[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 7, 3. April 1895, S. 49 f.]
Nicht zu einer Sitzung, zu einem Urteil trat der Reichstag am 23. März zusammen, um über die ihm angesonnene Ehrung Bismarcks zu dessen 80. Geburtstag zu entscheiden. Und sein Beschluss kommt einem Urteil gleich, ist eine Verurteilung der Bismarckschen Raub -, Blut- und Eisenpolitik fluchwürdigen Andenkens, ist eine Warnung für die, welche sich nach ihr als nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnen und die Bismarcksverehrung als ein Symbol ihrer volksfeindlichen Gelüste der vorwärts tosenden Reaktion vorantragen.
Was die Reaktion vom Reichstage forderte, war nicht eine bloße Höflichkeitsbezeugung gegenüber einem alten Manne, der einst allmächtig im Mittelpunkt des politischen Lebens stand. Es war hochpolitische Tat, ein Pronunziamento zu Gunsten der Vergewaltigung jeder freiheitlichen Regung, zu Gunsten der nacktesten Raub- und Gewaltpolitik der ausbeutenden und herrschenden Klassen. Bismarck war mehr als sonst Jemand der Träger dieser Politik, der in seiner Person die kapitalistische Dreieinigkeit – Junker -, Börsen -, Fabrikkapital – darstellte, war die Verkörperung eines Systems, das alles was Freiheit, alles was soziale Entwicklung hieß, unter den Reiterstiefel trat, mit der ochsengräflichen Stallpeitsche behandelte Und deshalb seit Wochen schon der bis an blödeste Narretei grenzende Bismarckrummel aller Elemente, die von Volksausbeutung leben und ein Interesse daran haben, behufs weiterer Auswucherung der werktätigen Masse dem Rade des politischen Fortschritts durch eine Gewaltpolitik in die Speichen zu fallen. Aus dem Schellengeklingel der Bismarcksnarren tönt deutlich das Angstgeschrei der sich bankrott fühlenden Satten und Übersatten nach einem politischen Hausknecht, der mit des Ex-Reichskanzlers Brutalität und Gewissenlosigkeit gegenüber der Arbeiterklasse seines Amts walten möchte. Ihrer Rolle getreu, als Vortänzerin des reaktionären Hexensabbats, war die Regierung mit Sympathie und Tat an dem Faschingstreiben beteiligt. Land- und Geheimräte wirkten für die Huldigung Bismarcks durch Ehrenbürgerrecht und Glückwunschadressen; Staats- und Gemeindebeamte ließen sich angelegen sein, zum Besten eines neuen Ottopfennigs den Klingelbeutel zu schwenken. Und um der Kundgebung eine „höhere Weihe“ zu geben, um sie zu einer „nationalen“ umzulügen, ward der Volksvertretung eine Huldigung des Mannes zugemutet, der lange er an der Macht saß, den Reichstag bei jeder Gelegenheit mit zynischem Hohn und beispielloser Brutalität behandelte.
Wohl wusste man, dass das Zentrum dem Ex-Reichskanzler den Kulturkampf mit seiner schmählichen Vergewaltigung der Gewissensfreiheit nicht verziehen; dass ihm Polen, Welfen, Elsässer und Freisinnige und süddeutsche Volksparteiler alten und berechtigten Groll trugen: dass die Sozialdemokraten, die Vertreter des zwölf Jahre lang geächteten Proletariats, dem Vater des Ausnahmegesetzes und seinem System in unversöhnlicher Gegnerschaft gegenüber standen. Aber die bürgerliche Opposition wurde von der Reaktion – und das nicht unverdient – so niedrig eingeschätzt, dass man sie mittels von Drohungen zu Paaren zu treiben erwartete. Jedennoch und auch trotzdem, dass an höchster Stelle recht deutliche Kommandowinke gefallen sein sollen, ist die Reichstagsmajorität der Reaktion nicht eingeschwenkt. Sie hat Rückgrat bewiesen, ein steifes, festes Rückgrat. Vergeblich zeterten die Vertreter der Konservativen, die ja dem Urheber der Getreidezölle zu großer Erkenntlichkeit verpflichtet sind, von Undank gegen den Mann, der mit dem Reiche den Reichstag geschaffen habe. Umsonst verstieg sich der Vollblutagrarier Kardorff zu der dummdreisten Behauptung, dass sich der Reichstag durch Ablehnung der Huldigung „unsterblich lächerlich mache“. Ungerührt vernahm auch die Reichstagsmajorität die Arie von geschichtlicher Größe und nationaler Pflicht, welche Bennigsen im Namen der Nationalliberalen anstimmte. Mit 163 gegen 146 Stimmen wurde die Ehrung Bismarcks abgelehnt, nachdem die Oppositionsparteien in kurzen Erklärungen ihre Stellungnahme dargelegt hatten. Die Parteien würden sich jedes Ehrgefühls bar gezeigt, sie würden ihrer Vergangenheit ins Gesicht geschlagen und vor allem gegen die Würde und Überzeugung ihrer Wähler gehandelt haben, hätten sie sich zu der Huldigung verstanden.
Die Reaktion hat die Bedeutung des Reichstagsbeschlusses kräftig unterstrichen. Ihre Presse schäumt vor Wut und beutet es aus, dass der Kaiser mit der ihm gewöhnlichen temperamentvollen Eigenart wieder einmal persönlich in das politische Leben eingegriffen hat. In einem Telegramm versichert er dem Ex-Reichskanzler seine „tiefste Entrüstung“ über den Beschluss des Reichstags und seine Überzeugung, dass derselbe „im vollsten Gegensatz zu den Gefühlen aller deutschen Fürsten und ihrer Völker stehe“. Bezüglich der Gefühle deutscher Fürsten dürfte der hohe Herr mit seiner Kundgebung wohl den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Aber die Gefühle des deutschen Volks für Bismarck und seine Wertschätzung des Reichstagsbeschlusses steht auf einem anderen Blatt. Bis nach Hinterpommern hinein haben die Deutschen mehr und mehr mit der vormärzlichen Auffassung gebrochen, sich als Völker ihrer Fürsten zu fühlen und mit der frommen Köhlergläubigkeit des beschränkten Untertanenverstands ihr Urteil an die Personen der Fürsten abzudanken. Das deutsche Volk – soweit es nicht besteht aus Leutnants und „ollen ehrlichen“ Wucherern à la Seemann, aus Jobbern, Stumm und Stümmchen, sowie aus den Sippen und Magen der Kanitze, oder soweit es nicht durch das Protzentum mit der Hungerpeitsche durch das kaudinische Joch der Selbsterniedrigung getrieben wird – es weist mit „tiefster Entrüstung“ jede Huldigung Bismarcks zurück. Nicht vergessen hat es, dass Bismarcks Regierungssystem die Gewissen brutal knechtete: das Nationalitätsgefühl einzelner Bevölkerungsgruppen verletzte; dass es den Armen nahm und den Reichen gab, um auf Kosten von Bettlern Millionäre zu züchten; dass es die Arbeiterklasse mundtot und gefesselt der schrankenlosesten Ausbeutung durch das Unternehmertum überlieferte; dass es Lockspitzeltum und Nepotismus groß päppelte, auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens eine Korruption säte, die üppig in die Halme geschossen ist. Und die Sünden der Bismärckerei gegen das Wohl des Volks, sie leben fort, sie stehen bei jeder Gelegenheit auf und zeugen gegen das System. Wenn deshalb je der Reichstag in Übereinstimmung handelte mit dem Fühlen und Denken des werktätigen Volks, wenn er je die Masse bei einem Beschluss hinter sich hatte: so als er unbekümmert um Fürstenwunsch und Fürstenurteil Bismarck die Huldigung versagte. Leicht und mit Würde wird er die verletzende Kritik aus hohem Munde tragen, eingedenk des Grundsatzes, dass nicht der Wille des Königs, sondern das Wohl der Allgemeinheit das höchste Gesetz ist.
Es war eine hoch bedeutsame Sitzung, in welcher die deutsche Volksvertretung über Bismarcks Politik zu Gericht saß und erklärte: gewogen und zu leicht befunden. Wird die bürgerliche Opposition, wird insbesondere das Zentrum die logische Konsequenz des Beschlusses ziehen? Oder wird sie vielmehr die einmalige männliche Haltung als einen Freibrief ausnützen, um mit der Reaktion zu paktieren, um ihr die blutarme deutsche Volksfreiheit auszuliefern? Die nächste Zukunft wird es lehren. Wenn die bürgerliche Opposition nicht ihre Haltung in Sachen des Bismarckurteils verleugnen will: so muss ohne Debatten der Wechselbalg Umsturzvorlage in der Versenkung verschwinden, ans der ihn die Reaktion beschworen, so müssen die Steuerforderungen der Regierung, müssen die dreisten Raubzugsgelüste der Krautjunker abgeschlagen werden; muss der Wagen der deutschen Reichspolitik in die Bahnen lenken, auf welche die Sozialdemokratie im Interesse der werktätigen Masse seit Langem hinweist.
Wir glauben kaum, dass der leise oppositionelle Hauch, welcher die bürgerlichen Elemente durchzittert, zum kräftigen Wind anschwellen wird, der die Reaktion fortfegt. Das Volk fordert es, aber es darf in dieser Beziehung weniger hoffen von der Einsicht und dem Anstand der ausschlaggebenden bürgerlichen Partei, als von seiner eigenen Kraft, von der energischen Kundgebung seines Willens und – von dem tölpelhaften Eifer der Reaktion.
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