[Nr. 919, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 9, 3. März 1889, S. 9 f.]
:: Aus Norddeutschland, 29. Februar. Letzte Woche spielte sich in Berlin die zweite Auflage des Geheimbundprozesses gegen die vorigen Sommer verhafteten acht Sozialdemokraten ab, die angeklagt sind, das Zentralkomitee der Berliner geheimen sozialistischen Organisation zu bilden. Der vorigen Herbst unterbrochene Prozess wurde in der Zwischenzeit seitens der Staatsanwaltschaft zu einer Haupt- und Staatsaktion aufgepufft und richtete sich indirekt auch gegen die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Die Angeklagten sollen die Vorsteher einer Lokalverbindung sein, die in einer allgemeinen Organisation unter der Leitung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion sich über das ganze Deutsche Reich erstreckt Um ihre Anklage zu begründen, hatte die Staatsanwaltschaft einen großen Zeugenapparat aufgeboten. Es marschierten nicht weniger als 25 Polizeibeamte höheren und niederen Grades, der Reichstagsabgeordnete Bebel und noch einige andere Personen männlichen und weiblichen Geschlechts als Belastungszeugen auf. Diesem Umstand war es zu danken, das der Prozess, der vorigen Herbst mutmaßlich in einem Tage zu Ende gegangen wäre, dieses Mal vier Tage in Anspruch nahm. Als weiteres Belastungsmaterial hatte die Anklage, offenbar an der Hand der Anklageakte aus dem Chemnitz-Freiberger Prozess wider Vollmar, Bebel und Genossen, sowohl die verschiedenen Kongressprotokolle, wie eine große Anzahl Nummern des Züricher „Sozialdemokrat“ zur Hand. Die Echtheit der Protokolle war von den Verteidigern der Angeklagten vorigen Herbst bezweifelt worden. Bebel war vorgeladen, um die Echtheit derselben zu bezeugen. Außerdem aber sollte er aussagen, ob eine geheime Organisation über Deutschland, von der die Berliner Organisation ein Glied bilde, existiere Bebel bestritt dies. Er gab zu, das die Fraktion die Leitung der Partei bilde, das dieselbe Sammlungen für Unterstützungszwecke, für die Wahlen und zum Diätenfonds für die Reichstagsabgeordneten veranstaltet habe und die bezüglichen Fonds verwalte. Diese Fonds seien aber nicht aus Steuern, sondern aus freiwilligen Sammlungen zusammengekommen, auch bestehe keine Organisation nach Bezirken. Wo lokale Organisationen geheimer Natur existierten, und die bezüglichen Prozesse hätten dargetan, das es solche gebe, seien diese auch rein lokaler Art, mit denen die Fraktion nichts zu tun habe. Der „Sozialdemokrat“ sei vom Wydener Kongress bis zum September 1886 offizielles Organ der Partei gewesen, in Folge dess bekannten Freiberger Urteils habe alsdann die Fraktion auf seinen Antrag den offiziellen Charakter des Blattes aufgehoben. Die Fraktion habe die Aufrufe zu den Sammlungen öffentlich erlassen und ebenso seien die Beträge öffentlich quittiert worden; auch seien verschiedene öffentliche Erklärungen der Fraktion über ihre Stellung zum „Sozialdemokrat“ vorhanden. Anträge auf geheime Organisation hätten auf dem Wydener Kongress vorgelegen, die man ohne besondere Beschlussfassung der Fraktion zur Begutachtung überwiesen habe, die Fraktion habe diese Anträge in den Papierkorb wandern lassen. Auf dem Kopenhagener Kongress seien Anträge ähnlicher Natur ohne Weiteres abgelehnt worden.
Im Gegensatz zu den Aussagen Bebels standen eine Reihe von Aussagen der Polizeibeamten, welche die Existenz einer solchen allgemeinen geheimen Verbindung behaupteten und bezügliche Wahrnehmungen verschiedener Art gemacht haben wollten. Auf die Frage der Verteidiger, woher diese Wissenschaft rühre, bezogen sie sich auf das Zeugnis sogenannter Vertrauensmänner, deren Namen sie in Rücksicht auf die Amtsverschwiegenheit nicht nennen könnten. Die Verteidiger stellten die Aussagen dieser mehr als zweideutigen „Vertrauenspersonen“ in das zweifelhafteste Licht, und das diese Zweifelhaftigkeit ihre Gründe hatte, zeigte sich bei der Zeugenvernehmung des Bruders des Abgeordneten Singer, des Kaufmannes Heinrich Singer. Einer der Polizeibeamten hatte ausgesagt, der Angeklagte Apelt, welcher Kassier des Komitees gewesen sein solle, habe kurz vor seiner Verhaftung Herrn Heinrich Singer die Kasse mit 1500 Mark übergeben. Herr Heinrich Singer bezeugt dagegen, das er weder den Apelt kenne, noch je von ihm oder irgend einer andern Person Geld zum Aufheben erhalten habe. Eine zweite, recht interessante Episode war auch, das der Kriminalschutzmann Fromberg, der den Angeklagten Jahn zu beobachten hatte, durch einen gewissen Fickert den Versuch machte, sich bei den Angeklagten unter dem Namen eines Assessor Fritsch einführen zu lassen, der bereit sei, ihre Verteidigung gratis zu übernehmen, und dem sie deshalb die nötigen Mitteilungen machen möchten. Dieser saubere Plan wurde durchschaut und fiel ins Wasser.
Die Strafanträge des Staatsanwalts gegen die verschiedenen Angeklagten erstreckt sich von 9 Monate bis 1 Jahr und 1½ Monat. Die drei Verteidiger beantragten Freisprechung, eventuell mit Rücksicht auf die große Jugend der Angeklagten und ihre bisherige Unbescholtenheit, geringe Gefängnisstrafen. Das Urteil soll Freitag, den 2. März verkündet werden, und ist man im Falle der Verurteilung in den beteiligten Kreisen fast eben so sehr auf die Urteilsmotivierung, als auf die Höhe des Strafmaßes gespannt.
Der Reichstag geht mit raschen Schritten seinem Ende entgegen, und das ist eine wahre Wohltat; derselbe leidet an chronischer Beschlussunfähigkeit Die Sitzungen sind so schlecht besucht, dass es die Zuhörer auf den Tribünen vor der Leere des Saales friert. Die kartellbrüderliche Presse erwähnt von dieser Generalschwänzerei ihrer teuren Gesinnungsgenossen kein Wort und die Opposition hat kein Interesse durch Auszählungsanträge die Dauer einer Session, von der das Volk nichts zu erwarten hat, zu verlängern. Die in Aussicht gestellte Arbeiter- Invaliden- und Alterspensionskasse wird „in dieser Session nicht mehr das Licht der Welt erblicken, worüber in deutschen Arbeiterkreisen kaum große Trauer herrscht. Wenn der Reichstag nach Hause geht, wird Niemand eine Träne ihm nachweinen. Täte er weiter wie bisher, so erreicht er das Eine: eine gründliche Diskreditierung des heutigen Parlamentarismus.
Der ungemein lange und harte Winter wirkt auf unsere sozialen Verhältnisse außerordentlich nachteilig, er steigert die Notlagen, denen der knappe Verdienst die Beschaffung von Feuerung armer Kleidung unmöglich macht, und er verstärkt namentlich die Reserve-Armee der Arbeitslosen durch den Stillstand der zahlreichen Bauten in allen größeren Städten und das Aufhören jeder Beschäftigung im Freien. Die große Zahl der abgerissenen Gestalten, hungernd und frierend durch die Straßen unserer Städte wandern, fällt dem oberflächlichsten Beobachter auf.
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