[25.-27. September 1933, eigene Übersetzung der französischen Übersetzung]
Am 25. September 1933
Wo bist du, Natascha? Die Lampe brennt wieder auf dem kleinen Nachttisch, der ganze Rest des Zimmers ist dunkel, von unten kommen die Klänge des Klaviers, durch das Fenster dringt das Rauschen des Ozeans. Heute regnete es am Morgen, dann schien die Sonne; ich ging im Garten spazieren und lag auf der Bank …
Es ist der dritte Tag der Malariabehandlung ohne Chinin; kein Ohrensausen und auch kein subjektiver Hinweis darauf, dass ich in „Behandlung“ bin. Der Appetit ist ausgezeichnet. Die Behandlung endet in zwei Tagen. Wo bist du, Natalotschka? Schrecklich weit weg. Manchmal scheint es mir, als hätte ich dein Gesicht vergessen. Dieser allgemeine Gedanke hat mich in den letzten Monaten, seit S.’s Tod, schrecklich verfolgt. Ich möchte dich sehr, sehr gerne sehen. Vielleicht können wir bald zusammenziehen.
Am 26. [September] Natalotschka, ich habe von Lux Furtmüller einen bemerkenswerten Brief erhalten: sehr, sehr vernünftig, literarisch hervorragend geschrieben, hat er mich auch schrecklich bewegt, sowohl weil man darin einen jungen, intensiv suchenden Gedanken spürt, als auch durch seine Haltung mir gegenüber persönlich. Ich lag (ausnahmsweise) in meinem Zimmer auf der Couch und las den Brief mit einer außerordentlichen Ergriffenheit, in der sich höchste Freude und tiefe Traurigkeit vereinten; der Brief weckte die Überzeugung, dass unsere Sache fortgesetzt werden würde, und legte gleichzeitig den Gedanken nahe, dass sie ohne uns fortgesetzt werden würde.
Er schickte den Brief Ende Juli ab und er wurde zufällig in einem Papierstapel in Jeannes Zimmer gefunden (aber das war natürlich nicht ihre Schuld, wie es scheint). Wo und wie der Brief diese zwei Monate verbracht hat, kann ich nicht verstehen. Und er, der Arme, quälte sich. Ich habe ihm heute sogar ein Telegramm geschickt, in dem ich ihm mitteilte, dass ich seinen Brief erst jetzt gelesen habe und ihm sofort antworten werde.
Am 27. [September] Ich habe einen Brief von dir erhalten (zusammen mit deinem Brief an Vera; es ist gut, dass du ihr geschrieben hast). Gestern kam Henri unerwartet an, um seinen Urlaub an einem geeigneten Ort zu arrangieren. Heute war er schon um halb elf Uhr morgens abgereist. Er ist ein ausgezeichneter, vernünftiger und fähiger Mann. Ich habe jetzt Arbeit bis über die Ohren; ich bereite alle möglichen Entwürfe für Thesen und Resolutionen vor, und ich will das alles heute Abend auf jeden Fall abschicken.
Du hast Unrecht, dir Sorgen zu machen, Natalotschka, meine Liebe; ich habe nicht ein einziges Mal gefroren. Ich habe die Wäsche für die Übergangszeit im Schrank gefunden; außerdem ist es überhaupt nicht kalt, ich sitze hier in meiner Leinenjacke, beide Fenster sind weit geöffnet, und mir ist warm.
Ljowa und Jeanne sind beide, wie es scheint, sehr zerstreute Menschen. Ljowa sollte trotzdem seine Sachen ein wenig in Ordnung bringen. Er hat nicht einmal ein Notizbuch (ein Notizbuch, das immer in derselben Tasche sein sollte), er macht sich Notizen auf kleinen Zetteln, stopft sie in verschiedene Taschen, verliert sie, regt sich auf. Ich hatte ihm den Brief von der Hand in die Hand gegeben und betont: „Vergiss ihn bitte nicht“. Dann fragte ich ihn vor der Abfahrt: „Du vergisst doch nicht, den Brief abzugeben?“ Er klopfte sich abwesend auf die Hosentasche: „Nein, nein, denkst du …“ Er musste seine Kleidung wechseln. Ich bin nicht böse, Natalotschka, aber er muss sich unbedingt disziplinieren… Sei nicht traurig.…
Ich nehme dich ganz, ganz fest in meine Arme und gebe dir Küsse, mein kleiner Liebling von mir.
Dein
L.
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