[28.-29. September 1933, eigene Übersetzung der französischen Übersetzung]
Am 28. September 1933
Natalotschek, Natalotschek, mein entfernter. Heute sah es den ganzen Tag so aus, als würde der Sturm das Haus wegwehen. Ich habe endlich einen großen Artikel für das Bulletin und für unsere Presse im Allgemeinen fertig diktiert; morgen werde ich ihn fertigstellen und an Ljowa schicken. Er ist nicht schlecht geworden, scheint es mir; er geht um eine Frage, die unsere Öffentlichkeit jetzt sehr beschäftigt: Ist die UdSSR noch ein Arbeiterstaat?
Ich habe eine Menge Briefe von Leuten bekommen, die mich sehen wollen: eine amerikanische Journalistin, die mit dem Kommunismus sympathisiert, ein Schweizer Genosse (Ost), der deutsche Schriftsteller Toller, ein Redakteur aus Straßburg, zwei belgische Genossen (Vereeken, der dich grüßen lässt, und ein anderer). Es wird immer schwieriger, alles zu arrangieren, aber es ist unmöglich, es abzulehnen. Die Mehrheit der Besuche werden jedoch nach der Ruhezeit stattfinden. Van fährt morgen zur Konferenz, ich werde ihm diesen Brief geben; wahrscheinlich wird er mit ihm nicht verloren gehen. Die Unebenheit meiner Schrift kommt daher, dass ich auf einem Knie schreibe, in dem Sessel in der Ecke, den ich zu lieben begonnen habe. Sara hat sich sehr gut erholt; sie hat ein fast blühendes Aussehen. Vera hat einen ausgezeichneten Charakter; sie arbeitet wie eine Sklavin, ist aber immer fröhlich und leutselig; Jeanne arbeitet nicht weniger, ist aber etwas abwesender und düsterer, obwohl sie in letzter Zeit dazu übergegangen ist, mich keineswegs wie eine Institution, sondern sozusagen wie das älteste Mitglied der Familie zu behandeln. Die jungen Leute sind völlig erschöpft und sie haben sich zu Tode gearbeitet, vor allem Van, der „Technokrat“. Normalerweise lese ich die Zeitungen abends in meiner Ecke, aber heute Abend wurden sie nicht gebracht; der Zeitungshändler hat wegen Kundenmangels geschlossen; jetzt muss man sie offenbar am Bahnhof [von Royan] holen. Ich möchte noch hinzufügen, liebe Natalotschka, dass ich mit warmen Pantoffeln hier bin und noch nicht ein einziges Mal gefroren habe, was ich euch auch wünsche.
Ich habe meine Malariabehandlung abgeschlossen; morgen beginne ich mit der Einnahme des Stärkungsmittels: Phosphor mit Strychnin. Ich fühle mich ziemlich gut; mein Kopf ist ganz klar; das einzige, was ich habe, ist, dass ich nicht sehr gut schlafe. Aber die Ruhe, so hoffe ich, wird mir auch den Schlaf wiedergeben. Jetzt will ich noch ein paar Worte an Lina Sem. über ihren Sohn schreiben; es wird ihr angenehm sein, eine gute Meinung zu hören.
Ich bin gerade nach unten gegangen und habe die Zeitungen heruntergeholt. Schmidt hatte sich gerade ans Piano gesetzt, ich blieb mit allen im Speisesaal… die Appassionata… Es ist schändlich, ich hätte fast zu weinen begonnen, es gibt nichts über diese Musik, aber was weiß ich schon von Musik, Natalotschka? Wird es dir gelingen, in Paris echte Musik zu hören? Ich fürchte nur, dass ich Schwierigkeiten haben werde, einzuschlafen, denn die Musik hat mich sehr bewegt. Was für eine Welt trug Beethoven in sich und was für ein Erbe hat er hinterlassen! Herriot hat ein Buch über Beethoven geschrieben, und mir scheint, dass ein solcher Philister einen Mann wie Beethoven nicht verstehen kann (aber was weiß ich schon über Beethoven?).
29. September: So, ich bin gerade noch einmal aufgewacht, ein neuer Tag bricht an, ich will jetzt an meinem Artikel arbeiten und danach (vor der Abreise) über den Roman von Malraux schreiben. Mach’s gut, Natalotschka, sei nicht so traurig, ich sehe an deinen Briefen (und an ihrer Seltenheit), dass es dir körperlich ziemlich schlecht geht und dass du generell irgendwie niedergeschlagen bist. Mein Liebling, mein Liebling, mach’s gut.
Dein
L.
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