[16. Juni 1934, eigene Übersetzung des englischen Textes in Writings of Leon Trotsky, Band 7]
Die sowjetische Außenpolitik hat insbesondere seit der Anerkennung der Sowjetunion durch die Vereinigten Staaten eine entschieden anti-leninistische Wendung genommen.
Erstens wurde diese Anerkennung erst gewährt, nachdem der amerikanische Kapitalismus völlig überzeugt war, dass die Dritte Internationale nicht mehr als Instrument der Weltrevolution im Allgemeinen und als revolutionärer Ansporn und Inspiration für die amerikanischen werktätigen Massen im Besonderen dienen würde. Zweitens erklärte die stalinistische Bürokratie offiziell, um ihren guten Willen zu unterstreichen, dass Präsident Roosevelt den friedlichen amerikanischen Kapitalismus vertrete, der ehrlich nach einer demokratischen und pazifistischen Lösung der gegenwärtigen imperialistischen Widersprüche und Konflikte suche.
Kürzlich erklärte Alexander A. Trojanowski, der sowjetische Botschafter in Washington, dass die UdSSR und die Vereinigten Staaten in der Lage sein sollten, eine „gemeinsame Basis“ in dem Bestreben zu finden, „eine vollständige oder teilweise Abrüstung zu erreichen“. „Die Außenpolitik der Sowjetunion“, so fuhr er fort, „zeigt eine zunehmende Aktivität für den Frieden. … Wir begrüßten die Wiederaufnahme normaler Beziehungen zu den Vereinigten Staaten unter diesem Gesichtspunkt. Nicht der materielle Gewinn für unser Land, sondern der Gewinn für den internationalen Frieden wurde in unserem Land als das Wichtigste in den freundschaftlichen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten angesehen.“
An Trojanowskis Friedensliebe kann man kaum zweifeln, vor allem, wenn man einige seiner anderen Äußerungen in Betracht zieht. „Die Sache des Friedens“, so erklärte er, „ist so groß, dass sie gegenüber allen anderen Problemen Vorrang haben muss.“ Und unter diesen Problemen nannte er die wichtigsten wirtschaftlichen Widersprüche unserer Epoche. „Alle sekundären [!?] Probleme, wie die der Schulden, des kommerziellen Wettbewerbs, der Zölle und so weiter“, erklärte er, „müssen so schnell wie möglich durch gegenseitige Vereinbarungen und zur gegenseitigen Zufriedenheit geregelt werden, denn diese relativ kleinen [!?] Fragen stören die internationale Atmosphäre und verhindern freundschaftliche Bemühungen zur Festigung des Friedens.“
Kann der ehrenwerte stalinistische Botschafter dies wirklich meinen? Hat er die Lehren Lenins über die wirtschaftlichen Ursachen des Krieges völlig vergessen? Trojanowski sollte daran erinnert werden, dass Lenin in Imperialismus: Das letzte Stadium des Kapitalismus tatsächlich nachweist, dass die von ihm erwähnten „sekundären“ und „kleinen“ Fragen die eigentliche Wurzel des imperialistischen Krieges im Besonderen und aller Kriege im Allgemeinen sind. Oder ist das konterrevolutionärer Trotzkismus, Monsieur l’Ambassadeur?
Im Einklang mit diesem Trend haben die Stalinisten im Ausland eine völlig neue Interpretation des Kapitalismus und des Imperialismus veröffentlicht. Sie haben die kapitalistischen Nationen in zwei Kategorien eingeteilt: die einen sind friedlich, demokratisch und pazifistisch, die anderen kriegerisch, faschistisch und aggressiv. (Dies ist genau die Theorie der Zweiten Internationale.) Unter die erste Kategorie fallen Amerika, Frankreich, die Kleine Entente und möglicherweise England; unter die zweite Kategorie fallen vor allem Deutschland und Japan.
Dieser antimarxistischen politischen Philosophie folgend, führt Litwinow nun Gespräche für eine „Verständigung“ mit dem imperialistischen Frankreich. Frederick T. Birchall, Korrespondent der „New York Times“ in Berlin, berichtet, dass „… neben dem militärischen Abkommen eine gründliche Verständigung über den Beitritt Russlands zum Völkerbund erzielt wurde. Er soll so bald wie möglich mit der enthusiastischen Unterstützung Frankreichs erfolgen, das mit der Entschuldigung [wohlgemerkt!] von Abrüstungsverhandlungen in naher Zukunft eine beeindruckende Delegation nach Genf schicken wird. … In Frankreich ist die Bühne bereitet, um die russische Verständigung … als eine weitere Garantie für den europäischen Frieden und die französische Sicherheit zu begrüßen. Dann wird Frankreich bereit sein, über Abrüstung zu sprechen.“
Dieses Manöver wird im Namen von Marx und Lenin durchgeführt, erklären die Stalinisten, um sich Verbündete (?!) gegen einen wahrscheinlichen Angriff auf die UdSSR von Seiten des faschistischen und kriegerischen Kapitalismus, nämlich Deutschland und Japan, zu sichern. Auch der Beitritt der Sowjetunion zum kapitalistischen Völkerbund, den der Dritte Weltkongress der Kommunistischen Internationale als „internationaler Trust der Siegerstaaten zur Ausbeutung der besiegten Konkurrenten und der Kolonialvölker“ bezeichnete, wurde erleichtert.
Heute erklärt die „Prawda“, das offizielle Organ der stalinistischen Bürokratie, die Politik des Völkerbundes wie folgt: „In der Tat hat der Austritt Japans und Deutschlands – dieser Länder, die nicht einmal versuchen, ihre Entschlossenheit zu verbergen, ihre imperialistischen Ambitionen durch weitere Aufrüstung, Übergriffe und Kriege zu verwirklichen – aus dem Völkerbund die Frage aufgeworfen, ob der Völkerbund nicht bis zu einem gewissen Grad [wie vorsichtig!] zum Zentrum vereinigter Kräfte werden könnte, die bereit sind, die blutige Beilegung von Streitigkeiten zu verzögern und wenigstens eine gewisse Stärkung des Friedens herbeizuführen.“ Und Karl Radek fügt hinzu: „Die Gefahr eines Krieges gegen die UdSSR kommt nicht vom Bund, sondern von den offenen Gegnern des Bundes und den englischen Hardlinern.“
Die Thesen und Resolutionen des Dritten Weltkongresses der Kommunistischen Internationale unterstützen folgende Schlussfolgerung: „Die neue internationale Arbeitervereinigung ist geschaffen zur Organisierung von gemeinsamen Aktionen der Proletarier der verschiedenen Länder, die das eine Ziel anstreben: Sturz des Kapitalismus, Errichtung der Diktatur des Proletariats und einer internationalen Sowjetrepublik zur vollen Beseitigung der Klassen und zur Verwirklichung des Sozialismus, dieser ersten Stufe der kommunistischen Gesellschaft.“
Der Stalinismus hat dies alles beseitigt. An seine Stelle sind Militärbündnisse mit kapitalistischen Ländern und die wahnwitzige Theorie des Sozialismus in einem Land getreten. Der Marxismus-Leninismus des Dritten Weltkongresses wird nun als konterrevolutionärer Trotzkismus bezeichnet. Und zur Unterstützung dieser These verfolgt die französische imperialistische Regierung jetzt den Genossen Trotzki als Konterrevolutionär!
Diese neue stalinistische Politik gefährdet nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die Aussichten auf eine Weltrevolution, wenn ein imperialistischer Krieg ausbricht. Wenn die UdSSR in den Völkerbund manövriert wird und damit an den imperialistischen Wagen Frankreichs und der Kleinen Entente gebunden wird, oder wenn sie Mitglied der Ständigen Friedenskonferenz wird, wird in beiden Fällen bewiesen, dass die Sowjetunion auf der Seite der stärksten kapitalistischen Banditen steht. So wird die Emanzipation der Unterdrückten durch die proletarische Revolution aufgegeben und die Sowjetunion wird zum Spielball (und letztlich zum Opfer) im imperialistischen Spiel.
Diese Politik, die sich jetzt vor allem gegen Deutschland richtet, ist eine unvermeidliche Folge des heimtückischen Verrats an den deutschen Arbeitern und halbproletarischen Massen durch die deutsche Kommunistische Partei unter dem direkten Kommando Stalins. Zunächst wurde die deutsche Revolution im Interesse des Friedens und der Kredite sabotiert. Jetzt, mit der Bedrohung durch Hitler vor Augen, wenden sich Stalin und Co. dem imperialistischen Frankreich zu, um Hitlers Hand aufzuhalten, d.h. um seine Politik des Drangs nach Osten zu bremsen.
Wie üblich kalkuliert die stalinistische Bürokratie nicht die Auswirkungen dieses Kurses auf die deutschen Massen. Da Stalin den Glauben an die Weltrevolution verloren hat und vor allem die revolutionäre Hilfe der deutschen Massen im Falle eines faschistischen Angriffs verschmäht, spielt er Hitler einmal mehr in die Hände. Goebbels hat bereits im blutenden Deutschland per Rundfunk verbreitet, dass die Sowjetunion ein technisches Militärbündnis mit dem durch und durch verhassten Frankreich gegen das deutsche Volk geschlossen hat. Und so wird der letzte Tropfen revolutionären Blutes aus den Adern der deutschen Arbeiterschaft gesaugt. Das ist der endgültige Dolchstoß in den Rücken.
Das drohende Scheitern der Abrüstungskonferenz eröffnet für die Sowjetunion eine gefährliche Perspektive. England kann es sich nicht leisten, dass Frankreich seine Macht auf dem Kontinent ausbaut. Es wird nicht zulassen, dass Deutschland weiter gedemütigt und zerschlagen wird. Es unterstützt auch die deutschen Aufrüstungsvorschläge. Es pflegt weiterhin freundschaftliche Beziehungen zu Japan. Denn England braucht sowohl Deutschland als auch Japan, zumindest als potentielle Verbündete, um sein weit verzweigtes Empire zu erhalten.
Die gegenwärtige Politik der Sowjetunion führt, wenn sie bis zum bitteren Ende durchgezogen wird, zu imperialistischen Verstrickungen und versetzt der proletarischen Weltbewegung den Todesstoß.
Es ist offensichtlich, dass eine solche Lage nach einer neuen Partei und einen neuen (Vierten) Internationale schreit.
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