch illustriert, wenn heute 25% der russischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig sind, im Vergleich zu weniger als 4% in Amerika. Laut den offiziellen sowjetischen Statistiken ist die Produktivität pro Landwirt in den USA fünfmal höher als in der Sowjetunion!

Die Ergebnisse der Ernte 1981 waren so schlecht, dass die Zahlen nie offiziell genannt wurden! Es war das vierte Jahr in Folge, in dem die UdSSR ihr Ernteziel nicht erreicht hat. Nach Angaben des Internationalen Weizenrates betrug die letztjährige Ernte rund 170 Millionen Tonnen – 70 Millionen weniger als geplant. Daher wird Russland in diesem Jahr möglicherweise eine Rekordmenge von 46 Millionen Tonnen aus dem Westen einführen müssen.

Die Milcherzeugung war 1981 mit 88,5 Mio. Tonnen die niedrigste seit 1973, und die Butterproduktion ging auch zurück. Die Fleischproduktion lag unter dem Niveau von 1978. Die Russ*innen produzieren doppelt so viele Kartoffeln wie die Amerikaner*innen, brauchen dafür aber 14-mal so viel Ackerfläche – und es wird geschätzt, dass mehr als die Hälfte davon aufgrund alter, ineffizienter Maschinen auf dem Weg vom Feld zum Lager verschwendet wird!

„Warum sind wir in zwanzig Jahren nicht in der Lage gewesen, die miserablen Verpackungsmaschinen zu verbessern oder etwas Neues und Besseres zu entwickeln?“, fragte die „Literaturnaya Gazeta“.

Weitere Investitionen sind geplant. Im neuen elften Fünfjahresplan soll mehr in die Landwirtschaft investiert werden als im gesamten Zeitraum von 1918 bis 1970 zusammen! Doch es wird vergeblich sein, denn die Bürokratie verstopft jede Pore. Mit diesen riesigen Investitionen stellen die russischen Fabriken jedes Jahr 550.000 Traktoren her, aber jedes Jahr werden fast ebenso viele nach nur kurzer Lebensdauer verschrottet! Ein hoher Prozentsatz der verfügbaren Traktoren, Mähdrescher und anderer teurer Geräte ist wegen unzureichender Qualitätskontrollen, fehlender Ersatzteile und Wartungseinrichtungen ständig außer Betrieb!

Die „Iswestija“ wies kürzlich darauf hin, dass es üblich war, einen mit Holz beladenen Güterzug in Richtung Osten fahren zu sehen, während ein anderer Zug mit einer ähnlichen Ladung in Richtung Westen unterwegs ist. „Warum passiert das?“, fragte die Zeitung. „Die Verteilung von 300 Millionen Tonnen geschlagenem Holz und forstwirtschaftlichen Erzeugnissen ist ohne jede Rechtfertigung auf mehr als 61 Ministerien und Abteilungen und 12 staatliche Planungskomitees der Unionsrepubliken verteilt“!

Diejenigen, die die Idee vertraten, dass mit steigendem Lebensstandard die Bürokratie allmählich verschwinden würde, haben das Wesen der sowjetischen Bürokratie nicht begriffen

Die sowjetische Bürokratie, die ihre Privilegien und Einkünfte bewacht, hat ein totalitäres Regime geschaffen und kann keine demokratischen Rechte zulassen. In Polen führte die Bürokratie das Kriegsrecht ein und löste die Gewerkschaft „Solidarność“ auf, weil sie ihre privilegierte Stellung gefährdete. Diejenigen, die – in Anlehnung an Isaac Deutscher – die Vorstellung vertreten, dass die Bürokratie mit steigendem Lebensstandard allmählich verschwinden werde, haben das Wesen der sowjetischen Bürokratie nicht verstanden. Sie ist eine privilegierte, parasitäre Kaste, deren Schichten sich von der Kreml-Hierarchie bis hinunter zu den lokalen Funktionär*innen erstrecken, die mit der Arbeiter*innendemokratie völlig unvereinbar ist. Ihre Privilegien und Einkünfte sind im Verhältnis zum Wachstum der Wirtschaft angestiegen und nicht umgekehrt.

Aufgeschreckt durch die polnischen Ereignisse hat Breschnew die Bürokrat*innen an den Spitzen der russischen „Gewerkschaften“ aufgefordert, die Interessen ihrer Mitglieder zu verteidigen! Die Panik in der Bürokratie über den Zynismus der Arbeiter*innen gegenüber den offiziellen „Gewerkschaften“ führte im März zur Entlassung des Gewerkschaftsbosses Alexej Schibajew, nur wenige Tage vor der Eröffnung des Gewerkschaftskongresses!

In einem Versuch, diese Situation zu überwinden, wurde den Arbeiter*innen die Möglichkeit gegeben, ihre Chefs in den Fabriken und Kolchosen zu befragen. Sie wurden aufgefordert, eine Frage einzureichen, und es wurde ein „Tag des offenen Briefes“ organisiert, um die Antworten zu hören! Viele Geschichten wurden in der Gewerkschaftszeitung „Trud“ veröffentlicht. Als das Management eines Unternehmens versuchte, einer Antwort auszuweichen, war niemand überzeugt, und der „Saal begann zu brummen“! Als ein Beamter der Verkehrsbetriebe behauptete, niemand müsse „stundenlang“ auf einen Bus warten, da dieser alle 22 Minuten fahre, löste dies „ungläubiges Gelächter“ aus. Rufe und Buhrufe wurden so häufig, dass sich Beamt*innen und Manager*innen manchmal weigerten, zu erscheinen!

Die Bürokratie wird alles für die Arbeiter*innenklasse tun, außer von ihrem Rücken herabzusteigen!

Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ hat, wie es Trotzki vorausgesagt hatte, durch die Ereignisse einen schweren Schlag erlitten. Der herrschende Teil der Bürokratie versuchte in der Zeit nach Stalin, seine Widersprüche durch die Teilnahme am Weltmarkt zu überwinden. Als Ergebnis stiegen im ersten Quartal 1982 die Ausfuhren der UdSSR in den Westen um 35%. Jüngsten Zahlen zufolge ist die Abhängigkeit der UdSSR vom Außenhandel von 15% des Nationaleinkommens im Jahr 1960 auf fast 33% in diesem Jahr gestiegen. 1981 stieg die russische Goldausfuhr (aus der 50% der Deviseneinnahmen stammen) von 90 Tonnen auf schätzungsweise 300 Tonnen. Die Schulden des Landes gegenüber dem Westen belaufen sich auf „handhabbare“ 20 Milliarden Dollar. Die Verknüpfung der sowjetischen Wirtschaft mit der Weltwirtschaft hat also nicht die erwartete Stabilität gebracht. In Wirklichkeit hat sie eine Büchse der Pandora geöffnet: In dem Maße, wie der kapitalistische Westen in eine Krise gerät, wird auch die russische Wirtschaft davon angesteckt.

Das Wachstum des Lebensstandards in den letzten Jahren ging Hand in Hand mit der Verschärfung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Widersprüche. Die bürokratische Unterdrückung führte zu einem wachsenden Zynismus gegenüber der sowjetischen Lebensweise. Als direktes Ergebnis davon haben sich Teile der Bevölkerung in ihrer Verzweiflung dem Wodka zugewandt, um dem zu entkommen. Da der Alkoholkonsum weltweit am höchsten ist, hat der Alkoholismus epidemische Ausmaße angenommen. Im Jahr 1925 tranken nur etwa 16% der unter 18-Jährigen Alkohol, während es heute 93% sind! Es wurde geschätzt, dass alkoholische Getränke etwa ein Drittel des Wertes der in Lebensmittelgeschäften verkauften Waren ausmachen. Um dieser monströsen Karikatur des „Sozialismus“ zu entkommen, hat sich die Jugend einer Vielzahl von Aktivitäten zugewandt: Popmusik, Yoga, Karate und sogar östlichen religiösen Kulten. Auch die Kriminalität und das Rowdytum unter den Jugendlichen nehmen zu und spiegeln die soziale Malaise des Stalinismus wider.

Die Revolution, die sich in den stalinistischen Staaten entwickelt, wird die Bürokratie ausputzen und Arbeiter*innendemokratie und die Beteiligung der Arbeiter*innenklasse auf allen Ebenen der Verwaltung, der Industrie und des Staates einführen.

Die Sackgasse, in der sich das sowjetische Leben heute befindet, bereitet enorme Explosionen vor. Die Krise in Polen ist in Wirklichkeit ein Spiegel der allgemeinen Krise, in der sich die stalinistischen Staaten befinden. Die Bürokratien sind zu einem absoluten Hemmschuh für jede weitere Entwicklung geworden. Ihr engstirniger Nationalismus hat zu Grenzkämpfen zwischen dem „sozialistischen“ Russland und dem „sozialistischen“ China sowie zur Balkanisierung Osteuropas geführt. In einer echten Arbeiter*innendemokratie würden sich diese Länder zu einer sozialistischen Föderation zusammenschließen und ihre Volkswirtschaften gemeinsam auf die Bedürfnisse der Bevölkerungen abstimmen.

Was jedoch klar ist, ist, dass die Bürokratien ihre Macht, ihre Privilegien und ihr Einkommen nicht kampflos aufgeben werden. Wie Trotzki einst erklärte: „Kein Teufel hat sich jemals freiwillig die eigenen Krallen abgeschnitten. Die Sowjetbürokratie wird ihre Position nicht kampflos aufgeben. Die Entwicklung führt offensichtlich auf den Weg der Revolution.“

Die Revolution, die sich in den stalinistischen Staaten entwickelt, wird nicht die Rückkehr zu den Schrecken des Kapitalismus sein, sondern eine politische Revolution nach dem Vorbild von Ungarn 1956. Ihr Ziel wird es sein, die Bürokratie zu beseitigen und die Arbeiter*innendemokratie und die Beteiligung der Arbeiter*innenklasse auf allen Ebenen der Verwaltung, der Industrie und des Staates einzuführen. Die Errichtung einer echten Arbeiter*innendemokratie in der UdSSR würde die Totenglocke für alle stalinistischen Diktaturen läuten und revolutionäre Wellen im kapitalistischen Westen auslösen. Die Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa, die zu einer sozialistischen Weltföderation – dem Ziel Lenins und der Bolschewiki – führen, würden eine neue Epoche des Überflusses für die Massen der Welt einläuten.

Innerhalb von 10 bis 15 Jahren würde ein Weltproduktionsplan den Planeten vollständig umgestalten. Auf dem Weg zum Sozialismus und zu einer klassenlosen Gesellschaft würde der Staat mit allen Überbleibseln des Kapitalismus verschwinden und einer einfachen Verwaltung von Sachen Platz machen. Eine harmonische sozialistische Gesellschaft, die sich die kolossalen Vorteile der modernen Wissenschaft zunutze macht, würde zu einer beispiellosen Steigerung der Produktivkräfte führen und es der Gesellschaft ermöglichen, in den Worten von Marx „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ zu geben. In dem Maße, in dem sich die Menschheit zu ungeahnten Höhen entwickelt, werden Kapitalismus und Stalinismus auf ihren rechtmäßigen Platz verwiesen – auf den Müllhaufen der Geschichte.

1 Tatsächlich: „Sechsstundentag bei gleichzeitiger zwei- oder dreistündiger Beschäftigung in der Verwaltung des Staates“ [Grußschreiben an die Bayrische Räterepublik, Lenin Werke, Band 29, S. 314 f., hier S. 314]


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