Clara Zetkin: Gegen den Fleischwucher

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 17, 23. August 1905, S. 97]

Fleischteuerung, Fleischnot! so klingt es auf Märkten und in Metzgerläden; so melden Zeitungen; so schallt es in Millionen Haushaltungen. Fleischteuerung, Fleischnot, diese Worte bohren sich schmerzhaft in das Hirn all der Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen, bei denen wochaus wochein Schmalhans Küchenmeister ist, und oft genug der Hunger als furchtbarer Gast am Tisch sitzt.

Tatsächlich leidet die große Masse des arbeitenden Volkes ständig unter Fleischnot. Auch wenn das Fleisch verhältnismäßig billig ist, bleibt es für den schmächtigen Beutel der Armen und wenig Bemittelten ein gar nicht, oder nur selten und unzulänglich zu beschaffender Genuss. Das hat die Wissenschaft schon längst bewiesen. Es sei nur an eine Feststellung aus jüngster Zeit erinnert. Dr. Goldstein-Berlin hat eine sehr sorgfältig revidierte Berechnung aufgemacht, nach welcher die deutsche Bevölkerung im Jahre pro Kopf rund 24 Kilo Fleisch zu wenig verzehrt. Ihr fehlt damit ein Drittel des Fleischkonsums von 72,5 Kilo, den sie haben müsste, wollte sie sich so gesund ernähren, wie es die Hygiene fordert. Niemand aber wird behaupten, dass der bei weitem zu niedrige Fleischverbrauch auf die Klassen entfällt, welche ihre Fettleibigkeit alljährlich in den Bädern kurieren oder in Gebirgsreisen abzulaufen bemüht sind. Er benachteiligt vor allem das Proletariat, das den Mangel abzuwehren sucht, so gut es geht. Sein „Fleischhunger kommt deutlich zum Ausdruck in den 68486 Pferden und anderen Einhufern, sowie den 2524 Hunden, die im zweiten Halbjahr 1904 zu Ernährungszwecken geschlachtet worden sind. Diese mangelhafte Ernährung bildet einen sehr wichtigen Grund für die statistisch festgestellte viel größere Sterblichkeit der Arbeiterbevölkerung gegenüber der wohlhabenderen Klasse.“ Es ist kein „Umstürzler“, es ist Dr. Goldstein, der also in der „Sozialen Praxis“ spricht, einem äußerst „gutgesinnten“ Organ, das sich redlich bemüht, die Sünden der heutigen Ordnung weg zu schminken.

Freilich: die Proletarierin bedarf kaum solcher Zeugnisse, um an das Vorhandensein stetiger Fleischnot zu glauben. Sie kennt sie zu gut an den Ängsten und Sorgen, unter denen sie nachrechnet und die Zehner umdreht, wenn sie Fleisch, Wurstwaren, Speck und Fett einkauft. Sie spürt sie an dem Knurren des Magens, während sie das halbe Pfund ausgekochte Rindfleisch sorgfältig in winzige Portionen zerlegt. Sie grinst ihr entgegen aus den hohlen Wangen des Mannes, der bei seiner schweren Arbeit noch viel zu schlecht ernährt wird, auch wenn ihm die Hausmutter die größten und besten Bissen zuschiebt; aus den blutleeren Gestalten der Kinderchen, deren schmächtige Blicke den leckeren Schmaus hinter den Auslagefenstern der Fleisch- und Wurstwarenläden förmlich verschlingen. Der einzelstehenden Arbeiterin aber, „die nur für sich zu sorgen hat“, das heißt die allein in ihrem Kämmerchen oder ihrer Schlafstelle darben muss, führt die ewige Schmalzstulle den Mangel an Fleisch genügend zu Gemüt.

Und nun ist die Fleischnot infolge der Fleischteuerung noch viel größer geworden und wird noch schlimmer werden! Die Preise für alle Arten Fleisch und Fleischwaren haben derart angezogen, dass sie diejenigen der bösesten Teuerungsmonate von 1902 weit übertreffen. Für breitere Schichten des Proletariats als je sind sie unerschwinglich geworden. Nicht bloß Rind- und Kalbfleisch steht hoch im Preise, ganz besonders auch hat sich das Schweinefleisch verteuert, das gerade im Haushalt der armen und kleinen Leute eine große Rolle spielt. Aber nicht nur teurer ist das Fleisch geworden, auch minderwertiger obendrein, weil die Züchter das Vieh rasch aufführen, um die ihnen vorteilhafte Markttage ausnutzen zu können.

Die Folge dieser Dinge muss sein, dass der ohnehin schon viel zu knappe Verbrauch an Fleisch in der arbeitenden Bevölkerung sowohl nach Quantität wie Qualität noch mehr sinkt. Für viel Geld gibt es wenig und obendrein oft geringwertiges Fleisch. Eine Mahlzeit mit genügendem und gutem Rind -, Kalb- oder Schweinefleisch wird immer mehr zum Luxus, der ausnahmsweise einmal vorkommt. Dafür nimmt der Verzehr von Pferde- und Hundefleisch schnell und stark zu. Fast aus allen großen Städten und Industriezentren wird das übereinstimmend gemeldet. Die Verschlechterung der Ernährung aber ist gleichbedeutend mit einer Schädigung der Gesundheit, mit einer Herabsetzung der Leistungsfähigkeit, mit einem Steigen der Sterblichkeit, zumal der Kindersterblichkeit. Kurzum, die herrschende Fleischteuerung wird dem eigenen Leben der Proletarierin wie dem ihrer Lieben im höchsten Maße verhängnisvoll.

Nichts notwendiger daher, als dass sie die Frage nach dem Warum der lastenden Nöte und Leiden aufwirft Warum, ja warum? Fleischer und Viehzüchter werfen einander die Schuld an den Teuerungspreisen des Fleisches zu. Statistisch nachweislich haben die letzteren darin recht, dass die Herren Metzger stets sehr schnell bei der Hand sind, bei steigenden Viehpreisen den Preis des Fleisches in die Höhe zu schrauben, dass sie sich aber sehr langsam dazu entschließen, dieselben bei sinkenden Viehpreisen wieder herabzusetzen. Allein trotzdem sind nicht sie die Urheber der gegenwärtigen Fleischnot, sondern die unersättlichen Vieh züchtenden Junker und Junkergenossen.

Die Fleischteuerung ist verursacht durch das starke Anziehen der Viehpreise, welches künstlich geschaffen worden ist durch die Absperrung des deutschen Marktes gegen die Zufuhr verbilligenden Viehs und Fleisches aus dem Auslande. Was Einfuhrzölle in dieser Hinsicht schon gegen den Beutel und die Gesundheit des deutschen Volkes sündigen, das wird gegenwärtig auf die Spitze getrieben durch die Grenzsperre, die angeblich zur Abwehr von Seuchengefahr eingeführt worden ist. Unsere Leserinnen finden das eingehend an anderer Stelle dieser Nummer. Hier sei nur betont, dass Summa Summarum die empfindliche Fleischteuerung die Folge der Politik ist, welche im Interesse der agrarischen Schnapphähne der Losung gehorcht: „Gott schütze die deutschen Schweine und Ochsen.“ Die Regierung und die ausschlaggebenden bürgerlichen Parteien – vor allem das Zentrum – sind gleicherweise mitschuldig an dem Verbrechen dieser Wirtschaftspolitik, die nach dem Inkrafttreten der neuen Handelsverträge auch dem Rückständigsten und Denkfaulsten im Proletariat zum Bewusstsein kommen müssen.

Die Fleischteuerung mahnt eindringlich die Frauen des Volkes, mit einem verächtlichen Fußtritt die Spießbürgerweisheit zur Seite zu schleudern, dass die Politik nur Männersache sei. Die Politik ist es, die schamlose Geldsackpolitik der Junker und Scharfmacher, die mit raubgieriger Faust in den Kochtopf der Frau fasst und ihr das Stückchen Rindfleisch herausreißt. Die Frau muss verteidigen, was für sie und die ihrigen zu des Lebens Unterhalt gehört. Der Kochtopf, der tägliche Lebensbedarf zwingt mithin ihre Gedanken zur Beschäftigung mit der Politik und muss sie zum Schutz ihrer Interessen in den politischen Kampf rufen.

Was die Politik geschaffen hat, das kann die Politik auch wieder vernichten. Die gemeinschädliche Wirtschaftspolitik der ausbeutenden Klassen und ihres Staates gilt es, durch die Politik der ausgebeuteten Massen auf die Knie zu zwingen. Dazu müssen die Proletarierinnen das ihrige mithelfen. Sie müssen sich allerorten erheben zum flammenden Protest gegen den Mundraub, gegen den Diebstahl an Gesundheit und Lebenstüchtigkeit, welchen die agrarische Raffgier an ihnen und den ihrigen verübt. Ihr Sorgen, Entbehren und Leiden muss umschlagen in Verachtung, Hass und Kampf gegen die Ordnung, an deren Stamme die Fleischnot ein Zweiglein ist. Heraus, ihr mühseligen und beladenen Frauen des ausgebeuteten Volkes zum Kampfe gegen den Kapitalismus und den Wechselbalg, den er mit der junkerlichen Beutesucht gezeugt: den Fleischwucher.


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