[eigene Übersetzung des russischen Textes, Korrekturen durch russische Muttersprachler*innen wären sehr willkommen]
Die Nachkriegsepoche brachte der psychologischen Biografie breite Verbreitung, deren Meister sie nicht selten vollkommen aus der Gesellschaft herausreißen. Als Hauptsprungfeder der Geschichte wird die Abstraktion der Persönlichkeiten dargestellt. Die Tätigkeit des „politischen Tiers“, wie Aristoteles den Menschen genial bestimmte, wird in persönliche Leidenschaften und Instinkte zerlegt.
Das Wort von den abstrakten Persönlichkeiten kann als Unsinn erscheinen. Sind nicht die überpersönlichen Kräfte der Geschichte wirklich das Abstrakte? Und was kann konkreter sein als der lebendige Mensch? Jedoch, wir beharren darauf. wenn man die Persönlichkeit, und sei sie auch genial, von dem Inhalt säubert, der in sie von Milieu, Nation, Epoche, Klasse, Kreis, Familie hineingetragen wird, dann wird ein leerer Automat, ein psycho-physischer Roboter bleiben, ein Objekt der Natur-, nicht der Gesellschafts- und nicht der „Human“wissenschaft.
Die Ursache der Abkehr von Geschichte und Gesellschaft muss man wie immer in der Geschichte und in der Gesellschaft suchen. Zwei Jahrzehnte Kriege, Revolutionen und Krisen zerrten kräftig an der souveränen menschlichen Persönlichkeit. Um Bedeutung auf der Waage der zeitgenössischen Geschichte zu bekommen, muss etwas in nicht weniger als siebenstelligen Zahlen gemessen werden. Die gekränkte Persönlichkeit sucht Revanche. Da sie nicht weiß, wie sie mit der Gesellschaft fertig werden soll, die sie hat gehen lassen, wendet sie ihr den Rücken zu. Unfähig, sich über den historischen Prozess klar zu werden, versucht sie die Geschichte aus ihrem Innenleben heraus zu erklären. So wie der Hinduphilosoph universelle Systeme aufbaute, indem er seinen eigenen Nabel betrachtete.
Die Schule des reinen Psychologismus
Der Einfluss Freuds auf die neue biografische Schule ist unstreitig, aber oberflächlich. Im Wesentlichen neigt die Salon-Psychologie zu belletristischer Verantwortungslosigkeit. Sie gebraucht weniger die Methode Freuds als seine Termini, und weniger für die Analyse als für den literarischen Schmuck.
In den letzten seiner Arbeiten machte Emil Ludwig, der populärste Vertreter dieses Genres, einen neuen Schritt auf dem gewählten Weg: Das Studium des Lebens und der Tätigkeiten der Helden ersetzte er durch Dialoge. Hinter den Antworten des Politiker auf ihm gestellte Fragen, hinter seinem Tonfall und Grimassen entdeckt der Schriftsteller seine tatsächlichen Regungen. Das Gespräch verwandelt sich beinahe in eine Beichte.
In der Technik erinnert der neue Zugang Ludwigs an den Helden an den Zugang Freuds zum Patienten: Es geht darum, die Persönlichkeit mit ihrem eigenen Beistand an die Wasseroberfläche zu bringen. Aber bei der äußerlichen Ähnlichkeit welche Differenz im Wesen! Die Fruchtbarkeit der Arbeiten Freud wird erreicht um den Preis des heroischen Bruchs mit den verschiedenen Konventionen. Der große Psychoanalytiker ist gnadenlos. In der Arbeit ist er einem Chirurgen, beinahe einem Fleischer mit hochgekrempelten Ärmeln ähnlich. Egal was man sagt, aber Diplomatisieren gibt es in seiner Technik nicht ein Hundertstel Prozent. Freud sorgt sich am allerwenigsten um das Prestige des Patienten, um Erwägungen des guten Tons, verschiedenen allgemeinen Betrug und Firlefanz. Gerade deshalb kann er seinen Dialog nicht anders als Auge in Augen führen, ohne Sekretär und Stenografen, hinter mit Filz gepolsterten Türen.
Anders ist die Sache bei Ludwig. Er tritt in ein Gespräch mit Mussolini oder Stalin, um der Welt ein authentisches Porträt ihrer Seele vorzustellen. Aber das Gespräch wird nach einem im Voraus abgestimmten Programm begonnen. Jedes Wort wird stenografiert. Der hochgestellte Patient versteht gut genug, was ihm nutzen und was ihm schaden kann. Der Schriftsteller ist erfahren genug, um rhetorische Kniffe zu erkennen, und höflich genug, um sie nicht zu bemerken. Wenn der unter diesen Bedingungen entfaltete Dialog auch einer Beichte ähnlich sieht, dann einer solchen, welche für einen Tonfilm inszeniert wird.
Emil Ludwig hat jede Veranlassung, zu erklären: „ich verstehe nichts von Politik“. Dies soll bedeuten: ich stehe über der Politik. In der Tat ist das eine bloße Form professioneller Neutralität, oder, wenn man eine Entlehnung bei Freud macht, jene innerliche Zensur, welche dem Psychologen seine politische Funktion erleichtert. So wie der Diplomat nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes eingreift, dessen Regierung ihn akkreditiert, was ihn im Übrigen nicht daran hindert, gelegentlich Verschwörungen zu unterstützen und Terrorakte zu finanzieren.
Ein und derselbe Mensch entfaltet unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit. Wie viele Aristotelese hüten Schweine und wie viel Schweinehirten tragen auf dem Kopf eine Krone! Indessen kann Ludwig sogar den Widerspruch zwischen Bolschewismus und Faschismus ohne Mühe in individuelle Psychologie auflösen. Solch tendenziöse „Neutralität“ findet selbst für den scharfsinnigsten Psychologen nicht ungestraft statt. Losgerissen von der sozialen Bedingtheit der menschlichen Erkenntnis tritt er in das Reich subjektiver Willkür ein. Die „Seele“ hat keine drei Dimensionen und ist deshalb nicht fähig zu Widerstand, der charakteristisch für alle anderen Materialien ist. Der Schriftsteller verliert den Geschmack am Studium von Fakten und Dokumenten. Wozu graue Tatsachen, wenn man sie durch leuchtende Annahmen ersetzen kann?
In der Arbeit über Stalin, wie auch im Buch über Mussolini, bleibt Ludwig „außerhalb der Politik“. Diese hindert seine Arbeiten nicht im Geringsten daran, Werkzeug der Politik zu sein. Wessen? in dem einen Falle – Mussolinis, im anderen – Stalins und seiner Gruppe. Die Natur duldet keine Leere. Wenn Ludwig sich nicht mit Politik beschäftigt, dann folgt daraus nicht, dass sich die Politik nicht mit Ludwig beschäftigt.
Im Moment der Herausgabe meiner Autobiografie, etwa vor drei Jahren, schrieb der jetzt bereits verstorbene offizielle Sowjethistoriker Pokrowski: Man muss unverzüglich auf dieses Buch antworten, junge Gelehrte an die Arbeit setzen, alles zu widerlegen, was widerlegt werden kann usw. Aber die beeindruckende Sache ist: niemand, entschieden niemand, antwortete, nichts wurde ausgewertet, nicht widerlegt, nichts entkräftet, und niemand konnte ein Buch schreiben, für welches sich Leser gefunden hätten.
Wegen der Unmöglichkeit, einen Frontalangriff durchzuführen, musste man zu einem Flankenangriff greifen. Ludwig ist natürlich kein Historiker der Stalinschen Schule. er ist ein unabhängiger psychologischer Porträtist. Aber gerade ein der Politik fremder Schriftsteller kann manchmal geeignet sein, Ideen in Umlauf zu bringen, die keine andere Unterstützung haben außer einem populären Namen. Wir werden jetzt sehen, wie das in der Sache aussieht.
„Sechs Wörter“.
Unter Hinweis auf das Zeugnis Karl Radeks gibt Emil Ludwig mit seinen Worten folgende Episode wider: „Nach Lenins Tod saßen wir, 19 Menschen, im ZK zusammen, mit Anspannung erwartend, was uns der Führer, welcher uns genommen war, aus seinem Sarg sagen würde. Lenins Witwe überreichte uns seinen Brief. Stalin verlas ihn. In der Zeit, in der er mitgeteilt wurde, bewegte sich niemand. Als er zu Trotzki gelangte , stand da: ,seine nichtbolschewistische Vergangenheit war kein Zufall‘. Auf der Stelle unterbrach Trotzki die Lektüre und fragte: ,Was wird da gesagt?‘ Der Satz wurde wiederholt. Dies waren die einzigen Wort, welche in dieser feierlichen Stunde erklangen“.
Bereits als Analytiker, aber nicht als Erzähler macht Ludwig seine eigene Bemerkung: „Ein furchtbarer Moment, in dem Trotzkis Herz stehen bleiben musste: diese Phrase aus sechs Wörtern entschied im Wesentlichen sein Leben“. Wie einfach erweist es sich, den Schlüssel zu historischen Rätseln zu finden! Die pathetischen Zeilen Ludwigs würden wahrscheinlich mir selbst das Geheimnis meines Schicksals enthüllen, wenn … wenn die Schilderung Radek-Ludwigs nicht von Anfang bis Ende falsch wäre: im Kleinen und in Großen, im Gleichgültigen und im Wesentlichen.
Angefangen damit, dass das Testament Lenins nicht zwei Jahr vor seinen Tod geschrieben wurde, wie uns der Autor bestätigt, sondern ein Jahr: es ist datiert auf den 4. Januar 1923. Lenin starb am 21. Januar 1924; sein politisches Leben endete bereits in März 1923 völlig. Ludwig behauptet, das Testament wurde niemals vollständig veröffentlicht. In der Tat wurde es zig Mal in allen Sprachen in der Weltpresse reproduziert. Die erste offizielle Offenlegung des Testaments im Kreml ereignete sich nicht in einer Tagung des ZK, wie Ludwig schreibt, sondern im Ältestenrat des XIII. Parteitags am 22. Mai 1924. Nicht Stalin, sondern Kamenew teilte als in der damaligen Zeit ständiger Vorsitzender der zentralen Parteiinstitutionen das Testament mit. Und, schließlich, die Hauptsache: ich unterbrach die Lektüre nicht mit einem aufgeregten Ausruf, für den es auch keinen Anlass gab: jene Wörter, welche Ludwig nach dem Diktat Radek aufschrieb, gibt es im Text des Testament nicht: sie stellen die reinste Erfindung dar. Wie schwer dies auch zu glauben sein mag, aber es ist so!
Wenn Ludwig sich nicht so geringschätzig zum faktischen Fundament für seine psychologischen Muster verhielte, hätte er sich ohne Mühe den genauen Text des Testaments beschaffen, die erforderlichen Fakten und Daten feststellen und so erbärmliche Fehler vermeiden können, von denen leider seine Arbeit über den Kreml und die Bolschewiki wimmelt.
Das sogenannte Testament wurde in zwei Teilen geschrieben, die durch den Abstand von zehn Tagen getrennt sind: 25. Dezember 1922 und 4. Januar 1923. Das Dokument kannten ursprünglich nur zwei Personen: Die Stenografin M. Woloditschewa, welche es nach dem Diktat notierte, und die Ehefrau Lenins, N. Krupskaja. Solange ein Schatten der Hoffnung auf Genesung Lenins bestehen blieb, behielt Krupskaja das Dokument unter Verschluss. Nach Lenins Tod überreichte sie das Testament kurz vor dem XIII. Parteitag dem Sekretariat des ZK, damit es durch den Parteitag zur Kenntnis der Partei gebracht werde, für welche es bestimmt war.
Zu dieser Zeit war der Parteiapparat halb-offiziell in den Händen der Troika (Sinowjew, Kamenew, Stalin), faktisch aber in den Händen Stalins. Die Troika sprach sich entschieden gegen eine Offenlegung des Testaments auf dem Parteitag aus; das Motiv ist nicht schwer zu verstehen. Krupskaja beharrte darauf. In diesem Stadium fand der Streit hinter den Kulissen statt. Die Frage wurde auf die Versammlung der Ältesten des Parteitags, d.h. der Leiter der Provinzdelegationen, verschoben. Hier erfuhren die Oppositionsmitglieder des Zentralkomitees, unter ihnen auch ich, erstmals vom Testament. Nach einem Beschluss, dass niemand Notizen mache, begann Kamenew mit der Offenlegung des Textes. Die Stimmung der Zuhörerschaft war tatsächlich im höchsten Grad angespannt. aber, soweit man sich das Bild ins Gedächtnis zurückholen kann, würde ich sagen, dass unvergleichlich aufgeregter die waren, welchen der Inhalt des Dokuments bereits bekannt war. Die Troika brachte über eine Marionette den im Voraus mit den Provinzanführern abgestimmten Vorschlag ein: das Dokument wird den einzelnen Delegationen in geschlossenen Sitzungen verkündet; niemand darf wagen, Notizen zu machen; im Plenum des Parteitags darf man nicht auf das Testament verweisen. Mit der für sie charakteristischen sanften Hartnäckigkeit bewies Krupskaja, dass das eine direkte Verletzung des Willen Lenins ist, welchem man das Recht nicht verweigern dürfe, seinen letzten Rat der Partei mitzuteilen. Aber die durch Fraktionsdisziplin verbundenen Mitglied des Ältestenrats blieben unerbittlich: die erdrückende Mehrheit billigte den Vorschlag der Troika.
Um die Bedeutung jene mystischen und mythischen „sechs Wörter“zu erläutern, welche angeblich mein Schicksal entschieden, muss man sich an manche vorausgehenden und Begleitumstände erinnern. Bereits in der Periode der scharfen Auseinandersetzungen aus Anlass des Oktoberumsturz wiesen rechte „alte Bolschewiki“ nicht nur einmal gereizt darauf hin, dass Trotzki kein Bolschewik gewesen war. Lenin erteilte solchen Stimmen eine Abfuhr: Trotzki verstand längst, dass eine Vereinigung mit den Menschewiki unmöglich war – sagte er, zum Beispiel, am 14. November 1917, – „und seit jener Zeit gab es keinen besseren Bolschewik“. Im Mund Lenins bedeuteten diese Worte etwas.
Zwei Jahr später, als er in einem Brief an ausländische Kommunisten die Bedingungen der Entwicklung des Bolschewismus, vergangene Differenzen und Spaltungen erklärte, wies Lenin darauf hin, dass „im entscheidenden Moment, im Moment der Eroberungen der Macht und der Schaffung der Sowjetrepublik, sich der Bolschewismus als einig erwies und in sich alle besten ihm nahe gelegenen Strömungen des sozialistischen Denkens einbezog“ … eine dem Bolschewismus näher gelegene Strömung als die, die ich bis zum Jahre 1917 vertrat, bestand weder in Russland noch im Westen. Meine Vereinigung mit Lenin war durch die Logik der Ideen und die Logik der Ereignisse vorherbestimmt. im entscheidenden Moment bezog der Bolschewismus in seine Reihen „alle besten ihm nahe gelegenen Strömungen ein“ – ich habe keinen Grund, dieser Einschätzung Lenins zu widersprechen.
In der Zeit der zweimonatigen Diskussionen über die Frage der Gewerkschaftsverbände (Winter 1920-21) versuchten Stalin und Sinowjew abermals, Hinweise auf die nichtbolschewistische Vergangenheit Trotzkis in Umlauf zu bringen. Als Antwort darauf erinnerten weniger zurückhaltende Redner des gegnerischen Lagers Sinowjew an sein Verhalten in der Periode des Oktoberumsturzes. Als Lenin in seinem Bett von allen Seite durchdachte, wie sich in der Partei die Beziehungen ohne ihn entfalten würden, musste er sich vorhersagen, dass Stalin und Sinowjew versuchen würden, mein nichtbolschewistische Vergangenheit für die Mobilisierung der neuen Bolschewiki gegen mich auszunutzen. Das Testament versucht gleichzeitig auch vor dieser Gefahr zu warnen, hier ist, was es unmittelbar nach der Charakterisierung Stalins und Trotzkis sagt: „Ich will die persönlichen Eigenschaften der anderen Mitglieder des ZK nicht weiter charakterisieren. Ich erinnere nur daran, dass die Episode mit Sinowjew und Kamenew im Oktober natürlich kein Zufall war, dass man sie ihm aber ebenso wenig als persönliche Schuld anrechnen kann wie Trotzki den Nichtbolschewismus.“
Der Hinweis darauf, dass die Oktoberepisode „kein Zufall war“, verfolgte ein genau bestimmtes Ziel: die Partei zu warnen, dass unter kritischen Umständen Sinowjew und Kamenew erneut einen Mangel an Festigkeit zeigen können. Diese Warnung steht jedoch nicht in irgendeiner Verbindung mit der Bemerkung über Trotzki: In Beziehung auf ihn wird bloß empfohlen, seine nichtbolschewistische Vergangenheit nicht als Beweisgrund ad hominem zu gebrauchen. Ich hatte folglich keinen Anlass, die Frage zu stellen, welche mir Radek zuschreibt. Zugleich fällt auch die Annahme Ludwigs über das „stehen bleibende Herz“. Das Testament stellte sich am allerwenigsten die Aufgabe, mir die leitende Arbeit in der Partei zu erschweren. Es verfolgt, wie wir weiter sehen werden, geradewegs das entgegengesetzte Ziel.
„Die Wechselbeziehung Stalins und Trotzkis“.
Der zwei maschinengeschriebene Seiten einnehmende zentrale Teil des Testaments ist die Charakteristik der Wechselbeziehung Stalins und Trotzkis, „zweier hervorragender Führer des gegenwärtigen ZK“. Lenin merkte die „ hervorragenden Fähigkeiten“ Trotzkis („der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK“) an, wies sofort auf seine negativen Züge hin: „ein Übermaß von Selbstbewusstsein“ und „eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen“. Wie ernsthaft die angegebenen Mängel selbst an sich sind, haben sie – bemerke ich beiläufig – keine Beziehung zur „Unterschätzung der Bauernschaft“, oder zum „Unglauben an die in inneren Kräfte der Revolution“, oder zu anderen Epigonenerdichtungen der letzten Jahre.
Auf der anderen Seite schreibt Lenin: „Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.“ Die Rede ist hier nicht vom politischen Einfluss Stalins, die in jener Periode völlig unbeträchtlich war, sondern von der administrativen Macht, die er in seinen Händen konzentrierte, „nachdem er Generalsekretär geworden ist“. Dies sind sehr genau und streng durchdachte Formeln; wir werden auf sie noch zurückkommen.
Das Testament beharrt auf einer Vergrößerung der Anzahl der Mitglieder des ZK auf 50, sogar auf 100 Menschen, damit es mit seinem kompakten Druck die zentrifugalen Tendenzen im Politbüro eindämmen könne. Die Organisationsvorschläge haben bisher noch das Aussehen neutraler Garantien gegen persönliche Konflikte. Aber bereits nach 10 Tagen scheint das Lenin unzureichend, und er schreibt den Zusatzvorschlag, der auch dem ganzen Dokument seine abschließende Physiognomie verleiht:
Ich „schlage … den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin von seiner Stelle entfernen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder anderen Hinsicht* von . Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er duldsamer, loyaler, zuvorkommender und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft etc. ist.“.
In den Tagen, als Lenin das Testament diktierte, strebte er noch danach, seiner kritischen Einschätzung Stalins einen möglichst zurückhaltenden Ausdruck zu geben. In den nächsten Wochen wurde sein Ton immer schroffer, was weiter ging bis zu seiner letzten Stunde, als seine Stimme für immer verstummen würde. Aber auch im Testament wurde genug gesagt, um die Notwendigkeit des Austauschs des Generalsekretärs zu motivieren: neben Grobheit und Launenhaftigkeit wird Stalin des Mangels an Loyalität beschuldigt. In diesem Punkt verwandelt sich die Charakteristik in eine schwere Anschuldigung.
Wie später klar werden wird, konnte das Testament für Stalin keine Überraschung sein. Aber das milderte nicht die Schläge. Nach dem ersten Einblick in die Dokumente, im Sekretariat, im Kreis der nächsten Mitarbeiter, erlaubte sich Stalin eine Phrase, welche seinen tatsächlichen Gefühlen in Beziehung zum Autor des Testaments vollkommen unverhüllt Ausdruck gab. Die Bedingung, unter welchen die Phrase in weitere Kreise eindrang, und, vor allem, der unverfälschte Charakter der Reaktion selbst, sind in meinen Augen eine unbedingte Garantie für die Echtheit der ganzen Episode. Leider kann das geflügelte Wort nicht in der Presse verbreitet werden.
Der Schlussvorschlag des Testament zeigt unzweideutig auf, woher nach Lenin die Gefahr kam. Stalin absetzen – gerade ihn und nur ihn – bedeutete, ihn vom Apparat loszureißen, ihm die Möglichkeit wegnehmen, mit dem langen Hebelarm Druck auszuüben, ihm seine ganze Macht zu entziehen, die er durch sein Amt in seinen Händen konzentrierte.
Wen aber zum Generalsekretär bestimmen? Eine Person, der die positiven Züge Stalins hätte, jedoch duldsamer, loyaler, weniger launenhaft wäre. Gerade diese Phrase traf Stalin besonders scharf: Lenin erachtete ihn offensichtlich nicht für unersetzlich, denn er schlug vor, eine passendere Person für denselben Posten zu suchen. Indem er der Form halber seinen Rücktritt als Generalsekretär anbot, wiederholte er launisch: „Na ja, ich bin tatsächlich grob … Iljitsch schlug Ihnen vor, einen anderen zu finden, welcher sich von mir nur durch größere Höflichkeit unterscheiden würde. Na ja, versuchen Sie, ihn zu finden“. – „Macht nichts“, – antwortete aus dem Publikum die Stimme eines der damaligen Freunde Stalins, – „uns erschreckt Grobheit nicht, unsere ganze Partei ist grob, proletarisch“. Mittelbar wurde Lenin hier ein Salonverständnis von Höflichkeit zugeschrieben. Die Anschuldigung des Mangels an Loyalität erwähnte weder Stalin noch seine Freunde. Es entbehrt wohl nicht des Interesses, dass die Stimme der Unterstützung von A. P. Smirnow kam, dem damaligen Volkskommissar für Ackerbau, der jetzt als Rechter in Ungnade ist. Politik kennt keine Dankbarkeit.
In der Nähe von mir saß zur Zeit der Offenlegung des Testaments Radek, damals noch Mitglied des ZK. Radek gibt leicht dem Einfluss des Moments nach, entbehrt innerlicher Disziplin, und fing sofort durch das Testament Feuer und beugte sich zu mir mit den Worten: „Jetzt wagen sie nicht, gegen Sie vorzugehen“. Ich antwortete ihm: „Umgekehrt, jetzt werden sie bis zum Ende gehen müssen und überdies, so schnell wie möglich“. Bereits die nächsten Tage des XIII. Parteitags führten vor, dass meine Einschätzung nüchterner war. Die Troika musste möglichen Folgen des Testaments vorbeugen, indem sie die Partei möglichst schnell vor vollendete Tatsachen stellte. Bereits die Offenlegung des Dokuments vor den regionalen Delegation, wo „Fremde“ nicht zugelassen waren, verwandelte sich in einen direkten Kampf gegen mich. Die Ältesten der Delegationen schluckten beim Verlesen Worte hinunter, betonten andere und gaben Kommentare in dem Sinne, dass der Brief von einem schwer Kranken unter dem Einfluss von Ränken und Intrigen geschrieben worden sei. Der Apparat herrschte bereits uneingeschränkt. Schon das eine Faktum, dass die Troika sich entschließen konnte, den Willen Lenins zu missachten, indem sie die Offenlegung des Brief auf dem Parteitag verweigerte, charakterisiert die Zusammensetzung des Parteitags und seine Atmosphäre ausreichend. Das Testament beendete und milderte den inneren Kampf nicht, verlieh ihm umgekehrt ein katastrophales Tempo.
Die Beziehung Lenins zu Stalin
Die Politik ist beharrlich: sie kann auch jene zwingen, ihr zu dienen, welche ihr demonstrativ den Rücken zukehren. Ludwig schreibt: „Stalin folgte Lenin bis zu dessen Tod leidenschaftlich nach“. Wenn diese Phrase bloß das Faktum des riesigen Einflusses Lenins auf seine Schüler, einschließlich auch Stalins, ausdrücken würde, gäbe es keinen Grund, ihr zu entgegnen. aber Ludwig will etwas Größeres sagen. Er will eine außergewöhnliche Nähe gerade dieses bestimmten Schülers zum Lehrer anmerken. Als besonders wertvolles Zeugnis bringt Ludwig das Wort Stalins selbst: „Ich bin nur ein Schüler Lenins, und mein Ziel ist, sein würdiger Schüler zu sein“. Es ist schlecht, wenn ein professioneller Psychologe unkritisch mit banalen Phrasen operiert, deren bedingte Bescheidenheit nicht ein Atom intimen Inhalts in sich einschließt. Ludwig wird hier einfach Wortführer der offiziellen Legende, die in den letzten Jahren geschaffen wurde. Er stellt sich wohl kaum im entferntesten Grade jene Widersprüche vor, in welche seine Gleichgültigkeit gegenüber den Fakten führte. Wenn Stalin tatsächlich „Lenin bis zu dessen Tod leidenschaftlich nachfolgte“, wie erklärt man dann den Fall, dass das letzte Dokument, das Lenin am Vorabend des zweiten Schlaganfalls diktierte, ein kurzer Brief an Stalin war, im Ganzen ein paar Zeilen, über die Beendigung aller persönlichen und kameradschaftlichen Beziehungen mit ihm? Der schroffe Bruch mit einem ihm nahestehenden Mitarbeiter, der einzige seiner Art im Lebens Lenins, muss sehr ernsthafte psychologische Ursachen gehabt haben und wäre zumindest unverständlich in Beziehung auf einen Schüler, welcher „leidenschaftlich“ dem Lehrer bis zum Ende folgte. Jedoch, von Ludwig hören wir nicht ein Wort darüber.
Als der Brief Lenins über den Bruch mit Stalin bereits nach der Auflösung der Troika an den Spitzen der Partei breit bekannt wurde, fanden Stalin und seine nächsten Freunde keinen anderen Ausweg, außer ganz derselben Version vom unzurechnungsfähigen Zustand Lenins. In der Tat wurden das Testament, wie auch der Brief über den Bruch in jenen Monaten (Dezember 1922 – Anfang März 1923) geschrieben, in deren Verlauf Lenin in einer Reihe programmatischer Artikel der Partei die reifsten Früchte seines Denkens gab. Der Bruch mit Stalin kam nicht aus heiterem Himmel; er entsprang aus einer langen Reihe vorheriger Konflikte prinzipiellen und praktischen Charakters, und er beleuchtete tragisch die ganze Schärfe dieser Konflikte.
Lenin schätzte zweifellos bestimmte Züge Stalins sehr. Festigkeit des Charakters, Hartnäckigkeit, Ausdauer, sogar Gnadenlosigkeit und List sind im Krieg, folglich auch in dessen Stab, erforderliche Eigenschaften. Aber Lenin meinte ganz und gar nicht, dass diese Voraussetzungen, selbst in außerordentlichem Maßstabe, für die Führung von Partei und Staat ausreichen. Lenin sah in Stalin einen Revolutionär, aber keinen Politiker großen Stils. Die Bedeutung der Theorie für den politischen Kampf stand in den Augen Lenins sehr hoch. Aber niemand betrachtete Stalin als Theoretiker, und selbst er erhob bis ins Jahr 1924 niemals einen Anspruch auf diesen Rang. Umgekehrt, seine schwache theoretische Ausbildung war im engen Kreis nur zu gut bekannt. Stalin ist mit dem Westen nicht bekannt, kennt nicht eine ausländische Sprache. Bei der Erörterung von Problemen der Weltarbeiterbewegung wurde er niemals herangezogen. Stalin war schließlich – das ist weniger wichtig, aber entbehrt dennoch nicht der Bedeutung – weder Schriftsteller noch Redner im eigentlichen Sinn des Wortes. Seine Artikel wimmeln, ungeachtet aller Behutsamkeit des Autors, nicht nur von theoretischen Ungereimtheiten und Naivitäten, sondern auch von groben Verstößen gegen die russische Sprache. Der Wert Stalins erschöpfte sich in den Augen Lenins beinahe im Bereich von Parteiadministration und Apparatmanövern. aber auch hier machte Lenin wesentliche Vorbehalte, die in der letzten Periode außerordentlich zunahmen.
Zu idealistischem Moralisieren verhielt sich Lenin mit Widerwillen. Aber das stand für ihn überhaupt nicht im Wege, ein Rigorist in revolutionärer Moral zu sein, d.h. jener Verhaltensregeln, welche er für erforderlich für den Erfolg der Revolution und den Aufbau einer neuen Gesellschaft erachtete. Im Rigorismus Lenins, der natürlich und frei aus seiner Natur entfloss, war auch nicht ein Tropfen Pedanterie, Scheinheiligkeit und Prüderie. er verstand Menschen sehr gut und nahm sie so, wie sie sind. Er verband die Mängel der einen mit den Vorzügen, manchmal auch mit den Mängeln der anderen, ohne aufzuhören, wachsam zu beobachten, was dabei herauskam. Er wusste obendrein gut, dass die Zeiten sich ändern und wir zusammen mit ihnen. Die Partei hatte sich aus dem Untergrund in einem Schwung auf den Gipfel der Macht erhoben. Dies schuf für jeden der alten Revolutionäre einen beispiellos schroffen Wandel in der persönlichen Lage und in den Wechselbeziehungen mit anderen Menschen. Das, was Lenin bei Stalin unter diesen neuen Bedingungen entdeckte, merkte er behutsam, aber deutlich im Testament an: Mangel an Loyalität und Neigung zu Machtmissbrauch. Ludwig ging an diesen Anspielungen vorbei. Indessen, gerade in ihnen muss man den Schlüssel zu den Beziehungen zwischen Lenin und Stalin in der letzten Periode sehen.
Lenin war nicht nur Theoretiker und Praktiker der revolutionären Diktatur, sondern auch scharfsinniger Wächter ihrer sittlichen Grundlagen. Jeder Hinweis auf die Ausnutzung von Macht in persönlichen Formen rief fürchterliche Flämmchen in seinen Augen hervor. „Ist das besser als bürgerlicher Parlamentarismus?“ fragte er, um seine heruntergewürgte Empörung klarer zum Ausdruck zu bringen, und fügte nicht selten eine seiner saftigen Bestimmungen an die Adresse des Parlamentarismus hinzu. Indessen nutzte Stalin, je weiter, desto mehr und desto weniger wählerisch, die in der revolutionären Diktatur angelegten Möglichkeiten für die Anwerbung ihm persönlich verpflichteter und ergebener Leute. Als Generalsekretär wurde er Verteiler von Gunst und Gütern. Hier war die Quelle unausbleiblicher Konflikt angelegt. Lenin verlor allmählich das sittliche Vertrauen zu Stalin. Wenn man dieses grundlegende Faktum versteht, dann werden sich alle privaten Episoden der letzten Periode richtig anordnen und werden das tatsächliche, aber nicht das falsche Bild der Beziehung Lenins zu Stalin geben.
Swerdlow und Stalin als Typen des Organisators
Um für das Testament den gebührenden Platz in der Entwicklung der Partei zu finden, muss man einen Schritt zurück machen.
Bis zum Frühjahr 1919 war Swerdlow der Hauptorganisator der Partei. Er hatte nicht den Rang eines Generalsekretärs, der in der damaligen Zeit allgemein noch nicht erfunden war. aber er war es der Sache nach. Swerdlow starb mit 34 Jahren, im März 1919, an der sogenannten spanischen Grippe. Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs mähte auch die Epidemie rechts und links und die Partei legte sich nicht gleich Rechenschaft vom ganzen Gewicht des erlittenen Verlusts ab. In zwei Trauerreden gab Lenin eine Einschätzung Swerdlows, welche ein indirektes, aber sehr grelles Licht auch auf seine spätere Beziehung zu Stalin warf. „In unserer Revolution und in ihren Siegen“ – sagte Lenin, – vermochte Swerdlow vollständiger und reiner als irgend jemand anders das Wesen der proletarischen Revolution zum Ausdruck zu bringen“. Swerdlow war „zuallererst und vor allem Organisator“. Aus einem bescheidenen Untergrundarbeiter, nicht einem Theoretiker und nicht einem Schriftsteller, wuchs in kurzer Frist „ein Organisator, welcher absolut unanfechtbare Autorität errang, der Organisator der ganzen Sowjetmacht in Russland und der nach seinem Wissen einzigartige Organisator der Parteiarbeit“. Lenin waren Übertreibungen des Jubiläums- oder Nachruflobes fremd. Die Einschätzung Swerdlows war aber gleichzeitig die Charakteristik der Aufgaben eines Organisators: „Nur dank dem, dass wir einen solchen Organisator wie Swerdlow hatten, konnten wir im Umfeld des Krieges so arbeiten, dass es bei uns nicht einen Konflikt gab, welcher Aufmerksamkeit verdient hätte“.
So war es auch der Sache nach. In Gesprächen mit Lenin in jenen Zeiten merkten wir nicht nur einmal mit einem beständig frischen Gefühl der Befriedigung eine der Hauptbedingungen unseres Erfolges an: Die Einheit und den Zusammenschluss der regierenden Gruppe. Trotz des furchtbaren Drucks der Ereignisse und Schwierigkeiten, der Neuheit der Fragen und aufkommender Momente scharfer praktischer Differenzen, ging die Arbeit bemerkenswert glatt, einträchtig, ohne Stockung. Wir erinnerten uns in kurzen Anspielungen an Episoden alter Revolution. „Nein, bei uns ist es besser“. „Dies allein sichert uns den Sieg“. Der Zusammenschluss des Zentrums war durch die ganze Geschichte des Bolschewismus vorbereitet und wurde unstreitig durch die Autorität der Führung und, zuallererst, Lenins aufrecht erhalten. Aber in der inneren Mechanik dieser beispiellosen Einmütigkeit war Swerdlow der Hauptmonteur. Sein Geheimnis war einfach: er richtete sich nach den Interessen der Sache, und nur nach ihnen. Niemand von den Parteiarbeitern befürchtete schleichende Intrigen aus dem Parteistab. Die Grundlage der Swerdlowschen Autorität bildete Loyalität.
Aus der gedanklichen Nachprüfung der ganzen Parteispitze zog Lenin in seiner Grabrede die praktische Schlussfolgerung: „Einen solchen Mensch können wir niemals ersetzen, falls wir unter Ersetzen die Möglichkeit verstehen einen Genossen zu finden, der in sich solche Fähigkeiten vereint … jene Arbeit, die er machte, muss jetzt eine ganze Gruppe von Menschen bewältigen, welche in seinen Fußstapfen folgen, sein Sache weiterführen werden“. Und diese Wort waren keine Rhetorik, sondern ein streng sachlicher Vorschlag. Geradeso verfuhren wir auch: anstelle eines einzelnen Sekretärs wurde ein Kollegium aus drei Personen gebildet.
Aus den Worten Lenins ist auch für in der Geschichte der Partei Uneingeweihte offensichtlich, dass zu Lebzeiten Swerdlows Stalin keine leitende Rolle im Apparat der Partei spielte, nicht zur Zeit der Oktoberrevolution, nicht in der Periode der Errichtung der Fundamente und Mauern des Sowjetstaats. In das erste Sekretariat, das Swerdlow ersetzte, war Stalin auch nicht einbezogen.
Als auf dem Х. Parteitag, über zwei Jahr nach Swerdlows Tod, Sinowjew und andere, nicht ohne Hintergedanken über den Kampf gegen mich, die Kandidatur Stalins zum Generalsekretär unterstützten, d.h. ihn juristisch auf den Platz stellten, den Swerdlow faktisch einnahm, drückte Lenin, der im engen Kreis diesem Plan entgegentrat, die Befürchtung aus, dass „dieser Koch nur scharfe Speisen zubereiten wird“. Diese eine Phrase, verglichen mit der Charakteristik Swerdlows, zeigt uns die Unterschiede zwei Typen von Organisatoren: einer, welcher unermüdlich Reibungen milderte, die Arbeit des Kollegiums erleichterte, und der andere, ein Spezialist für scharfe Speisen, der sich nicht fürchtete, sie auch direkt mit Gift zu würzen. Wenn Lenin im März 1921 seinen Widerstand nicht bis zu Ende führte, d.h. nicht offen an den Kongress gegen die Kandidatur Stalins appellierte, dann bloß deshalb, weil der Posten eines Sekretärs, selbst auch eines „Generalsekretärs“, unter den damaligen Bedingungen, bei der Ansammlung von Einfluss und Macht in den Händen des Politbüros, eine streng untergeordnete Bedeutung hatte. Es mag im Übrigen sein, dass Lenin, wie auch manche andere, die Gefahr nicht rechtzeitig richtig einschätzte.
Die Krankheit Lenins
Ende des Jahres 1921 brach Lenins Gesundheit schlagartig ein. Am 7. Dezember fuhr Lenin auf Drängen des Arztes aufs Dorf, und schrieb, wenig geneigt, sich zu beschweren, den Mitgliedern des Politbüro: „Ich reise heute ab. Obwohl ich in den letzten Tagen die Portion der Arbeit vermindert und die Portion der Erholung vergrößert habe, hat sich die Schlaflosigkeit teuflisch gesteigert. Ich fürchte, ich werde weder auf der Parteikonferenz noch auf dem Sowjetkongress einen Bericht machen können“.** Fünf Monate lang quälte er sich, von Ärzten und Freunden zur Hälfte von der Arbeit entfernt, in beständiger Beunruhigung um den Gang der Regierungs- und Parteiangelegenheiten, in beständigem Kampf mit dem ihn erschütternden Leiden. Im Mai suchte ihn der erste Schlaganfall heim. Im Verlauf von zwei Monaten ist Lenin nicht fähig zu sprechen, zu schreiben, sich zu bewegen. Ab Juli erholte er sich langsam. Er verließ das Dorf nicht, trat aber allmählich in einen inhaltlichen Briefwechsel ein. Im Oktober kehrt er in den Kreml zurück und nimmt offiziell die Arbeit wieder auf.
„Es gibt kein Übel ohne Gutes“, – schrieb er für sich im Konspekt für eine zukünftige Rede, – „ich blieb zu lange und schaute ein halbes Jahr ,von der Seite‘ zu“. Lenin will sagen: ich blieb zu lange auf meinem Posten und habe vieles nicht bemerkt; die nachhaltige Pause ermöglichte mir jetzt, vieles mit frischen Augen zu betrachten. Am meisten erschütterte ihn zweifellos der ungeheure Anstieg der bürokratischen Macht, in dessen Mittelpunkt das Organisationsbüro des ZK war.
Die Notwendigkeit, den auf scharfe Speisen spezialisierten Meister auszuwechseln, stellt sich für Lenin sofort nach seiner Rückkehr zur Arbeit. Aber diese personelle Frage hatte sich beträchtlich verwickelt. Lenin konnte nicht übersehen, wie breit sein Fehlen von Stalin für die einseitige Auslese von Menschen ausgenutzt worden war, nicht selten in direktem Widerspruch zu den Interessen der Sache. Der Generalsekretär stützte sich jetzt auf eine zahlreiche Fraktion, die wenn auch nicht immer durch Ideen-, dann in jedem Fall durch feste Bande verbunden war. Die Erneuerung der Spitze des Apparat war bereits unmöglich ohne Vorbereitung eines ernsthaften politischen Angriffs. In diese Periode gehört das „verschwörerische“ Gespräch Lenins mit mir über den gemeinsamen Kampf gegen den Sowjet- und Partei-Bürokratismus, und sein Vorschlag eines „Block“ mit mir gegen das Organisationsbüro, d.h. die in der damaligen Zeit grundlegende Bastion Stalins. Das Faktum des Gesprächs und sein Inhalt fanden bald ihre Widerspiegelung in Dokumenten und bilden eine unstreitige und von niemandem abgestrittene Episode der Geschichte der Partei.
Jedoch, bereits nach einigen Wochen brach im Gesundheitszustand Lenins eine neue Verschlechterung herein. Nicht nur ständige Arbeit, sondern auch sachliche Gespräche mit Genossen wurden ihm vom Arzt erneut verboten. Er durchdachte fernere Maßnahmen des Kampfes allein, in seinen vier Wänden. Zur Kontrolle der geheimen Tätigkeit des Sekretariat arbeitete Lenin allgemeine Maßnahmen organisatorischen Charakters aus. So kam der Plan der Schaffung eines höchst angesehenen Parteizentrums zustande, in Gestalt der Kontrollkommission, aus zuverlässigen und bewährten Mitglied der Partei, hierarchisch vollkommen unabhängig, d.h. nicht aus Tschinowniks, nicht aus Administratoren, und zur gleichen Zeit mit dem Recht ausgestattet alle Tschinowniks ohne Ausnahme, nicht nur der Partei, einschließlich auch der Mitglieder des ZK, sondern, über die Vermittlung der Arbeiter- und Bauerninspektion, auch die „Würdenträger“ des Staats für Verletzung der Gesetzlichkeit, des Partei- und Sowjetdemokratismus und der Regeln der revolutionären Moral zur Verantwortung zu ziehen.
Am 23. Januar sandte Lenin über Krupskaja für den Druck in der „Prawda“ einen Artikel zum Thema der von ihm entworfenen Reorganisation der zentralen Institutionen. Da Lenin gleichzeitig sowohl verräterische Schläge von Seiten der Krankheit als auch nicht weniger verräterische Widerstände des Sekretariats fürchtete, forderte er, dass der Artikel in der „Prawda“ unverzüglich abgedruckt werde: das bedeutete einen direkten Appell an die Partei. Stalin verweigerte dies Krupskaja, indem er sich auf die Notwendigkeit berief, die Frage im Politbüro zu besprechen. Formell ging die Sache um einen Aufschub um nur einen Tag. Aber diese Prozedur der Anrufung des Politbüros kündigte nichts Gutes an. Im Auftrag Lenins wandte sich Krupskaja um Beistand an mich. Ich verlangte die unverzügliche Einberufung des Politbüros. Die Befürchtungen Lenins bestätigten sich vollständig: alle Mitglieder und Kandidaten, die in der Sitzung zugegen war, Stalin, Molotow, Kuibyschew, Rykow, Kalinin, Bucharin, waren nicht nur gegen die von Lenin vorgeschlagenen Reformen, sondern auch gegen den Druck seines Artikels. Zum Trost für den Kranken, für welchen durch jede große Unruhe eine Katastrophe drohte, schlug Kuibyschew, das zukünftige Oberhaupt der Zentralen Kontrollkommission, vor, eine besondere Nummer der „Prawda“ mit dem Artikel Lenins in einem Exemplar zu drucken. So „leidenschaftlich“ folgten diese Leute ihrem Lehrer! Ich wies mit Empörung den Vorschlag zurück, Lenin zu mystifizieren, sprach mich im Grundsatz für die von ihm vorgeschlagene Reform aus und verlangte den unverzüglichen Druck des Artikel. Mich unterstützte der um eine Stunde verspätete Kamenew. Die Stimmung der Mehrheit wurde schließlich durch den Beweisgrund gekippt, dass Lenin den Artikel ohnehin in Umlauf bringen würde, und er dann umso schärfer gegen das Politbüro gerichtet wäre. Der Artikel erschien in der „Prawda“ am anderen Morgen, am 25. Januar. Auch diese Episode fand in ihrer Zeit eine Widerspiegelung in offiziellen Dokumenten, auf deren Grundlage sie hier auch dargelegt wird.
Ich erachte es für notwendig, allgemein zu unterstreichen, dass, so wie ich nicht zur Schule des reinen Psychologismus gehöre, ich so auch gewohnt bin, feststehenden Fakten mehr zu vertrauen als ihrer emotionalen Widerspiegelung in der Erinnerung, dass die ganze Darstellung abzüglich besonders bezeichneter Episoden von mir auf der Grundlage von Dokumenten meines Archivs, mit sorgfältiger Nachprüfung von Daten, Zeugnissen und ganz allgemein von Fakten erfolgt.
Differenzen zwischen Lenin und Stalin
Die Organisationspolitik war nicht die einzige Arena des Kampfes Lenins gegen Stalin. Das ohne Lenin und ohne mich tagende Novemberplenum des ZK (1922) brachte überraschend radikale Veränderungen im System des Außenhandels ein, die die Grundlage des Staatsmonopols untergruben. Im Gespräch mit Krassin, dem damaligen Volkskommissar für Außenhandels, sprach ich über den ZK-Beschluss ungefähr so: „Sie haben den Boden im Fass noch nicht ausgeschlagen, aber bohrten einige Löcher in es“. Lenin erfuhr davon. Am 13. Dezember schrieb er mir: „Ich möchte Sie sehr ersuchen, auf dem bevorstehenden Plenum die Verteidigung unserer gemeinsamen Sichtweise über die bedingungslose Notwendigkeit der Beibehaltung und Befestigung des Monopols zu übernehmen … Das vorhergehende Plenum nahm in der Beziehung eine völlig im Gegensatz zum Außenhandelsmonopol gehende Entscheidung an“. Lenin ließ in der Frage keine Zugeständnisse zu und beharrte darauf, dass ich gegen das ZK an die Partei und den Parteitag appelliere. Der Schlag war hauptsächlich gegen Stalin als Generalsekretär gerichtet, der verantwortlich für das Aufwerfen von Fragen in den Plena des Zentralkomitees war. Bis zum offenen Kampf gelangte die Sache dieses Mal jedoch nicht: Stalin witterte die Gefahr und wich ohne Kampf zurück; mit ihm zusammen auch andere. Im Dezemberplenum wurde die Novemberentscheidung aufgehoben. „Wie es scheint, ist es gelungen, die Position ohne einen einzigen Schuss“, – schrieb mir scherzhaft Lenin am 21. Dezember, – „durch eine einfache Manöverbewegung einzunehmen“.
Viel schärfer erwiesen sich die Differenzen auf dem Gebiet der nationalen Politik. Im Herbst des Jahres 1922 wurde die Umwandlung des Sowjetstaats in einen föderativen Bund nationaler Republiken vorbereitet. Lenin erachtete es für erforderlich, den Bedürfnissen und Ansprüchen jener Nationen so weit wie möglich entgegenzukommen, welche lange unter Unterdrückung lebten und sich von deren Auswirkungen bei weitem noch nicht sich erholt hatten. Umgekehrt betrieb Stalin, der die Vorbereitungsarbeit als Volkskommissar für Nationalitätenfragen leitete, auch in diesem Gebiet eine Politik des bürokratischen Zentralismus. Der gesundende Lenin polemisierte aus dem Dorf bei Moskau gegen Stalin in an das Politbüro adressierten Briefen. In seinen ersten Bemerkungen zum Stalinschen Entwurf einer föderativen Vereinigung ist Lenin überaus weich und zurückhaltend. Er hoffte in diesen Tagen – Ende September des Jahres 1922 – noch, die Frage im Politbüro ohne offenen Konflikt beizulegen. Die Antwort Stalins, umgekehrt, war von einer merklichen Gereiztheit durchdrungen. Er gibt Lenin den Vorwurf der „Hast“ zurück und schließt daran die Anschuldigung des nationalen „Liberalismus“ an, d.h. der Beschirmung von Randgebiet-Nationalismus. Dieser politisch überaus interessante Briefwechsel wird bisher vor der Partei verborgen.
Die bürokratische nationale Politik hatte inzwischen erreicht, in Georgien eine schroffe Opposition hervorzurufen, die die Blüte des georgischen Bolschewismus gegen Stalin und seine rechte Hand, Ordschonikidse, vereinigte. Über Krupskaja trat Lenin mit den Führern der georgischen Opposition (Mdiwani, Macharadse und anderen) gegen die Fraktion Stalins, Ordschonikidses und Dzierżyńskis in heimliche Verbindung. Der Kampf in den Randgebieten war zu scharf, und Stalin zu sehr mit bestimmten Gruppierungen verbunden, um stillschweigend zurückzuweichen, wie in der Frage des Außenhandelsmonopols. Im Verlauf der nächsten Wochen überzeugt sich Lenin abschließend, dass er an die Partei werde appellieren müssen. Ende Dezember diktiert er einen umfangreichen Brief zur nationalen Frage, der seine Rede auf dem Parteitag ersetzen müsste, falls die Krankheit ihn hindern würde, aufzutreten.
Lenin erhebt gegen Stalin die Anschuldigung administrativer Leidenschaft und Erbitterung gegen den scheinbaren Nationalismus. „Erbitterung“ – schreibt er vielsagend – „spielt allgemein in der Politik gewöhnlich eine schlimm Rolle“. Den Kampf gegen berechtigte, sogar gegen zunächst übertriebene Forderungen früher unterdrückter Nationen qualifiziert Lenin als Ausprägung großrussischen Bürokratismus. Er nennt erstmals seinen Gegner beim Namen. „Politisch verantwortlich für diese ganze wahrlich großrussisch-nationalistische Kampagne müssen natürlich Stalin und Dzierżyński gemacht werden“. Dass der Großrusse Lenin den Georgier Dschugaschwili und den Polen Dzierżyński des großrussischen Nationalismus anklagt, kann paradox erscheinen. Aber es handelt sich hier überhaupt nicht um nationale Gefühle und Vorlieben, sondern um zwei Systeme der Politik, deren Unterschied sich in allen Bereichen offenbart , darunter auch im nationalen. Rakowski missbilligte gnadenlos des Methoden der Stalinschen Fraktion und schrieb einige Jahre später: „An die nationale Frage, wie auch an jede beliebige andere Fragen, tritt die Bürokratie mit der Sichtweise der Bequemlichkeit der Verwaltung und Regulierung heran“. Besser kann man das nicht sagen.
Die verbalen Zugeständnisse Stalins beruhigten Lenin nicht im Geringsten, sondern verschärften, umgekehrt, sein Misstrauen. „Stalin wird einen faulen Kompromiss eingehen“, – mahnte mich Lenin über seine Sekretärinnen, – „aber danach betrügen“ Gerade dies war der Weg Stalins. Er war bereit, auf dem nächsten Parteitag jede beliebige theoretische Formel der nationalen Politik anzunehmen, unter der Bedingung, dass sie seine Fraktionsunterstützung im Zentrum und in den Randgebieten nicht schwächte. Es stimmt, Stalin hatte ausreichend Grund zu befürchten, dass Lenin seine Pläne völlig durchschaute. Aber auf der anderen Seite verschlimmerte sich die Lage des Kranken immer mehr. Stalin bezieht diesen wesentlichen Faktor kalt in seine Berechnungen ein. Die praktische Politik des Generalsekretariat wurde umso entschlossener, je schlechter sich die Gesundheit Lenins darstellte. Stalin versuchte, den bedrohlichen Kontrolleur von allen Informationen zu isolieren, welche ihm ein Werkzeug gegen das Sekretariat und seine Alliierten hätte geben können. Die Politik der Blockade wurde natürlich gegen die Personen gelenkt, die Lenin am nächsten standen. Krupskaja tat, was sie konnte, um den Kranken von Kontakt mit den feindseligen Machinationen des Sekretariats abzuschirmen. Aber Lenin konnte aus zufälligen Symptomen das Ganze erraten. Er gab sich unfehlbar Rechenschaft über die Handlungen Stalins, seine Motive und Berechnungen. Es ist nicht schwer zu verstehen, welche Reaktionen sie in seinem Bewusstsein hervorriefen. Es sei daran erinnert, dass in diesem Moment auf dem Schreibtisch Lenins, außer dem Testament, das auf der Absetzung Stalins beharrte, bereits Dokumente zur nationalen Frage lagen, welche die Sekretärinnen Lenins, Fotijewa und Gljasser, welche die Stimmung dessen, mit dem sie zusammenarbeiteten, behutsam widerspiegelten, eine „Bombe gegen Stalin“ nannten.
Ein halbes Jahr spitzte sich der Kampf zu
Seinen Gedanken über die Rolle der ZKK als Wächterin von Parteirecht und -einheit entwickelte Lenin in Verbindung mit der Frage der Reorganisation der Arbeiter- und Bauerninspektion (Rabkrin), an deren Spitze im Verlauf einiger vorangegangener Jahre Stalin stand. Am 4. März erschien in der „Prawda“ der in der Geschichte der Partei berühmte Artikel „Lieber weniger, aber besser“. Die Arbeit wurde in einigen Anläufen geschrieben. Lenin liebte und konnte das Diktieren nicht. Der Artikel gefiel ihm lange nicht. Am 2. März hörte er, schließlich, das Vorlesen des Artikels mit Befriedigung an: „Jetzt scheint es zu gehen“ … Die Reform der leitenden Parteiinstitutionen zieht der Artikel in eine breite nationale und internationale politische Perspektive ein. An dieser Seite der Angelegenheit dürfen wir uns hier jedoch nicht aufhalten. Dafür ist jene öffentliche Einschätzung in höchstem Grade bedeutsam für unser Thema, die Lenin von der Arbeiter- und Bauerninspektion gab: „Sagen wir es geradeheraus. Das Volkskommissariat der Rabkrin besitzt jetzt keinen Schatten von Autorität. Alle wissen darüber, dass es eine schlechter geleitete Institution als die Institution unserer Rabkrin nicht gibt, und dass unter den gegenwärtigen Bedingungen von diesem Volkskommissariats nichts zu erwarten ist“.
Dieses in seiner Schärfe ungewöhnliche Urteil des Regierungsoberhaupts in der Presse über eine der wichtigsten Staatsinstitutionen war geradewegs und unmittelbar auf Stalin als Organisator und Leiter der Inspektion gerichtet. Die Ursache, muss man hoffen, ist jetzt klar. Die Inspektion sollte hauptsächlich der Gegenwehr gegen bürokratische Entstellungen der revolutionären Diktatur dienen. Diese verantwortliche Funktion konnte mit Erfolg nur unter der Bedingung der vollen Loyalität der Führung erfüllt werden. Aber gerade Loyalität fehlte Stalin. Er verwandelte die Inspektion, wie auch das Parteisekretariat, in ein Werkzeug von Apparatränken, der Schirmherrschaft über die „Seinen“ und Verfolgung von Gegnern. In dem Artikel „Lieber weniger, aber besser“ weist Lenin offen darauf hin, dass die von ihm vorgeschlagene Reform der Inspektion, an deren Spitze bis kurz zuvor Zjurupa gestanden hatte, auf die Gegenwehr „unserer ganzen Bürokratie, sowohl der Sowjet- als auch der Parteibürokratie“ stoßen müsste. „in Klammern sei gesagt“, – fügt er vielsagend hinzu, – „findet bei uns Bürokratie nicht nur in Sowjet-, sondern auch in Parteiinstitutionen statt“. Dies war ein durchaus gewollter Schlag gegen Stalin als Generalsekretär.
Auf diese Weise ist es keine Übertreibung zu sagen, dass das letzte halbe Jahr des politischen Lebens Lenins, zwischen Genesung und zweiter Erkrankung, von einem sich ständig zuspitzenden Kampf gegen Stalin ausgefüllt war. Erinnern wir uns noch einmal an die Hauptdaten. Im September eröffnet Lenin das Feuer gegen die nationale Politik Stalins. In der ersten Dezemberhälfte tritt er gegen Stalin in der Frage des Außenhandelsmonopols auf. Am 25. Dezember schreibt er den ersten Teil des Testaments. Am 30.-31. Dezember – seinen Brief in der nationalen Frage (die „Bombe“). Am 4. Januar macht er das Postskriptum zum Testament über die Notwendigkeit, Stalin vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen. Am 23. Januar fährt er gegen Stalin eine schwere Batterie auf: den Entwurf für die Kontrollkommission. Im Artikel vom 2. März fügt er Stalin als Organisator der Inspektion und Generalsekretär einen Doppelschlag zu. Am 5, März schreibt er mir aus Anlass seines Memorandums zur nationalen Frage: „wenn Sie zustimmen, ihre Verteidigung auf sich zu nehmen, dann könnte ich gelassen sein“. An demselben Tag solidarisierte er sich erstmals offen mit den unversöhnlichen georgischen Gegnern Stalin, benachrichtigte sie in besonderen Notizen darüber, dass er „mit Leib und Seele“ ihre Sache verfolgt und für sie Dokumente gegen Stalin-Ordschonikidse-Dzierżyński vorbereitet. „mit Leib und Seele“ – so einem Ausdruck begegnet man bei Lenin nicht häufig.
„Diese (nationale) Frage beunruhigte ihn außerordentlich“, – bezeugt die Sekretärin Lenins Fotijewa, – „und er bereitete sich vor, auf dem Parteitag aufzutreten“. Aber einen Monat vor dem Parteitag wurde Lenin abschließend niedergeworfen, so konnte er auch hinsichtlich der Artikel keine Verfügung treffen. Stalin fiel ein Berg von den Schultern. Im Seniorenkonvent des XII. Parteitags war er bereits entschlossen im für ihn charakteristischen Stil, über Lenins Brief als über ein Dokument eines kranken Mensch zu reden, der sich unter „Weiber“einfluss (d.h. dem Krupskajas und zweier Sekretärinnen) befand. Unter dem Vorwand der Notwendigkeit den tatsächlichen Willen Lenins zu klären, wurde entschieden, den Brief versteckt zu halten. So bleibt es bis zum heutigen Tag.
Die weiter oben aufgezählten dramatischen Episoden, so klar sie in sich selbst auch sind, vermitteln nicht im entferntesten Grad jene Leidenschaftlichkeit, mit welcher Lenin die Parteiereignisse in den letzten Monaten seines aktiven Lebens durchlebte: in Briefen und Artikeln erlegte er sich die gewöhnliche, d.h. sehr strenge Zensur auf. Die Natur seiner Krankheit kannte Lenin nach der Erfahrung des ersten Schlags genügend gut. Nach ihm, als er im Oktober des Jahres 1922 an die Arbeit zurückkehrte, hörten die Kapillargefäße des Marks nicht auf, ihn durch kaum bemerkbare, aber unheilverkündende und immer häufigere Stöße, an einen offensichtlich drohenden Rückfall zu erinnern. Lenin schätzte die eigene Lage nüchtern ein, ungeachtet der beruhigenden Beteuerungen der Ärzte. Anfang März, als er sich erneut von der Arbeit entfernen musste, zumindest von Tagungen, Verabredungen und Telefonbesprechungen, nahm er in in sein Krankenzimmer eine Reihe von bedrückenden Beobachtungen und Befürchtungen mit. Der bürokratische Apparat wurde ein eigenständiger Faktor der großen Politik, im geheimen Fraktionsstab Stalins im ZK-Sekretariat. Im nationalen Bereich, wo Lenin besonderes Zartgefühl forderte, traten die Reißzähne des Reichszentralismus besonders deutlich hervor. Ideen und Prinzipien der Revolution wurden im Interesse geheimer Kombinationen gebeugt. Die Autorität der Diktatur diente immer häufiger als Deckung für das Tschinownikkommando.
Lenin empfand das Herannahen politischer Krisen scharf und fürchtete, dass der Apparat die Partei erwürge. Die Politik Stalins wurde für Lenins in der letzten Periode seines Lebens die Verkörperung des sein Haupt erhebenden Bürokratismus. Der Kranke muss nicht nur einmal bei dem Gedanken erbebt sein, dass er es nicht rechtzeitig schaffen werde, jene Reform des Apparats zu erreichen, über welche er vor der zweiten Erkrankung Verhandlungen mit mir führte. Die furchtbare Gefahr bedrohte, schien ihm, die Sache seines ganzen Lebens.
Aber Stalin? Stalin war zu weit gegangen, um zurückzuweichen, wurde von seiner eigenen Fraktion angeschoben, ängstigte sich vor jenem konzentrischen Angriff, dessen Fäden im Bett des fürchterlichen Gegners zusammenliefen, und ging bereits darauf los, offen Anhänger durch Versetzung auf Partei- und Sowjetposten zu rekrutieren, jene zu terrorisieren, welche sich über Krupskaja an Lenin gewandt hatten und streute immer beharrlicher Gerüchte darüber, dass Lenin bereits nicht mehr für seine Handlungen verantwortlich war. Dies war die Atmosphäre, aus welcher der Brief Lenins über den vollen Bruch mit Stalin erwuchs. Nein, er kam nicht aus heiterem Himmel. Er bedeutete bloß, dass der Kelch der Geduld übervoll war. Nicht nur chronologisch, sondern auch politisch und moralisch zog er einen Schlussstrich unter die Beziehung Lenins zu Stalin.
Ist es erstaunlich, dass Ludwig, der fromm die offizielle Version über die Treue des Schülers zum Lehrer „bis zu dessen Tod“ wiederholt, nicht mit einem Wort den finalen Brief erwähnt, wie im Übrigen auch alle anderen Umstände, welche sich nicht mit der derzeitigen Kremllegende aussöhnen lassen? Über das Faktum des Briefs muss Ludwig in jedem Fall zumindest aus meiner Autobiografie wissen, mit welcher er seinerzeit vertraut wurde, weil er über sie eine wohlwollende Besprechung machte. Vielleicht zweifelt Ludwig die Richtigkeit meiner Aussage an? Aber sowohl das Faktum des Briefs als auch sein Inhalt wurden niemals und von niemand bestritten. Außerdem sind sie im stenografischen Protokoll des ZK ausgewiesen. Auf dem Juliplenum des Jahres 1926 sagte Sinowjew: „Anfang des Jahres 1923 brach Wladimir Iljitsch in einem persönlichen Brief an den Genossen Stalin mit ihm die kameradschaftlichen Beziehungen ab“ (Stenografischer Bericht des Plenums, Nummer 4, S. 32). Auch andere Redner, unter ihnen М. I. Uljanowa, die Schwester Lenins, sprachen über den Brief als über ein im Kreis des ZK allgemein bekanntes Faktum. In jenen Tagen konnte es nicht einmal Stalin in den Kopf kommen diese Aussage zu bestreiten. Er hat das im Übrigen soweit ich weiß in direkter Form auch später nicht zu tun versucht .
Es stimmt, die offizielle Historiografie unternahm in den letzten Jahren wahrlich grandiose Bemühungen, um im menschlichen Gedächtnis dieses ganze Kapitel der Geschichte insgesamt zu vernichten. In Beziehung auf den Komsomol erreichten diese Bemühungen gewisse Resultate. Aber Forscher, schiene mir, gibt es, um Legenden zu zerstören und der Wirklichkeit in ihrem Recht wiederherzustellen. Oder verhält sich das mit Psychologen nicht so?
Die Hypothese vom „Duumvirat“
Weiter oben haben wir die Meilensteine des letzten Kampfes zwischen Lenin und Stalin skizziert. In allen seinen Etappen suchte Lenin meine Unterstützung und fand sie. Aus Reden, Artikeln und Briefen Lenins könnte man ohne Mühe zig Zeugnisse dafür bringen, dass er, nach unserer kurzzeitigen Differenz in der Frage der Gewerkschaften. im Verlauf der Jahre 1921, 1922 und Anfang 1923 Jahre keine Gelegenheit ausließ, um in offener Form seine Solidarität mit mir zu unterstreichen, diese oder jene meiner Erklärungen zu zitieren, diesen der jenen meiner Schritte zu befürworten. Man muss denken, dass es dabei nicht persönliche, sondern politische Motive gab. Was ihn jedoch in diesen seinen letzten Monaten beunruhigen und verärgern konnte, das war meine zu wenig aktive Unterstützung seiner Kriegmaßnahmen gegen Stalin. Ja, dies ist das Paradox der Lage! Lenin hatte für die Zukunft eine Spaltung der Partei entlang der Linie zwischen Stalin und Trotzki gefürchtet, forderte aber für den gegebenen Moment von mir einen energischeren Kampf gegen Stalin. Der Widerspruch ist hier jedoch nur äußerlich. Gerade im Interesse der Stabilität der Parteiführung in der Zukunft wollte Lenin jetzt Stalin scharf verurteilen und ihn entwaffnen. Mich aber bremste die Befürchtung, dass jeder scharfe Konflikt in der regierenden Gruppe zu der Zeit, als Lenin mit dem Tode kämpfte, von der Partei als Würfeln um Lenins Gewand hätte verstanden werden können. Ich berühre hier gar nicht die Frage, ob in dem Fall meine Zurückhaltung richtig war, wie auch nicht die breitere Frage, ob man in der damaligen Zeit die nahende Gefahr durch organisatorische Reformen und personelle Umstellungen hätte abwenden können. Aber wie weit ist dennoch die tatsächliche Anordnung der handelnden Personen von jenem Bild entfernt, das uns der populäre deutsche Schriftsteller gibt, der nur zu leicht den Schlüssel zu allen Rätseln aufnimmt!
Wir hörten von ihm, dass das Testament „Trotzkis Schicksal entschied“, d.h. offensichtlich als Ursache dafür diente, dass Trotzki die Macht einbüßte. Nach der anderen Version Ludwigs, die er daneben darlegt, ohne auch nur zu versuchen sie mit der ersten zu versöhnen, wollte Lenin ein „Duumvirat Trotzki–Stalin“. Dieser letzte Gedanke, der auch zweifellos von Radek inspiriert ist, besagt, wie man es nicht besser bezeugen kann, dass sich sogar jetzt, sogar in der nächsten Umgebung Stalins, sogar bei der tendenziösen Bearbeitung eines für ein Gespräch eingeladenen ausländischen Schriftsteller niemand traut, zu behaupten, dass Lenin in Stalin seinen Nachfolger gesehen habe. Um nicht in einen zu groben Widerspruch mit dem Text des Testaments und einer Reihe anderer Dokumente zu geraten, muss man im Rückblick die Idee eines Duumvirats aufstellen.
Aber wie versöhnt man diese neue Version mit dem Rat Lenins: den Generalsekretär austauschen? Das hätte wirklich bedeutet, Stalin alle Werkzeuge seines Einflusses zu entziehen. So behandelt man einen Kandidaten für einen Duumvirn nicht. Nein, auch die zweite, behutsamere Hypothese Radek-Ludwigs findet keine Stütze im Text des Testaments. Das Ziel des Dokuments wird von seinem Autor bestimmt: die Stabilität des ZK sicherzustellen. Den Weg dazu suchte Lenin nicht in künstlichen Kombinationen eines Duumvirats, sondern in der Stärkung der kollektiven Kontrolle über die Tätigkeit der Führer. Wie er sich dabei den relativen Einfluss der einzelnen Personen in der kollektiven Führung vorstellen, darüber kann der Leser diese oder jene Schlussfolgerung auf der Grundlage der weiter oben gebrachten Zitate aus dem Testament ziehen. Man darf aber nur nicht aus dem Blick verlieren, dass das Testament nicht das letzte Wort Lenins war, und dass seine Beziehung zu Stalin sich umso schärfеr darstellte, je mehr er das Herannahen der Auflösung fühlte.
Ludwig hätte keine so kapitalen Fehler in der Einschätzung der Bedeutung und des Geistes des Testaments gemacht, wenn er sich für dessen ferneres Schicksal interessiert hätte. Das von Stalin und seiner Gruppe vor der Partei verborgene Testament wurde nur von Oppositionellen nachgedruckt und neu aufgelegt, selbstverständlich geheim. Hunderte meiner Freunde und Anhänger wurden arretiert und verbannt für das Kopieren und Verbreiten dieser zwei Seiten. Am 7. November 1927, am zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, nahmen Moskauer Oppositionelle an der Jubiläumsdemonstration mit Plakaten „Erfüllt das Testament Lenins“ teil. Spezielle Abteilungen von Stalinisten drangen gewaltsam in die Kolonnen der Demonstrierenden ein und rissen das verbrecherische Plakat heraus. Zwei Jahr später, zur Zeit mein Verbannung ins Ausland, wurde sogar die Version eines von „Trotzkisten“ am 7. November 1927 vorbereitеten Aufstand geschaffen: Der Aufruf „Erfüllt das Testament Lenins“ wurde von der Stalinschen Fraktion als Aufruf zum Umsturz ausgelegt! Auch jetzt ist das Testament in allen Sektionen der Komintern verboten. Umgekehrt, die linke Opposition in allen Ländern druckt das Testament bei jedem passenden Anlass nach. Politisch erschöpfen diese Fakten die Frage.
Radek als Quelle
Woher aber rührte ungeachtet dessen die fantastische Schilderung davon, dass ich bei der Offenlegung des Testaments, genau, bei „sechs Wörtern“, welche im Testament nicht stehen, vom Platz mit der Frage aufsprang: „Was wird da gesagt?“ Dazu kann ich nur eine hypothetische Erklärung anbieten. Inwiefern sie glaubhaft ist, lasse ich den Leser urteilen.
Radek gehört zu den professionellen Witzbolden und Anekdotenerzählern. Damit will ich nicht sagen, dass er keine anderen Qualitäten hat. Aber es reicht aus, dass auf dem VII. Parteitag Partei, am 8. März 1918 Lenin, der allgemein sehr zurückhaltend in Äußerungen über Menschen war, sagen konnte: „Ich komme auf den Genossen Radek zurück, und ich will hier anmerken, dass ihm gelang unbeabsichtigt eine ernsthafte Formulierung auszusprechen…“ Und später abermals: „Dieses Mal geschah es, dass es bei Radek eine vollkommen ernsthafte Formulierung gab“… [Laut Protokoll bezog sich beides aber auf Rjasanow, nicht auf Radek. Leute, welche bloß ausnahmsweise ernsthaft sprechen, haben eine organische Neigung, die Wirklichkeit in Ordnung zu bringen, weil sie im Rohzustand nicht immer tauglich für Anekdoten ist. Meine persönliche Erfahrung lehrte mich, mich zu Zeugenaussagen Radeks mit äußerster Behutsamkeit zu verhalten: gewöhnlich erzählt er nicht Ereignisse, sondern macht aus ihrem Anlass ein geistreiches Feuilleton. Jede Kunst, darunter auch die Anekdotenkunst, strebt zur Synthese, weshalb Radek dazu neigt verschiedene Fakten oder leuchtende Züge verschiedener Episoden miteinander zu verknüpfen, auch wenn sie durch Zeit und Raum getrennt sind. Hier gibt es keinen boshaften Willen. Dies ist die Stimme der Berufung.
So ist es offensichtlich auch dieses Mal geschehen. Radek kombinierte nach allen Merkmalen die Tagung des Ältestenrats des XIII. Parteitags mit der Tagung des ZK-Plenum im Jahre 1926, ungeachtet dessen, dass zwischen dem einen und dem anderen eine Zeitspanne von mehr als zwei Jahren vergangen war. Im Plenum wurden gleichfalls geheime Manuskripte mitgeteilt, darunter auch das Testament. Dieses Mal verlas sie tatsächlich Stalin, und nicht Kamenew, welcher bereits in meiner Nähe auf der Oppositionsbank saß. Zu der Offenlegung kam es, weil in der Partei in jener Zeit bereits Kopien des Testaments, des nationalen Brief Lenins und anderer Dokumente ziemlich weit verbreitet waren, die dreifach unter Verschluss gehalten wurden. Der Parteiapparat war nervös, wünschte, sich zu vergewissern, was Lenin in dieser Angelegenheit sagte. „Die Opposition kennt es, aber wir kennen es nicht“. Nach nachhaltigem Widerstand sah sich Stalin gezwungen, die verbotenen Dokumente in der ZK-Tagung mitzuteilen: auf diese Weise gelangten sie ins Stenogramm, welches in geheimen Heften für die Spitzen des Parteiapparat gedruckt wurde.
Bei der Offenlegung des Testaments gab es auch dieses Mal keine Ausrufe, weil den Mitgliedern des ZK das Dokument bereits längst und gut bekannt war. Aber ich unterbrach Stalin bei der Offenlegung des Briefwechsels zur nationalen Frage tatsächlich. Die Episode selbst ist an sich nicht wirklich bedeutsam, aber sie kann für Psychologen für irgendeine Schlussfolgerung verwendbar sein.
Lenin war überaus ökonomisch in seinen literarischen Mitteln und Methoden. Im geschäftlichen Briefwechsel mit den nächsten Mitarbeitern verwendete er eine telegrafische Sprache. In der Anrede stand immer der Familienname des Adressaten mit einem „T“ (Genosse), in der Unterschrift – Lenin. Komplizierte Erläuterungen ersetzten doppelte oder dreifache Unterstreichungen einzelner Wörter, zusätzlich Ausrufezeichen usw. Wir alle kannten die Besonderheiten der Leninschen Manier gut, und deshalb zog sogar eine unbedeutende Abweichung vom gewöhnlichen Lakonismus Aufmerksamkeit auf sich.
Bei Versendung seines Briefs zur nationalen Frage schrieb Lenin mir am 5. März:
„Verehrter Genosse Trotzki. Ich würde Sie sehr ersuchen, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit im ZK der Partei zu übernehmen. Die Angelegenheit wird jetzt von Stalin und Dzierżyński ,verfolgt‘, und ich kann mich auf ihre Unvoreingenommenheit nicht verlassen. Sogar ganz im Gegenteil. Wenn Sie zustimmen, ihre Verteidigung auf sich zu nehmen, dann könnte ich gelassen sein. wenn Sie warum auch immer nicht einverstanden sein werden, dann geben Sie mir das ganze Material zurück. Ich werde das als Zeichen Ihres Nichteinverständnisses betrachten. Mit bestem Genossengruß. Lenin. 5. März 23“.
Sowohl Inhalt als auch Ton dieser in den letzten Tagen des politischen Lebens Lenins diktierten unbedeutenden Notiz waren für Stalin nicht weniger schwerwiegend als das Testament. Mangel an „Unvoreingenommenheit“ – das bedeutete doch gerade einen Mangel an Loyalität. In der Notiz fühlt man am allerwenigsten Vertrauen zu Stalin – „sogar ganz im Gegenteil“ – und wird Vertrauen zu mir hervorgehoben. Die Bestätigung des nicht öffentlichen Bundes zwischen Lenin und mir gegen Stalin und seine Fraktion war deutlich. Stalin beherrschte sich schlecht, als er die Notiz las. Als er zur Unterschrift kam, stockte er. „Mit besten Genossengrüßen“ – das war als der Feder Lenins zu demonstrativ. Stalin las: „mit kommunistischen Grüßen“. Dies klang trocken und offiziell. In diesem Moment erhob ich mich tatsächlich vom Platz und fragte: „Was steht da geschrieben?“ Stalin musste notgedrungen, nicht ohne Verlegenheit, den echten Leninschen Text verlesen. Irgend jemand von seinen nächsten Freunden schrie mich an, dass ich an Kleinigkeiten herummäkele, obgleich ich mich nur auf eine Kontrollfrage beschränkte . Der kleine Zwischenfall hinterließ einen Eindruck. Über ihn wurde an der Spitze der Partei gesprochen. Radek, welcher zu dieser Zeit bereits nicht Mitglied des ZK war, erfuhr über die Ereignisse im Plenum aus fremdem Mund, vielleicht auch von mir. Fünf Jahre später, als er bereits bei Stalin, aber nicht bei mir war, halfen ihm offensichtlich seine geschmeidige Erinnerung, die synthetische Episode zu kombinieren, die Ludwig zu einer so effektvollen und so fehlerhaften Schlussfolgerung führte.
Die Legende vom „Trotzkismus“.
Obgleich Lenin, wie wir sahen, keinen Grund fand, im Testament darauf hinzuweisen, dass meine nichtbolschewistische Vergangenheit „kein Zufall“ war, bin ich bereit diese Formel für mich anzunehmen. In der geistigen Welt ist das Gesetz der Kausalität ebenso unerbittlich wie auch in der physischen Welt. in dem allgemeinen Sinn war meine politische Entwicklungslinie natürlich „kein Zufall“. Aber der Umstand, dass ich Bolschewik wurde, war gleichfalls nicht zufällig. Aber die Frage, wie fest und ernsthaft ich zum Bolschewismus kam, wird weder durch nackte chronologische Verweise, noch durch Annahmen von Feuilletonpsychologismus entschieden: notwendig ist eine theoretische und politische Analyse. Diese ist natürlich ein viel größeres Thema, das völlig außerhalb des kleinen Rahmens des vorliegenden Abrisses liegt. Für unsere Ziel ist ausreichend, dass Lenin, als er das Verhalten Sinowjews und Kamenews im Jahre 1917 „keinen Zufall“ nannte, keine philosophische Mahnung über die Gesetze des Determinismus machte, sondern eine politische Warnung für die Zukunft. Aber gerade deshalb musste Radek auch über Ludwig die Warnung von Sinowjew und Kamenew auf mich übertragen.
Erinnern wir uns an die Hauptmeilensteine der Frage. In den Jahren 1917 bis 1924 war von einer Entgegenstellung von Trotzkismus und Leninismus allgemein nicht die Rede. In diese Periode fallen der Oktoberumsturz, der Bürgerkrieg, der Aufbau des Sowjetstaats, die Schaffung der Roten Armee, die Ausarbeitung des Parteiprogramms, die Gründung der Kommunistischen Internationale, die Bildung ihrer Kader, das Erstellen ihrer grundlegenden Dokumente. Nach dem Abtritts Lenins von der Arbeit entwickeln sich im grundlegenden Kern des ZK ernsthafte Differenzen. Im Jahr 1924 betrat der Spuk „Trotzkismus“ – nach sorgfältiger geheimer Vorbereitung – die Bühne. Der ganze innere Kampf in der Partei fand fortan im Rahmen der Entgegenstellung von Trotzkismus und Leninismus statt. Mit anderen Worten, die durch neue Bedingungen und Aufgaben hervorgerufenen Differenzen zwischen mir und den Epigonen wurden als Fortführung meiner Differenzen mit Lenin geschildert. Zu diesem Thema wurde eine unermessliche Literatur geschaffen. Als ihre Anreger erschienen unveränderlich Sinowjew und Kamenew. Als älteste und nächste Mitarbeiter Lenins wurden sie an die Spitze der „alten bolschewistischen Garde“ gegen dem Trotzkismus gestellt. Aber unter dem Druck tiefer sozialer Prozesse brach diese Gruppe selbst entzwei. Sinowjew und Kamenew mussten notgedrungen zugeben, dass sich die sogenannten „Trotzkisten“ als in grundlegenden Fragen im Recht erwiesen. Neue Tausende von alten Bolschewiki schlossen sich dem „Trotzkismus“ an.
Auf dem Juli-Plenum im Jahre 1926 erklärte Sinowjew, dass sein Kampf gegen mich der größte Fehler seines Lebens war, „gefährlicher als der Fehler im Jahre 1917“. Ordschonikidse rief ihm nicht ohne Grund von seinem Sitzplatz aus zu: „Warum täuschten Sie die ganze Partei?“ (s. den bereits zitierten stenografischen Bericht). Auf diese heftige Replik fand Sinowjew keine offizielle Antwort. Aber eine inoffizielle Erklärung gab er in der Beratung der Opposition im Oktober des Jahres 1926.
„Man muss aber verstehen,“ – sagte er seinem nächsten Freunden, den Leningrader Arbeitern, die redlich an die Legende vom Trotzkismus glaubten, – „dass das ein Kampf um die Macht war. Die ganze Kunst bestand darin, die alten Differenzen mit den neuen Fragen zu verbinden. Dafür wurde auch der Trotzkismus erfunden“…
In der Zeit ihres zweijährigen Aufenthalts in der Opposition enthüllten Sinowjew und Kamenew vollständig die geheime Mechanik der vorherigen Periode, als sie, zusammen mit Stalin, die Legende vom „Trotzkismus“ auf konspirativem Weg begründeten. Nach einem weiteren Jahr, als abschließend klar wurde, dass die Opposition lange und beharrlich gegen den Strom würde schwimmen müssen, ergaben sich Sinowjew und Kamenew der Gnade der Sieger. Als erste Bedingung ihrer Parteirehabilitierung wurde von ihnen die Rehabilitierung der Legende vom Trotzkismus verlangt. Sie machten sich daran. Damals beschloss ich, ihre eigenen gestrigen Erklärungen in dieser Hinsicht durch eine Reihe angesehener Zeugen festzunageln. Radek, niemand anderes als Karl Radek, machte nachfolgendе schriftliche Aussage: „Ich war bei einem Gespräch mit Kamenew zugegen, als Kamenew erklärte, er würde vor dem Plenum des ZK berichten, wie sie (d.h. Kamenew und Sinowjew), zusammen von Stalin beschlossen, die alten Differenzen Trotzkis mit Lenins ausnutzen, damit nicht nach dem Tod Lenins Genosse Trotzki die Führung der Partei übernahm. Außerdem, hörte ich viele Mal aus dem Munde Sinowjews und Kamenews davon, wie sie den Trotzkismus als aktuelle Losung ,erfanden‘. 25. Dezember 1927 Karl Radek“.
Analoge schriftliche Aussagen machten Preobraschenski, Pjatakow, Rakowski und Jelzin. Pjatakow, der stellvertretende Volkskommissar für Schwerindustrie, resümierte die Erklärungen Sinowjews in folgenden Worten:
„Der Trotzkismus wurde dazu ersonnen, um anstelle der tatsächlichen Differenzen scheinbare, das heißt aus der Vergangenheit genommene, nicht vorhandene, jetzt keine Bedeutung habende, aber künstlich galvanisierte Differenzen zu obengenannten Ziele zu unterschieben“.
Anscheinend ist das klar?
„Niemand“, – schrieb W. Jelzin, ein Vertreter der jüngeren Generation seinerseits, – „niemand von den dabei anwesenden … Sinowjewisten widersprach. Alle nahmen die Mitteilung Sinowjews als allgemein bekannte Tatsache“.
Das weiter oben gebrachte Zeugnis Radeks verfasste er am 25. Dezember 1927. Einige Wochen später war er bereits in der Verbannung, und nach einigen Monaten, am Meridian von Tomski, erkannte er die Richtigkeit von Stalins Position, die sich ihm früher in Moskau nicht enthüllte. Aber auch von Radek verlangte die Macht als Bedingung sine qua non die Anerkennung der Realität der ganzen Legende vom Trotzkismus. Nachdem sich Radek darauf eingelassen hatte, blieb ihm nichts anderes, als die alte Formel Sinowjews zu wiederholen, welche letzterer im Jahre 1926 entlarvte, um auf sie im Jahre 1928 erneut zurückzukommen. Radek machte noch mehr: im Gespräch mit vertrauensseligen Ausländern überarbeitete er das Testament Lenins so, dass er in ihm Rückhalt für die Epigonenlegende vom „Trotzkismus“ fand.
Aus diesem ausschließlich auf dokumentаrische Daten gestützten kurzen historischen Rückblick entspringen viele Schlussfolgerungen; eine von ihnen lautet: die Revolution ist ein harter Prozess und sie schont das menschliche Rückgrat nicht.
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Den Gang der ferneren Ereignisse in Kreml und in der Union bestimmte nicht ein einzelnes Dokument, selbst wenn es das Testament Lenins war, sondern historische Ursachen viel tiefergehender Ordnung. Eine politische Reaktion nach der großen Anspannung der Jahre des Umsturzes und Bürgerkrieg war unausbleiblich. Man muss den Begriff der Reaktion in diesem Zusammenhang streng vom Begriff der Konterrevolution unterscheiden. Reaktion bedeutet nicht unbedingt sozialen Umsturz, d.h. den Wechsel der Macht von einer Klasse zu einer anderen. Sogar der Zarismus hatte seine Perioden progressiver Reformen und Perioden der Reaktion. Stimmung und Orientierung der herrschenden Klasse verändern sich in Abhängigkeit von den Umständen. Dies gilt auch für die Arbeiterklasse. Der Druck des von den Erschütterungen müde gewordenen Kleinbürgertums auf das Proletariat bedeutete die Belebung kleinbürgerlicher Tendenzen im Proletariat selbst, aber gleichzeitig auch die erste tiefe Reaktion, auf deren Welle sich die Macht des derzeitigen bürokratischen Apparat erhob, an dessen Spitze Stalin trat.
Jene Eigenschaften, welche Lenin an Stalin schätzte – Hartnäckigkeit des Charakters und Gerissenheit –, blieben natürlich auch jetzt; aber sie erhielten ein anderes Handlungsfeld und andere Ansatzpunkte. Jene Züge, welche in der Vergangenheit ein Minus in der Persönlichkeit Stalins bedeuteten: Enger Gesichtskreis, Mangel an schöpferischer Fantasie, Empirismus, erlangten jetzt in höchstem Grad aktuelle Bedeutung: sie ermöglichten Stalin ein halbbewusstes Werkzeug der Sowjetbürokratie zu werden, und sie trieb die Bürokratie an, in Stalin den eigenen berufenen Führer zu sehen. Der zehnjährige Kampf an der Spitze der bolschewistischen Partei zeigte unbestreitbar, dass Stalin unter den Bedingungen der neuen Etappe der Revolution gerade jene Seiten seines politischen Charakters bis zum Ende entwickelte, gegen welche Lenin in der letzten Periode seines Lebens zum unversöhnlichen Kampf aufrief. Aber diese Frage, die auch heute im Fokus der Sowjetpolitik steht, führt uns weit über die Grenzen unseres historischen Thema hinaus.
Seit der Zeit der erzählten Ereignisse floss viel Wasser. Wenn bereits zehn Jahre vorher viel mächtigere Faktoren am Werk waren als der Rat Lenins, dann wäre es jetzt auch ganz und gar naiv, an das Testament als an ein aktuelles politisches Argument zu appellieren. Der internationale Kampf zwischen zwei aus dem Bolschewismus erwachsenen Gruppierungen wuchs längst über das Schicksal einzelner Personen hinaus. Der unter dem Namen Testament bekannt Leninsche Brief bewahrt jetzt hauptsächlich historisches Interesse. Aber die Geschichte, wage ich zu denken, hat gleichfalls ihre Rechte, welche obendrein nicht immer in Konflikt mit den Interessen der Politik geraten. Die elementarste der wissenschaftliche Forderungen: Fakten zu klären und Gerüchte an Dokumenten zu überprüfen, kann man in jedem Fall ebenso wie Politikern auch Historikern empfehlen. Sie sollte sogar auf Psychologen ausgeweitet werden.
L. Trotzki
Prinkipo, 31. Dezember 1932
* Wir werden nicht vergessen, dass das Testament diktiert und nicht korrigiert wurde, daher gibt es Stellen stilistischer Ungereimtheiten im Text; aber der Gedanke ist vollkommen klar. – L.Т.
** Dieser, wie auch viele andere im vorliegenden Artikel zitierte Briefe, werden auf der Grundlage von Dokumenten meines Archivs wiedergegeben. – L.Т.
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