[Nr. 910, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 8, 25. Februar 1889, S. 9]
:: Aus Norddeutschland, 15. Februar. Im deutschen Reichstag hat das Sozialistengesetz glücklich die zweite Lesung passiert und die dritte steht Ende dieser Woche bevor. Der Ausgang der zweiten Lesung ist so gewesen, wie der Verlauf der Generaldebatte in der ersten Lesung erkennen ließ. sämtliche Verschärfungen wurden abgelehnt, ebenso die von Dr. Windhorst beantragten Abschwächungen und wurde schließlich die Verlängerung des Gesetzes auf zwei Jahre in der bisher gültigen Fassung mit 164 gegen 80 stimmen angenommen.
Die Niederlage, welche die Reichsregierung in der Generaldebatte durch die Enthüllungen und Reden der sozialistischen Abgeordneten empfing, ist durch die Kommissionsberatungen und die Beratungen der zweiten Lesung im Plenum noch verstärkt worden. Nie ist ein Gesetzentwurf von dieser Tragweite kläglicher von seinem Urheber verteidigt worden, als der des verschärften Sozialistengesetzes. Nichts, aber auch absolut gar nichts Neues wussten seine Vertreter zu seinen Gunsten vorzubringen und was sie vorbrachten, wurde von den Gegnern so gründlich zu Boden geschmettert, das den Verteidigern nichts als der kläglichste Rückzug übrig blieb. Ja wäre es nicht bei den Majoritätsparteien von vornherein feststehender Beschluss gewesen, indem sie die Verschärfungen des Gesetzes ablehnten, keinerlei Abschwächungen desselben zuzulassen, es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, das mindestens der § 28 desselben, der von der Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes handelt, mit erdrückender Majorität wäre niedergestimmt worden. Die Folgen und Wirkungen dieses Paragrafen sind bis tief in die konservative Partei hinein für so zweifelhafte ja bedenkliche angesehen worden, dass bei freier, aus innerer Überzeugung folgender Abstimmung, kaum 50 Mitglieder sich dafür erklärt haben würden. Aber wer im Parlament sitzt oder je das parlamentarische Treiben näher zu beobachten Gelegenheit hatte, weiß, wie wenig die Überzeugungen der Einzelnen bei einer Abstimmung in Frage kommen, sogenannte „höhere Rücksichten“, d. h. meist politische Motive niedrigster Art, wie, das Streben sich der Regierung gefällig zu erweisen, allgemeine Klasseninteressen zu schützen, Herrschaftsgelüsten der Führer Rechnung zu tragen, sind es hauptsächlich, welche die Einzelnen zwingen das Opfer ihres Intellekts zu bringen und oft gegen ihre Überzeugung zu stimmen. Die gepflogenen Debatten in den Parlamenten sind nicht dazu da, die Mitglieder der verschiedenen Parteien gegenseitig zu überzeugen, sie bilden nur ein Turnier zum Gaudium der Leser der Verhandlungen und allenfalls der Zuhörer auf der Tribüne. Für die Entscheidungen im Parlament sind die Debatten von geringer oder gar keiner Bedeutung, diese Entscheidungen stehen meist von vornherein fest, die einzige Wirkung und der einzige Wert dieser Debatten ist die Wirkung nach Außen, die agitatorische Wirkung. Das gab der deutsche Reichstag sogar durch allgemeine Zustimmung selbst zu, als in der gestrigen Sitzung der sozialdemokratische Abgeordnete Bebel die Bedeutung des Parlamentarismus in der ausgeführten Weise charakterisierte
Haben sich also die verbündeten deutschen Regierungen durch die Einbringung des verschärften Sozialistengesetzes etwas ganz anderes als Lorbeeren geholt, so haben die Debatten weiter zu einer schweren persönlichen Niederlage des preußischen Ministers des Innern, Herrn von Puttkamer, geführt. Um die Regierungsvorlage und seine eigenen Anschauungen zu stützen, nimmt es Herr von Puttkamer erfahrungsmäßig oftmals mit Zitaten und Anführung von Tatsachen nicht sehr genau. Das wurde ihm in der Montagsitzung des Reichstages durch den Abgeordneten Bebel gründlich nachgewiesen und angestrichen.
Der Abgeordnete Bebel konstatierte in jener Sitzung in einer Rede nicht weniger als vier zum Teil sehr schwere „Irrtümer“ dess Herrn von Puttkamer. Er wies nach, das Herr von Puttkamer in einer Anklage gegen den ausgewiesenen Sozialdemokraten Jens Christensen bei der ersten Lesung des Gesetzes aus dem „Sozialdemokrat“ falsch zitiert habe, um Christensen anzuschwärzen. Er wies ferner nach, das Herr von Puttkamer aus einer Schrift des Genannten in der erwähnten Montagsitzung wiederum falsch zitiert habe, indem er einen eine schwere Religionslästerung enthaltenen Satz anführte, der in der bezüglichen Schrift gar nicht enthalten ist. Er wies ferner nach, das Herr von Puttkamer unberechtigterweise jene Schrift als Beispiel für die Notwendigkeit des Sozialistengesetzes anführte, um wenigstens das Verbot von dergleichen Schriften zu ermöglichen, während die Schrift bis heute auf Grund des Sozialistengesetzes gar nicht verboten sei. Endlich wurde dem Minister noch nachgewiesen, das seine Behauptung, es dürfe für die Familien der Ausgewiesenen gesammelt werden, wenigstens für Berlin unrichtig sei, indem erst vor vierzehn Tagen die gerichtliche Verurteilung eines Arbeiters wegen einer solchen Sammlung vor dem Berliner Landgericht stattgefunden habe.
Zur höchsten Überraschung des Reichstags blieb der Minister auf alle vier Rektifizierungen die Antwort schuldig, gab also die Richtigkeit derselben zu. Der Vorgang machte im ganzen Reichstag einen peinlichen Eindruck und hat der Autorität des Herrn v. Puttkamer bei seinen besten Freunden einen derben stoß versetzt.
Endlich einmal eine Freisprechung in einem sozialistischen Geheimbundprozess Eine Anzahl Sozialdemokraten, die am 13. d. M. vor dem Landgericht zu Halle standen, angeklagt einer geheimen Verbindung anzugehören, deren Zweck unter Anderem sei, verbotene Schriften zu verbreiten, wurde nach kurzer Beratung des Gerichtshofes freigesprochen.
Die Polizei gab sich alle Mühe, die Angeklagten hereinzulegen. Ein Polizeikommissar deponierte endlich, das die Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Vergehen begangen hätten, wie er aus dem Munde eines im Dienste der Polizei stehenden Spions wisse, dessen Name er aber „im Interesse des Staates“ nicht nennen dürfe. Die Richter ließen sich aber durch solche Angaben nicht bestechen noch verblüffen, sie sprachen frei. Dieser Spruch ist um so bemerkenswerter, als es in den Reden des Herrn v. Puttkamer und des sächsischen Generalstaatsanwaltes Dr. Held im Reichstag nicht an Winken mit dem Zaunpfahl für die Richter fehlt, künftig gegen angeklagte Sozialdemokraten recht scharf vorzugehen.
Den 21. d. M. spielt vor dem Berliner Landgericht zum zweiten Mal die Verhandlung gegen die sieben, im vorigen Sommer verhafteten Sozialdemokraten, welche nach Ansicht der Staatsanwaltschaft das Zentralkomitee der geheimen Berliner Sozialistenorganisation bilden sollen. Die Verhandlung war im Oktober vorigen Jahres vertagt worden, weil die Angeklagten die Echtheit einer Anzahl Beweisstücke der Staatsanwaltschaft bestritten. seitens der Letzteren sind die Reichstagsabgeordneten Dietz und Bebel als Zeugen zitiert worden. Die Verhandlung dürfte aus den verschiedensten Gründen sehr interessant werden.
Der frühere sozialistische Reichstagsabgeordnete Kayser, der seit längerer Zeit an einer Halskrankheit leidet, musste sich vor vierzehn Tagen dem Luftröhrenschnitt unterziehen. Die Operation ist glücklich vonstatten gegangen und konnte der Leidende wiederum das Hospital verlassen. Über die Natur dieser Halskrankheit sind sich die Ärzte eben so wenig im Klaren wie über die ähnliche Krankheit des deutschen Kronprinzen. Kayser, der auf Grund des Sozialistengesetzes aus dem Regierungsbezirk Breslau ausgewiesen ist, kam bei der dortigen Polizei um die Erlaubnis ein, auf einige Zeit sich nach Breslau in die Pflege seines Bruders, der Spezialarzt für Halskrankheiten ist, begeben zu dürfen. Das Gesuch wird wohl genehmigt werden.
Die von dem Berliner Tageblatt verbreitete Nachricht, der irrsinnig gewordene Reichstagsabgeordnete Hasenclever sei gestorben, ist unwahr. Hasenclever befindet sich in fast unverändertem Zustande, in dem er in die Maison de santé nach Schöneberg kam und ist sogar die Möglichkeit vorhanden, das er, wenn nicht ein Schlaganfall oder dergleichen eintritt, noch Jahre lang lebt, aber ohne Aussicht auf Heilung. Die seitens der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion für ihn und seine Familie veranstalteten Sammlungen nehmen einen günstigen Verlauf.
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