[eigene Übersetzung des englischen Textes in Socialism Today Nr. 6, März 1996]
Lynn Walsh untersucht die wachsenden Befürchtungen der führenden europäischen kapitalistischen Vertreter*innen, dass die Währungsunion nicht wie geplant zustande kommen wird, was ihre Pläne für eine politische Union durcheinanderbringt.
„Frankreich bereitet sich auf die WWU vor“, titelte der „Economist“ am 9./15. Dezember auf der Titelseite. Das dramatische Farbfoto zeigte einen Demonstranten, der Benzin auf eine symbolische Barrikade goss. Vor dem Arc de Triomphe, der mit den Bannern der Streikenden behängt war, hatte sich eine Menge junger Arbeiter*innen aufgereiht, um die Flammen zu beobachten.
Die Ironie war angebracht. Der Versuch der Regierung Chirac, ein Programm von Sozialversicherungskürzungen durchzuführen, um die Maastrichter Konvergenzkriterien für die WWU zu erfüllen, hatte eine Welle von Streiks im öffentlichen Dienst und Massendemonstrationen ausgelöst. Dies wiederum löste eine tiefe Krise in der Europäischen Union aus, die ein ernsthaftes Fragezeichen bezüglich der Durchführbarkeit der WWU erzeugte. Die Spannungen, die durch die Ereignisse in Frankreich ausgelöst wurden, sind möglicherweise weitaus schwerwiegender als die Erschütterungen, die durch das Nein beim dänischen Referendum im Juni 1992 ausgelöst wurden, das die schwersten Währungsturbulenzen seit dem Wirtschaftseinbruch von 1974 auslöste.
Aus Angst vor einer sozialen Explosion hat Chirac, zumindest vorläufig, einen teilweisen Rückzieher gemacht. Ebenso die schwedische Regierung. Sowohl die Maastricht-Kriterien als auch der Zeitplan für die WWU wurden in Frage gestellt. Zunächst wurde dies von Chirac, Kohl, Santer und anderen führenden EU-Vertreter*innen vehement bestritten. Doch Ende Januar war es offenkundig. Der ehemalige rechte französische Präsident Valery Giscard d’Estaing forderte „Flexibilität“ bei der Anwendung der Konvergenzkriterien. Er warnte davor, dass das Beharren auf der Erreichung der Maastrichter Bedingungen für die Währungsunion bis 1999 (Inflation unter 3,6%, laufendes Haushaltsdefizit unter 3% und Bruttostaatsverschuldung unter 60% des BIP) zu noch höherer Arbeitslosigkeit führen und die französische Wirtschaft in eine Rezession stürzen könnte. Giscard spiegelt offensichtlich die Angst der französischen Bourgeoisie wider, ein neues „1968“ zu provozieren. Auf jeden Fall scheint die Forderung nach „Flexibilität“ ziemlich offensichtlich, wenn derzeit nur Luxemburg (mit 0,1% der EU-Bevölkerung) alle Kriterien vollständig erfüllt.
Doch die Äußerungen Giscards, die auch von anderen führenden Vertreter*innen der EU aufgegriffen wurden, riefen bei den verschiedenen Sprecher*innen des deutschen Kapitalismus einen Chor von Angriffen hervor. Hans Tietmeyer, Präsident der Bundesbank, erklärte, dass es „keine Chance für eine Aufweichung der Kriterien“ gebe. („Observer“, 4. Februar). Klaus Kinkel, der deutsche Außenminister, sagte, die WWU solle planmäßig vollendet werden, bei strenger Interpretation der Kriterien. „Wenn die WWU scheitert, werden die Risiken für die deutsche Wirtschaft unkalkulierbar sein. Der gesamte europäische Integrationsprozess wäre gefährdet.“ („Financial Times“, 26. Januar).
Diese Divergenz ist kein bloßer Streit zwischen den führenden Vertreter*innen zweier großer EU-Länder. Sie spiegelt einen wachsenden Riss innerhalb der deutsch-französischen Achse wider, dem Zwillings-Fundament, auf dem das gesamte Gebäude der WWU ruht – oder fällt.
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Als das WWU-Projekt zum ersten Mal formuliert wurde (gefördert von Delors auf dem Höhepunkt des Booms der 1980er Jahre), entsprach es den Zielen sowohl des französischen als auch des deutschen Kapitalismus. Die Vertreter*innen des französischen Kapitals (zunächst Giscard und dann besonders Mitterrand) suchten nach einem Weg, die wirtschaftliche Hegemonie des deutschen Kapitalismus zu begrenzen oder zumindest auszugleichen. Die D-Mark war tatsächlich die vorherrschende Währung Europas, und die deutsche Wirtschaftspolitik gab zwangsläufig das Tempo für ganz Europa vor, besonders für die Haupthandelspartner*innen Deutschlands. Vom französischen Standpunkt wäre es viel besser, Deutschland in eine europäische Struktur mit einer europäischen Zentralbank zu integrieren, durch die Frankreich sein politisches Gewicht geltend machen könnte.
Diese Politik, die auf ein „europäisches Deutschland“ im Gegensatz zu einem „deutsches Europa“ drängte, wurde für Frankreich nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten und der Vereinigung Deutschlands noch dringlicher. Nicht nur war Deutschland zu einer Großmacht mit 80 Millionen Einwohner*innen aufgestiegen, sondern mit dem Zusammenbruch des Stalinismus fielen auch die Beschränkungen des „Kalten Krieges“ weg, die der Ausübung des politischen und diplomatischen Einflusses des deutschen Kapitalismus entgegenstanden. Seit Mitterrand 1981 sein reformistisch-keynesianisches Programm aufgab, folgten die aufeinander folgenden französischen Regierungen der Politik des „Franc forte“ (des starken Franc), die die französische Währung fest an die D-Mark koppelte, was zu einem langsamen Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit führte. Die französische Bourgeoisie insgesamt war bereit, einen recht hohen wirtschaftlichen Preis für den potenziellen politischen Einfluss zu zahlen, den sie durch die WWU gewinnen würde.
Die Vertreter*innen des deutschen Kapitals waren nicht so zielstrebig. Kohl unterstützte das WWU-Projekt stark. Er unterstützte die Idee eines europäischen Deutschlands – in der Erkenntnis, dass der deutsche Kapitalismus trotz des Endes des Kalten Krieges aufgrund des Erbes Hitlers und des Zweiten Weltkriegs seine eigenen Ziele nicht mutig und unabhängig verfolgen könnte, ohne eine Reaktion der großen europäischen Staaten zu provozieren. Es war weitaus besser, über die Institutionen der EU und den Mechanismus der WWU zu arbeiten – vorausgesetzt, die Existenzbedingungen und die Funktionsweise der WWU boten angemessene Garantien gegen das Risiko von Inflation, der historischen Phobie der deutschen herrschenden Klasse.
Die Chefs der Bundesbank waren jedoch nie so begeistert wie Kohl. Sie haben immer befürchtet, dass eine Euro-Bank, in der Staaten mit dem Ruf „verschwenderischer“ Sozialausgaben einen großen Einfluss haben würden, der Inflationsspirale Tür und Tor öffnen würde. Der Preis für die, stets zähneknirschende und zurückhaltende, Unterstützung der Bundesbank für die WWU war das Beharren auf strikten deflationären Bedingungen – das heißt den Maastricht-Kriterien.
Diese Kriterien, die bereits teilweise durch die Anwendung des Wechselkursmechanismus auferlegt wurden, drohten stets eine drastische deflationäre Wirkung auf die meisten EU-Länder zu haben. Langsames Wachstum, relativ hohe Zinssätze und eine restriktive Geldpolitik in Deutschland wurden durch den Wechselkursmechanismus und die Konvergenzpolitik unweigerlich auf die Nachbarländer übertragen. Bis zu einem gewissen Grad haben sich die Kapitalist*innen anderer europäischer Länder hinter den Kriterien versteckt – sie wollen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben aus ihren eigenen Gründen, um ihre Profite zu steigern und den Wohlstand zu den Reichen und Superreichen zu verlagern. Nichtsdestotrotz haben die Maastricht-Kriterien die Situation verschärft. Die deutliche Konjunkturabschwächung in den großen europäischen Volkswirtschaften seit Mitte 1995 hat die Kriterien in wirtschaftliche Folterinstrumente verwandelt.
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Weder für Frankreich noch für Deutschland wird für 1996 ein Wachstum von mehr als etwa 1,5% erwartet. Die Arbeitslosigkeit beträgt in Frankreich drei Millionen und ist in Deutschland kürzlich auf über vier Millionen gestiegen. Investitionen in der verarbeitenden Industrie haben sich im letzten Jahr halbiert, was im Falle Deutschlands auf die massiven Auslandsinvestitionen in Osteuropa, Asien usw. zurückzuführen ist. Das Wachstum der Exporte der EU-Wirtschaften fiel von über 9% im Jahr 1994 auf etwa 6,5% im Jahr 1995. In der Vergangenheit hätten die Regierungen zumindest eine leicht expansive Politik betrieben, um diesem Abschwung der Konjunktur entgegenzuwirken. Gegenwärtig haben die Kürzungen der öffentlichen Ausgaben zur Verringerung des Haushaltsdefizits und der Bruttoverschuldung den Abschwung verschärft. Dies wiederum hat zu einem Rückgang der Steuereinnahmen geführt, was die Staatsdefizite tendenziell noch weiter in die Höhe treibt.
Nicht einmal Deutschland wird die Kriterien bis 1999 erfüllen. Steigende Staatsausgaben (besonders um den Osten zu absorbieren) und zurückgehende Steuereinnahmen haben das aktuelle Haushaltsdefizit auf 3,5% ansteigen lassen. Nur das winzige Luxemburg erfüllt die Kriterien vollständig. Irland erfüllt zwei Kriterien, hat aber eine öffentliche Bruttoverschuldung von 83,7% des BIP.
Vier EU-Mitglieder könnten die Kriterien bis 1999 unmöglich erfüllen. Belgien hat eine Bruttoverschuldung von 138,7% des BIP; Griechenland hat ein aktuelles Haushaltsdefizit von 13,3% und eine Bruttoverschuldung von 125,4% des BIP; Italien hat ein aktuelles Defizit von 8,6% und eine Bruttoverschuldung von 126,8%; Schweden hat ein aktuelles Defizit von 9,6% und eine Bruttoverschuldung von 78,9%, wobei die schwedische Regierung vor kurzem das Sparpaket, mit dem sie sich den Konvergenzkriterien nähern wollte, zurückgezogen hat. Jetzt, da sich die europäische Wirtschaft sichtbar verlangsamt, gibt es für die anderen acht EU-Mitglieder keine reale Möglichkeit mehr, die Kriterien zu erfüllen, ohne dass ihnen eine beträchtliche „Flexibilität“ eingeräumt wird.
Dies wirft natürlich die Frage auf, ob die WWU tatsächlich erreicht werden kann. Zum ersten Mal werden nun von verschiedenen führenden Politiker*innen offen Zweifel geäußert. Selbst Delors hat jetzt erklärt, dass es schwierig sein werde, die WWU „innerhalb des vereinbarten Zeitplans“ zu erreichen. Ein ehemaliger spanischer Finanzminister, Miguel Boyer, kommentierte, dass der Maastricht-Zeitplan für Spanien „eine politische Falle mit einem hohen wirtschaftlichen Preis“ sei. („Independent“, 26. Januar) Der Chef einer der größten französischen Banken, Marc Vienot, erklärte, die Chancen, dass Frankreich die Kriterien erfüllt, seien „vernachlässigbar“. Der spanische Außenminister Carlos Westendorp gab zu, dass „wir uns in einer Glaubwürdigkeitskrise des gesamten (WWU-)Projekts befinden“. („Independent“, 25. Januar). Er argumentierte, dass die EU erwägen sollte, „die Uhr anzuhalten“, wenn nicht eine „kritische Masse“ von EU-Ländern in der Lage sei, die Maastricht-Ziele bis 1999 zu erfüllen.
Die Position der führenden deutschen Vertreter*innen ist immer noch: Jetzt (1999) oder nie. Alles (strenge Kriterien) oder nichts. In der Realität stehen sie jedoch erheblichen Problemen gegenüber. Belgien, die Niederlande und Dänemark, die sehr stark vom Handel mit der EU und Deutschland abhängen, bilden de facto bereits eine D-Mark-Zone. Was jedoch die WWU betrifft, so kann Belgien die Bruttoverschuldungskriterien nicht erfüllen, während Dänemark mit ziemlicher Sicherheit von seinem Ausstiegsrecht Gebrauch machen wird. Mit etwas Flexibilität könnten Irland, Portugal und Spanien (bei sehr optimistischen Wachstumsannahmen) die Kriterien gerade noch erfüllen – aber sie würden von der Bundesbank zweifellos als „lockeres Geld“-Wirtschaften und damit als unzuverlässige Partner angesehen.
Die Teilnahme Frankreichs ist angesichts der sich vergrößernden Wirtschaftskrise und der massiven Streikwelle, dem Vorboten weiterer kommender Unruhen, eindeutig im Zweifel. Doch ohne Frankreich verliert die WWU eines ihrer Zwillings-Fundamente. Deutschland kann sich kaum Italien als Alternative zuwenden, mit dessen massiver Staatsverschuldung und dessen Geschichte der Inflationspolitik. Der britische Kapitalismus wird sich immer weniger wahrscheinlich beteiligen. Was wird also von dem Projekt der WWU übrig bleiben?
Bestenfalls wird es eine zweistufige EU geben – mit einem „inneren Kern“ um Deutschland (Belgien, Niederlande, Luxemburg, möglicherweise Frankreich), der an einer Währungsunion teilnimmt. Selbst mit einem solchen inneren Kern ist die erfolgreiche Einführung einer gemeinsamen Währung bei weitem nicht sicher (vor allem, wenn Frankreich einbezogen wird), obwohl sie angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit von Investitionen und Handel nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Doch würde es unweigerlich zu wachsenden Spannungen zwischen einem solchen inneren Kern und den anderen Mitgliedern der EU kommen. Schließlich wäre ein entscheidender Grund für die Nichtteilnahme an der WWU die Beibehaltung des Rechts, die nationale Währung abzuwerten, um gegenüber stärkeren Handelskonkurrent*innen wieder Boden gut zu machen. Aber wenn beispielsweise ein geschwächter spanischer oder italienischer Kapitalismus zu einem Abwertungswettlauf greifen würde, um seine Importe in Kernländer wie Deutschland oder Frankreich zu steigern, wie lange würden diese Länder diese Position tolerieren? Früher oder später würden die Länder des inneren Kerns unweigerlich Vergeltung üben, indem sie Quoten einführen oder Schutzbarrieren errichten.
Der belgische Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene warnte kürzlich: „Ich glaube nicht, dass die Länder, die jetzt unter einem Abwertungswettlauf leiden, es akzeptieren werden (wenn die WWU zusammenbricht). Ich glaube nicht, dass der Binnenmarkt eine Vereinbarung für immer ist. Er ist durchaus umkehrbar“. („Guardian“, 5. Februar). Ein führender deutscher Banker warnte, dass „das Endergebnis“ von „wiederkehrenden Abwertungswettläufen“ die „Renationalisierung der Wirtschaftspolitik in Europa“ sein würde. („Financial Times“, 9. Februar).
Dehaene erklärte auch: „Wenn wir es nicht schaffen [die WWU durchzusetzen], befürchte ich, dass wir einen unumkehrbaren Zerfallsprozess beginnen werden“. Dies wird implizit auch von Santer anerkannt, der kommentierte, dass der Binnenmarkt mit der Verwirklichung der Währungsunion bis 1999 verbunden sei: „Wenn nicht, wäre es ein großer Rückschritt, und ich weiß nicht, ob der Binnenmarkt unter einem solchen Schlag leiden würde“. („Guardian“, 5. Februar).
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Die WWU wurde in Delors‘ großer Vision als der Mechanismus gesehen, der eine unumkehrbare wirtschaftliche Verflechtung der Europäischen Union herbeiführen und die Grundlage für die politische Union schaffen würde. Nun wird jeden Tag deutlicher, dass die WWU in Wirklichkeit als Instrument zur Aushebelung der EU-Staaten dienen wird.
Die WWU war immer ein utopisches Projekt, das in dem berauschenden Boom der 1980er Jahre und dem „Zusammenbruch des Kommunismus“ nach 1989 seinen Aufschwung nahm. Natürlich spiegelt die WWU wirkliche Trends innerhalb des Kapitalismus wider. Die zunehmende Verflechtung von Investitionen und Handel auf europäischer Ebene sowie der externe Konkurrenzdruck aus den USA und Japan zwangen die europäischen Großunternehmen, besonders die großen multinationalen Konzerne, eine stärkere Integration der europäischen Märkte anzustreben – einen einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum. Das Element des „Gemeinsamen Marktes“ hat sich seit der Gründung der EWG zweifellos erheblich weiterentwickelt und wird wahrscheinlich nicht rückgängig gemacht werden, es sei denn unter den Bedingungen einer internationalen kapitalistischen Krise.
Das Projekt einer gemeinsamen Währung ist jedoch eine qualitativ andere Angelegenheit. Es würde ein erhebliches Aufgeben von politischer Kontrolle über die nationalen Wirtschaften durch die Regierungen der teilnehmenden Staaten bedeuten. Es ist wahr, dass die nationale wirtschaftliche Souveränität durch die zunehmende Globalisierung bereits teilweise untergraben wurde. Es ist auch wahr, dass unter den Bedingungen eines weiteren anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs die Entwicklung einer gemeinsamen Währung zwischen Staaten mit einem hohen Maß an gegenseitigen Investitionen und Handel nicht ausgeschlossen werden kann. Die gemeinsame Nutzung einer Währung führt nicht grundsätzlich zur Auflösung der Nationalstaaten, wie die gemeinsame Nutzung des Pfund Sterling durch Großbritannien und Irland vor der EG gezeigt hat. Wir sind jedoch jetzt in einer Periode von wirtschaftlicher Depression, nicht von Aufschwung. Während die Entwicklung der EG den Nachkriegsaufschwung, der 1974 endete, zweifellos erleichterte, wäre es falsch, zu schließen, dass die weitere Entwicklung der Europäischen Union an sich einen erneuten Aufschwung anregen würde.
Im Gegenteil, die Tendenz des Kapitalismus, sich während eines Aufschwungs über die Grenzen des Nationalstaats zu erheben, wird sich in einer Periode von Stagnation und Niedergang umkehren. Während der „Gemeinsame Markt“ die wirtschaftliche Verflechtung widerspiegelt, beruht der politische Überbau der EU auf einem komplexen zwischenstaatlichen Abkommen zwischen den beteiligten Nationalstaaten. Die Institutionen der EU sind nicht die embryonalen Elemente eines supranationalen Staates, sondern faktisch die „ständigen Ausschüsse“ einer komplexen vertraglichen Vereinbarung zwischen Nationalstaaten. Alle ernsthaften Kommentator*innen stimmen überein, dass die wirkliche Macht in der EU beim Ministerrat liegt, der die Kommission kontrolliert, und dass das Europäische Parlament lediglich als Schaufenster dient.
Das Funktionieren der EU-Institutionen hängt von der Vereinbarung zwischen den wichtigsten teilnehmenden Mächten ab, und die politische Einigung ergibt sich wiederum aus gemeinsamen Zielen. Nationale Interessen wurden in der EU nicht aufgelöst, sondern bleiben in ihrem Rahmen komprimiert. Unter den Bedingungen wachsender wirtschaftlicher und sozialer Krise wird es zwangsläufig zu einer zunehmenden Interessendivergenz zwischen den kapitalistischen Nationalstaaten kommen, die nationale Spannungen freisetzen wird.
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Die wachsende Interessendivergenz zwischen dem französischen und dem deutschen Kapitalismus ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt am entscheidendsten. Die Agenda Deutschlands hat sich in mehrfacher Hinsicht geändert. Angesichts zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten im eigenen Land hat der deutsche Kapitalismus keine Lust, die potenziell enormen Kosten der Integration schwächerer Volkswirtschaften in die WWU zu übernehmen. Wenn die Bundesbank die strikte Einhaltung der Maastricht-Kriterien und des Zeitplans fordert, ist den meisten Kommentator*innen klar, dass dies in Wirklichkeit ein Ultimatum ist – und sie würde es vorziehen, wenn das gesamte WWU-Projekt aufgegeben würde. Gleichzeitig schaut der deutsche Kapitalismus zunehmend auf die ehemals stalinistischen Staaten Osteuropas, in die sie in der letzten Zeit massive Investitionen gelenkt haben. Sie bevorzugen die rasche Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns in die EU, mit der Möglichkeit, dass die anderen ehemals stalinistischen Staaten später aufgenommen werden, zumindest in einer Form eines assoziierten Status. Zweifellos würde die Aufnahme von bis zu 15 neuen Staaten im Osten unweigerlich den Zusammenhalt der EU schwächen, was eine enge politische Union, wie sie ursprünglich mit dem Projekt der WWU verbunden war, ausschließt.
Die herrschende Klasse Frankreichs hingegen beginnt, die wirtschaftlichen und potenziellen politischen Kosten einer Fortführung der WWU zu berechnen. Eine wachsende Zahl von Vertreter*innen der Bourgeoisie warnt davor, dass Frankreich, weit davon entfernt, Deutschland durch die EU-Institutionen zu dominieren, zunehmend der deutschen Wirtschaftsmacht unterworfen sein wird. Obendrein bringen die fortgesetzten Versuche, die Fristen von Maastricht einzuhalten, die Gefahr, soziale Bewegungen auszulösen, die die Macht der herrschenden Klasse selbst bedrohen können.
Die britischen Kapitalist*innen sind gespalten, was sich in der Spaltung der Tory-Partei widerspiegelt. Ein Teil der Großindustriellen glaubt immer noch, dass die WWU ihre Investitionen und ihren Handel in Europa erleichtern würde, und scheint immer noch zu glauben, dass sie ein erreichbares Ziel ist. Andere kapitalistische Vertreter*innen und besonders die Tory-Euroskeptiker*innen zweifeln jedoch zunehmend an der Wünschbarkeit oder Gangbarkeit der WWU. Sie sehen voraus, dass der geschwächte britische Kapitalismus, wenn er in eine gemeinsame Währung eingebunden ist, unter der ständig wachsenden Euro-Polarisierung zwischen den stärkeren und den schwächeren Volkswirtschaften leiden würde, was den relativen Niedergang Großbritanniens weiter beschleunigen würde. Das soll nicht heißen, dass der britische Kapitalismus innerhalb einer „Außenschicht“, außerhalb der Einheitswährung, gedeihen würde, oder sogar, wenn er sich ganz aus der EU zurückziehen würde.
Eine Reihe kleinerer Länder wie Irland, Spanien und Portugal und in gewissem Maße auch Griechenland erhielten durch den EU-Beitritt einen ersten wirtschaftlichen Aufschwung durch die massiven Transfers im Rahmen des Subventionssystems der Gemeinsamen Agrarpolitik und die Zahlungen aus den Regional- und Sozialfonds. Dies war jedoch ein einmaliger Effekt. Unter einer gemeinsamen Währung, die den schwächeren Volkswirtschaften das Recht verweigert, ihre Exporte durch Abwertungen zu schützen, würden diese Länder unweigerlich gegenüber den dominierenden Volkswirtschaften geschwächt werden.
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Die europäischen kapitalistischen Staaten werden gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen gezogen. Die ultimative Dominanz des Weltmarktes, mit massivem Druck seitens der nordamerikanischen und asiatischen Wirtschaftsblöcke, treibt die Nationalstaaten ständig an, eine stärkere europäische Integration zu suchen. Doch die nationalen Interessen, die ein organisches Merkmal des Kapitalismus sind, rufen immer wieder Fliehkräfte hervor. Nicht das kleinste Problem ist die massive und wachsende Wahlopposition gegen die EU im Allgemeinen und die WWU im Besonderen. In dieser Opposition gibt es zweifellos ein nationalistisches Element, sie spiegelt aber auch den sozialen Unmut der Arbeiter*innen und der verärgerten Mittelschichten wider, der sich durch die massiven Ausgabenkürzungen, die jetzt im Namen der WWU-Konvergenz durchgeführt werden, herauskristallisiert. Eine stärkere europäische Integration, selbst wenn sich weitere Schritte als möglich erweisen, kann für den europäischen Kapitalismus in den kommenden Jahren keinen Ausweg bieten. Auf der anderen Seite kann auch ein Rückgriff auf die Durchsetzung nationaler Interessen keine Lösungen bieten, obwohl die kapitalistischen Staaten unter den Bedingungen der Krise zweifellos Schritt für Schritt auf eine Politik auf Kosten der Nachbar*innen zurückgreifen werden. Dies spiegelte sich auch in der jüngsten Rede Kohls an der Universität Löwen [Leuven/Louvain] wider. „Wenn es keine Impulse für die weitere Integration gibt, führt das nicht nur zum Stillstand, sondern auch zum Rückschritt. Der Nationalismus hat großes Leid über unseren Kontinent gebracht“. („Observer“, 4. Februar). Damit sollte Druck auf die führenden europäischen Vertreter*innen ausgeübt werden, die WWU fortzusetzen. Aber mit der Feststellung, dass „die europäische Integration eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert ist“, machte Kohl einen unheilvollen Hinweis auf die fatalen nationalen Gegensätze, die in die Grundlagen des Kapitalismus eingebaut sind.
Sozialist*innen haben gewiss kein Interesse, nationalistische kapitalistische Wirtschaften oder nationale Währungen zu verteidigen. Im Unterschied zur kapitalistischen Struktur der Europäischen Union ist die Zeit dafür reif, dass die die Arbeiter*innenbewegung die Frage der europäischen Einheit auf sozialistischer Grundlage – einer Sozialistischen Föderation Europas – stellt, die nur durch die Kräfte der Arbeiter*innenklasse erreicht werden kann.
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