[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 6, 20. März 1895, S. 41 f.]
Glaubensfreudig plärrt der Spießbürger noch immer sein Sprüchlein, dass die Frau durch „göttliche“, „sittliche“ oder „natürliche“ Bestimmung ausschließlich ins Haus und in die Familie gehöre, aber Millionen deutscher Frauen fronden fern vom heimischen Herd, oder ohne je einen solchen besessen zu haben, einem fremden Unternehmer. Seitdem Deutschland in die Reihe moderner Industriesaaten getreten ist, hat auch im Deutschen Reiche die industrielle Frauenarbeit stetig an Umfang und Bedeutung gewonnen. Es wächst die Zahl der Industriezweige, welche den Frauen offen stehen; es wächst die Zahl der Arbeiterinnen, die auf den verschiedensten industriellen Gebieten tätig sind. In vielen Berufsarten tritt die Frauenarbeit nicht bloß neben die Männerarbeit, sondern an Stelle er Männerarbeit, einzelne Industrien werden von ihr geradezu beherrscht. Hier und da steigt die Zahl der beschäftigten weiblichen Arbeitskräfte auch in Zeiten schwerster Krise, während gleichzeitig die Menge der tätigen männlichen Arbeiter erheblich abnimmt, wie dies z. B. für die sächsische Textilindustrie im Laufe der letzten Jahre festgestellt ward. Die Bataillone der Industriearbeiterinnen wachsen nicht nur überhaupt: sie wachsen im Verhältnis zu der Zahl der verwendeten erwachsenen männlichen Arbeitskräfte, auf deren Kosten, durch deren Verdrängung aus Brot und Lohn.
Nach den „Amtlichen Mitteilungen“ aus den Berichten der Gewerbeinspektoren für 1893 ist binnen der 12 Monate des Berichtjahres die Zahl der in Großbetrieben beschäftigten erwachsenen Industriearbeiterinnen um 40.187 gestiegen, von 576.433 auf 616.620. Der geheimrätlichen Vertuschungsmanier entsprechend,erfährt man bekanntlich aus den „Amtlichen Mitteilungen“ nicht die Zahl der erwachsenen männlichen Arbeiter, welche im Großbetrieb dem Kapital tributpflichtig zinsen. Ein Vergleich zwischen der Zahl der männlichen und weiblichen erwachsenen Arbeitskräfte, welche in der Großindustrie tätig sind, ist also zur Zeit unmöglich. Dagegen erfahren wir wenigstens, dass die unter Fabrikinspektion stehenden Betriebe 1893 von jugendlichen Arbeitern 2514 weniger männliche und 2217 mehr weibliche beschäftigten als im Vorjahr. Auch im Kleinbetrieb spielt die Frauenarbeit eine immer bedeutendere Rolle. Je weniger sich der Kleinindustrielle die Fortschritte der modernen Produktionstechnik und die Vorteile des Großbetriebs zu eigen zu machen vermag, um so mehr sucht er sich notgedrungenen konkurrenzfähig zu halten durch Ausnutzung billiger und billigster Arbeitskräfte: durch Lehrlingszüchterei, durch die ausgiebige Beschäftigung jugendlicher und weiblicher Arbeiter. Noch haben wir in Deutschland die berühmten englischen Zustände nicht erreicht, wo der Mann zu Hause sitzt, Kinder wartet, Essen kocht und Strümpfe stopft, aber jedenfalls sind wir auf dem besten Wege dazu.
Je mehr aber die industrielle Frauenarbeit überhand nimmt, um so größer ist selbstredend der Einfluss, den sie auf dem Arbeitsmarkt auf die Arbeitsbedingungen der männlichen Proletarier ausübt. Erfahrung und Theorie zeigen, dass die Arbeitsbedingungen in einem Gewerbe bessere oder schlechtere sind, je nachdem hier die Männerarbeit oder die Frauenarbeit vorherrscht. Das Überwiegen der Frauenarbeit ist gleichbedeutend mit niedrigen Löhnen für Arbeiter und Arbeiterinnen eines Industriezweiges. Der kapitalistische Unternehmer spielt eben die billigere Arbeiterin gegen den teureren Arbeiter aus und verschlechtert mittels ihrer Schmutzkonkurrenz seine Lohn- und Arbeitsbedingungen. Damit nicht genug. In Zeiten einer Lohnbewegung, eines Ringens für günstigere Arbeitsbedingungen bedient er sich der unaufgeklärten, unorganisierten, widerstandsunlustigen und widerstandsunfähigen Arbeiterinnen, um den Kampf der Männer lahmzulegen. Mit herzerfrischender Deutlichkeit bestätigt der Gewerberat für Posen in seinem letzten Bericht ( 1893 ) die Tatsache. Im Posener Bezirk, so lesen wir, traten die Zigarrenarbeiter einer Fabrik in einen „sehr ernsten Ausstand“, weil die Akkordlöhne zu niedrig waren und willkürlich verkürzt wurden; vor Allem aber, „weil der Prinzipal die Einstellung von billigeren und fügsameren weiblichen Zigarrenmachern an Stelle von widerspenstigen männlichen eingeleitet hatte“.
Die stete und rapide Zunahme der Frauenarbeit macht deshalb die gewerkschaftliche Organisation der Industriearbeiterinnen zur dringendsten Notwendigkeit. Die industriell tätige Frau hört erst auf, eine Schmutzkonkurrentin und Streikbrecherin des Mannes ihrer Klasse zu sein, wenn sie auf wirtschaftlichem Gebiete seine Kampfesgenossin wird, wenn sie mit ihm zusammen, aufgeklärt und organisiert, gegen die kapitalistische Ausbeutung streitet, um der Arbeit ein Titelchen von dem zu ertrotzen, was der Arbeit gebührt. Die von der Generalkommission der Gewerkschaften angeregte planmäßige Agitation unter den Industriearbeiterinnen zum Zweck ihrer Einbeziehung in die Gewerkschaften entspricht einem Lebensinteresse der gewerkschaftlichen Bewegung, einem Lebensinteresse des Proletariats. Gewerkschaften, welche der Anregung der Generalkommission die Antwort schuldig blieben, würden in unbegreiflicher Verkennung des Tatbestands einen Selbstmord begehen und die gesamte Arbeiterschaft schädigen. Denn ohne die gewerkschaftliche Organisation der Industriearbeiterinnen, ohne ihr bewusstes, planmäßiges und energisches Mittaten im wirtschaftlichen Kampfe vermag die Gewerkschaftsbewegung für die Arbeiterschaft vieler Industriezweige auf die Dauer keine Erfolge mehr zu erzielen. Die wirtschaftliche und politische Entwicklung schränkt in Deutschland das Tätigkeitsfeld der gewerkschaftlichen Organisationen in der und jener Richtung ein. Dafür erweitert sie es in anderer Beziehung. Unter den vielen und hochwichtigen Aufgaben aber, welche der Gewerkschaftsbewegung im Klassenkampfe zufallen, steht die Aufklärung und Organisation der Industriearbeiterinnen mit an erster Stelle.
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