Peter Taaffe: Die NATO-Intervention in Libyen debattiert

[Socialism Today, Nr. 149, Juni 2011]

Ich bin seit langem ein Bewunderer der Artikel und Bücher von Peter Taaffe. Sie sind auf eine Art geschrieben, dass sie mir komplexe Ereignisse verständlich machen. Nachdem ich jedoch gerade den neuesten Artikel in Socialism Today über Libyen gelesen habe (Libyen: Die Flugverbotszone und die Linke, Nr. 148, Mai 2011), muss ich widersprechen. Ich stimme vielem in dem Artikel zu. Allerdings stimme ich auch dem meisten von den Rebell*innen in Misrata zu, die kürzlich in einem Fernsehinterview mehr Luftangriffe forderten, um Gaddafis Panzer auszuschalten.

Das waren ganz normale Männer und Frauen aus der Arbeiter*innenklasse, die die Rebell*innen in Misrata bilden und dies sagten. Diese mutigen Männer und Frauen kämpfen mit dem Rücken zum Meer, umzingelt von Gaddafis Truppen, die mehr Ressourcen haben. Niemand scheint die Rebell*innen zu bewaffnen und auszubilden. Sie wollen keine ausländischen Truppen in ihrem Land, aber sie wollen Luftangriffe, und zwar bald, da die Stadt von Gaddafis Panzern beschossen wird.

Aus westlichem Blickwinkel wäre man vielleicht froh, wenn Misrata fallen würde und sich die Rebell*innen zurückziehen würden. Das Land wäre dann in zwei Hälften geteilt, wobei der Osten das Öl behalten würde – genau das, was die westlichen Mächte gerne hätten, auch wenn sie das nicht in der Öffentlichkeit sagen. Gaddafi würde blutige Rache an Misrata nehmen, sobald es gefallen wäre.

Deshalb unterstütze ich die Forderung der Rebell*innen von Misrata nach Luftangriffen. Bedeutet das, dass ich eine imperialistische Intervention befürworte? Nein, das glaube ich nicht. Meiner Meinung nach ist das nicht dasselbe. Wenn ich in Misrata wäre, würde ich fordern, dass die Flugzeuge die Panzer ausschalten.

Chris Fernandez

Derby

Peter Taaffe antwortet:

Chris‘ Kommentare sind sehr willkommen. Es ist wichtig, dass unsere Leser*innen uns regelmäßig über ihre Meinung zum Inhalt der Artikel informieren. Wir begrüßen positive Kommentare, aber auch Punkte, bei denen es Differenzen gibt. Unsere Absicht ist es, die Arbeiter*innenbewegung durch unsere Analysen zu informieren und hoffentlich das politische Verständnisniveau unserer Leser*innen zu fördern. Dies kann erreicht werden, wenn wir einen echten Dialog mit Arbeiter*innen über so ernste Themen wie Libyen haben.

Chris ist nicht allein, wenn er Maßnahmen zur Verteidigung der Rebell*innen in Libyen will. Und anfangs, als es sich um eine echte Revolution handelte, bei der die Arbeiter*innen durch gewählte Komitees dominierten, waren wir voll und ganz dafür, den Aufstand zu unterstützen, und zwar nicht nur mit Lebensmitteln, sondern auch mit Waffen und Mitteln, um dem mörderischen Angriff der Truppen Gaddafis Widerstand zu leisten.

Der beste Weg, dies zu tun, ist durch die unabhängige Klassenaktion der internationalen Arbeiter*innenbewegung, beginnend in jenen Ländern der Region, die von den Flammen der Revolution erfasst wurden. Leider ist ein solcher Appell von den Rebell*innen nicht gekommen. Stattdessen haben sie die imperialistischen Mächte gebeten, ihnen durch Luftangriffe zu helfen. Dies wurde umso deutlicher, als es den kleinbürgerlichen und bürgerlichen Kräften gelang, die Arbeiter*innen beiseite zu drängen.

Wenn Waffen geliefert würden, um eine echte Massenrebellion zu unterstützen, selbst wenn sie von den imperialistischen Mächten geliefert würden – unter der Voraussetzung, dass daran keine Bedingungen geknüpft wären –, würden wir dem nicht im Wege stehen. Es war Leo Trotzki, der darauf hinwies: „In neunzig von hundert Fällen setzen die Arbeiter tatsächlich ein Minuszeichen dort, wo die Bourgeoisie ein Pluszeichen setzt. In zehn Fällen aber sind sie gezwungen, dasselbe Vorzeichen zu setzen wie die Bourgeoisie, jedoch setzen sie ihren eigenen Stempel, und darin drückt sich ihr Misstrauen gegenüber der Regierung aus.“ Aber selbst in einem Fall wie diesem, fügte er hinzu, müsse sich der Marxismus „jeweils selbständig … orientieren und die Losungen finden, die den Interessen des Proletariats am besten entsprechen.“ (Es gilt denken zu lernen (Freundschaftlicher Rat an gewisse Ultralinke), Mai 1938)

Der Imperialismus hat jedoch nicht die Absicht, dies zu tun, teils weil er sich nicht sicher ist, ob die bürgerlichen und kleinbürgerlichen führenden Vertreter*innen, die derzeit die Reihen der Rebell*innen dominieren, nach der Entfernung Gaddafis in der Lage sein werden, die Lage – zum Vorteil des Imperialismus – zu kontrollieren. Mit anderen Worten: Er ist sich nicht sicher, ob er die Revolution kontrollieren könnte. Dies ist die grundlegende Sorge in der gesamten Region – daher das relative Schweigen und die Untätigkeit bei Massakern in Bahrain und der Unterdrückung in Syrien sowie die Ermutigung sektiererischer Kräfte in Ägypten usw.

In ihrer Verzweiflung suchen die belagerten Rebell*innen in Misrata und Bengasi Hilfe von außen. Daher gibt es Unterstützung für Luftangriffe in diesen Städten und international. Aber wir können da nicht mitmachen, gerade weil es nicht den Interessen der libyschen Massen, der nordafrikanischen und arabischen Revolution oder der Arbeiter*innenklasse international helfen wird.

Die Übergangsregierung wird jetzt von bürgerlichen Kräften dominiert, wobei Schlüsselpositionen von früheren Gaddafi-Minister*innen besetzt sind. Deshalb berichtete die „Financial Times“: „Eine Koalition aus überwiegend westlichen und arabischen Ländern, die die Rebellen in Libyen unterstützen, hat sich darauf geeinigt, einen speziellen nichtmilitärischen Fonds mit Zusagen in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar einzurichten, und gleichzeitig zu Geduld aufgerufen, nach sieben Wochen von von der NATO geführten Bombenangriffen, die das Regime Muammar al-Gaddafis nicht stürzen konnten.“ (6. Mai) Es würde für sie nicht in Frage kommen, auf diese Weise zu handeln, wenn die Rebellion im Osten von demokratischen Massenkomitees dominiert würde.

Die Luftangriffe sind auch ein stumpfes Instrument, das Gaddafis Truppen nicht aufgehalten hat und den Rebell*innen selbst schreckliche „Kollateral“schäden zugefügt hat. Es gibt einen zusätzlichen Faktor, dass solche Methoden die Unterstützung für Gaddafi, die im Westen des Landes offensichtlich noch vorhanden ist, tatsächlich verstärken könnten. Nur ein Klassenappell bietet die Möglichkeit, bei der Spaltung von Gaddafis Reihen und der Mobilisierung von Opposition in Tripolis vollständig erfolgreich zu sein. Man erinnere sich, dass die Arbeiter*innen in Bengasi Gaddafis Truppen bereits in einem Aufstand besiegt haben. Ein wahlloser Luftkrieg hat in Libyen ebenso wenig Aussicht auf Erfolg wie in Afghanistan, wo er sich als völlig kontraproduktiv erwiesen hat; der feige Einsatz von US-Drohnen hat zum Massaker an Unschuldigen ebenso wie an „schuldigen“ Taliban-Kämpfern geführt.

Ich denke nicht, dass es richtig ist zu sagen, dass „der Westen“ froh wäre, den Fall von Misrata zu sehen. Er will jetzt den Sturz Gaddafis sehen, obwohl er sich zuvor mit ihm arrangiert hatte. Der Westen würde sogar gerne entschlossen intervenieren, um den Rebell*innen den Sieg zu garantieren – wenn er über die Landstreitkräfte verfügte und nicht durch die Angst vor einer Ausweitung der Mission eingeschränkt wäre. Er konnte dies zunächst nicht, daher die Luftschläge. Es gibt manche auf der Linken, die argumentierten, dass der Imperialismus es auf dem Niveau einer militärischen „Flugverbotszone” belassen wolle. Wir schrieben, dass sie „die Unterstützung für Aktionen dieses Charakters sauber von den breiteren Perspektiven der Mächte, die solche Aktionen durchführen, trennen“ wollen. Sie argumentierten: „Die UNO, mit Großbritannien und Frankreich als ihren Instrumenten, hat sich in Libyen sehr begrenzte Ziele gesetzt”.

Nachdem unser Artikel erschienen war, machten Obama, Cameron, Hague und Sarkozy alle deutlich, dass sie auf den Sturz Gaddafis hinarbeiten würden. Hague kündigte die Entsendung britischer „Berater*innen“ – in Wirklichkeit der SAS – in den Osten Libyens an. Auf diese Weise begann auch die Intervention der USA im Vietnamkrieg. Libyen wird keine Wiederholung des Vietnamkriegs sein, aber die Luftangriffe sind nur der Anfang imperialistischer Übergriffe, deren Ziel es ist, eine Revolution von unten, ähnlich denen, die sich im Nahen Osten und in Nordafrika entwickelt haben zum Entgleisen zu bringen.

Es ist klar, dass Chris und viele andere, die seine Ansichten teilen, nicht die Absicht haben, „imperialistische Interventionen zu unterstützen”. Aber der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert! Luftangriffe ausländischer imperialistischer Mächte sind militärische Interventionen. Die Rebell*innen sind in den Kalkülen des Imperialismus nur Kleingeld. Sie sind viel mehr an den Ölreserven Libyens interessiert und, noch wichtiger, daran, die breitere Revolution in der Region aufzuhalten und zum Entgleisen zu bringen. Aus diesem Grund haben wir von Anfang an die Flugverbotszone abgelehnt.

Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt: das Bewusstsein der libyschen Massen. Der Ruf nach „Hilfe” von außen – noch dazu vom Klassenfeind – stärkt Gaddafis Aufrufe, das Land gegen den Imperialismus zu verteidigen. Er senkt das Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse und schwächt ihre Fähigkeit, unabhängig zu kämpfen. In Palästina, zumindest in den besetzten Gebieten, waren die Massen größtenteils passiv, während sie auf die Befreiung durch den „Racheengel“ der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und ihren von außerhalb des Landes aus geführten militärischen Kampf warteten. Erst als die PLO besiegt und aus dem Libanon vertrieben wurde, war der Boden für die palästinensischen Massen bereitet, um in den besetzten Gebieten durch die Intifadas unabhängig zu handeln.

Die wunderbaren Revolutionen in Ägypten und Tunesien zerschlugen die Idee, dass die Massen im Nahen Osten und in Nordafrika nur durch eine Intervention von außen befreit werden könnten – das Argument, das der Imperialismus im Zusammenhang mit dem Irak verwendet hat. Verstohlen versuchen sie, diese Doktrin im Zusammenhang mit Libyen wiederzubeleben, leider mit der Unterstützung ultralinker Organisationen, die ausnahmslos eine opportunistische Position einnehmen, insbesondere in entscheidenden Fragen wie dem Krieg.

Es wäre daher falsch, wenn wir der imperialistischen Intervention in Form von Flugverbotszonen in irgendeiner Weise Unterstützung geben würden – aus den oben und im Originalartikel erläuterten Gründen.


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