[Nr. 881, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 54, 31. Dezember 1887, S. 8]
:: Aus Norddeutschland, 28. Dezember. Der Entwurf zum neuen Sozialistengesetz ist in der Tat, wie wir in unserer letzten Korrespondenz vermuteten, dem Büro des Reichstags am Weihnachtsabend zugegangen, doch konnte derselbe vor den Feiertagen nicht mehr druckfertig gemacht und den Mitgliedern zugestellt werden. Das wird heute oder morgen geschehen und dann wird sich zeigen, was an den bisher veröffentlichten Mitteilungen der Presse über den Inhalt desselben Wahres oder Falsches ist. Bis zu diesem Augenblick ist der wirkliche Inhalt des Entwurfes der gesamten Presse unbekannt.
Offiziös wird verbreitet, „man habe dieses strenge Geheimnis bewahrt, damit vermieden werde, dass die Vorlage während der Weihnachtszeit in sozialdemokratischen und anderen ihr von vornherein feindlichen Kreisen agitatorisch ausgenutzt werde“. Die Reichsregierung hat alle Ursache auszurufen: Herr bewahre mich vor meinen Freunden, denn tölpelhafter kann der Mangel an Vertrauen, den die Regierung in die Anerkennung der Notwendigkeit ihres Entwurfes setzt, nicht bloßgestellt werden, als das man ihr seitens der eigenen Freunde nachsagt, sie fürchte die Kritik ihrer Gegner. Der ganze Vorgang zeigt überhaupt die Staatsmannskunst unserer „Staatsmänner“ im allerzweifelhaftesten Lichte. Man muss in großer Verlegenheit sein um Gründe, wenn man glaubt durch Vorenthaltung der Vorlage vor der Öffentlichkeit die Gegner der Vorlage überrumpeln oder die Schneidigkeit ihrer Einwände abstumpfen zu können. Es heißt auch offiziöserseits Fürst Bismarck, der sich bisher allen Reichstagsverhandlungen fern gehalten hat, werde im Jänner nach Berlin kommen, um seinen ganzen Einfluss für das Durchbringen der Vorlage aufzubieten. Mag er das immerhin tun, vermag er nicht zugleich auch ein Maß und Gewicht von Gründen mitzubringen, durch die alle Bedenken niedergeschlagen werden – und das dürfte auch einem Bismarck schwer fallen – so wird er die Vorlage in ihrer neuen Gestalt nicht durchdrücken. Andererseits werden es die sozialistischen Abgeordneten an Beweismaterial für die unerhörte Korruption, die unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes möglich ist, nicht fehlen lassen. Und wenn auch nicht viel auf Gründe gegeben wird, wo die brutale Gewalt entscheidet, ohne Eindruck bleiben sie nicht.
Neben den in unserer letzten Korrespondenz erwähnten entlarvten preußisch-deutschen Polizeispionen in Zürich und Genf, wird jetzt als dritter der ehemalige badische Hauptmann von Ehrenberg genannt. Herr von Ehrenberg ist offenbar ein vielseitiges Talent. Nachdem er in der Schweiz gegen Verfolgung der deutschen Militärbehörden Zuflucht gefunden, brachte er es fertig, sich mit den Sozialisten und den Anarchisten einzulassen, gleichzeitig schmiedete er landesverräterische Pläne gegen das Deutsche Reich und schrieb mit derselben Feder, mit der er diese Pläne der französischen Regierung gegen Geld zur Benutzung anbot, an die deutsche Gesandtschaft nach Bern, sich zu Spionendiensten gegen die Sozialdemokratie anbietend. Es scheint sogar, dass Herr von Ehrenberg der moralische Urheber des Erxpatriierungsgedankens der sozialdemokratischen Führer ist. Bei der Haussuchung, welche die Züricher Behörden bei ihm vornahmen, entdeckte man auch für die „Kölnische Zeitung“ bestimmte „Vorschläge zur Sozialreform“, in welchen die Deportation der Führer angeraten wurde. Herr von Ehrenberg, der sich der gegen ihn in Zürich eingeleiteten Untersuchung durch die Flucht entzog, hat sich vor einigen Tagen, von Paris kommend, den Gerichtsbehörden in Freiburg im Breisgau gestellt, die ihn angeblich der Militärbehörde überlieferten. Vermutlich hat er von Paris aus mit seinen Berliner Gönnern konferiert und haben ihm diese zu diesem Schritt, der seine Rehabilitierung in Deutschland für jene Kreise ermöglichen soll, geraten
Bei der nächsten Beratung des Sozialisten-Gesetzes wird eine böse Schmutzwelle über das anarchistelnde preußische Polizeispitzeltum im Ausland aufgerührt werden. Diese Zustände stinken zum Himmel.
Die Ihnen vor einiger Zeit berichtete Zusammenkunft des Prinzen Wilhelm in der Wohnung des Grafen v. Waldersee mit dem antisemitischen Hetzer, Hofprediger Stoecker, und Leuten ähnlichen Schlags um gemeinsame Schritte gegen [?] die Bekämpfung der anarchistisch-sozialistischen und überhaupt antikirchliche Bestrebungen zu vereinbaren, hatte in den weitesten Kreisen da allerpeinlichste Aufsehen erregt. Unserer Bourgeoisie fing vor der Aussicht, die sich da eröffnete, zu grauen an. Ihre Presse vergaß für einen Augenblick die Hundedemut, die sie sonst auszeichnet, vor Allem, was von oben geschieht, und sprach sich bitter über ihre getäuschten Hoffnungen aus. Das hatte die erwünschte Wirkung. Ein gewisser Jemand empfand, dass er keinen klugen Streich gemacht, als er das Visier lüftete und nun beeilten sich „Nordd. Allgem. Zeit.“ und „Post“ – beides offiziöse Organe, über Herrn Stoecker wie über einen Auswürfling herzufallen und den kaiserlichen Prinzen gegen den Verdacht des Antisemitismus in Schutz zu nehmen. Die „Post“ stotterte sogar etwas „von der Gefahr für den Bestand des Reichs“, die darin liege, wenn man einen Hohenzollern-Prinzen, der Kaiser von Deutschland sein kann, des Einverständnisses mit Stoecker und Konsorten bezichtigt. Die „Post“ hat Recht, wie kann Deutschland, das jetzt eine Anleihe nach der andern aufnimmt, ohne die Hilfe des jüdischen Kapitals regiert werden? –
Dem Vernehmen nach soll der Zustand Hasenclevers in der maison de santé in Schöneberg bedenklich sein; er wurde vor Kurzem in die Station für schwere Kranke übergeführt. Die sozialistischen Reichstags-Abgeordneten veranstalten eine Sammlung zum Besten der Familie.
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