[Nr. 875, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 48, 10. Dezember 1887, S. 4]
:: Aus Norddeutschland, 6. Dezember. Der Weihnachtstisch des deutschen Volkes wird dieses Jahr sehr reichlich ausgestattet. Verdoppelung der Getreidezölle, Verlängerung der Legislaturperioden des Reichstags von drei auf fünf Jahre, Verlängerung und Verschärfung des Sozialistengesetzes und abermals Verstärkung der militärischen Rüstungen. Das sind die Gaben, die auf seinem Weihnachtstische prangen und die zu genießen ihm keine erspart wird.
Die Verdoppelung der Getreidezölle ist so gut wie beschlossen, es fragt sich nur, ob bereits der Weihnachtskuchen und für die Vielen, die keinen haben, das tägliche Brot, mit dem agrarischerseits gewünschten Preisaufschlag die Feiertage auf dem Tisch erscheint.
Die Verlängerung der Legislaturperioden ist ebenfalls sicher. Die Parteien, die hinter den Antragstellern stehen, bilden die Majorität des Reichstages Die Zustimmung der Bundesregierungen ist ihnen gewiss, und so wird die Debatte, welche der Antrag hervorruft, zur reinen Komödie. Die durchschlagendsten Gründe gegen die Vorlage werden nicht verhindern, das sie Gesetz wird. Die Macht der Regierungen wächst damit sehr bedeutend. Unbequeme Reichstage lösen sie vor der Zeit auf, bequeme bleiben fünf Jahre lang an der Arbeit, Das Volk kann die selbst gebundene Rute nicht eher los werden. Die Angst vor den Wahlen und vor der Aufregung, die dieses in den Massen verursacht, sind die Triebfedern zu dieser Beschneidung der kümmerlichen Volksrechte.
Die neue militärische Vorlage, die bis jetzt dem Reichstag noch nicht zuging, soll eine Verlängerung der Dienstpflicht der Landwehr um mehrere Jahre, und eine entsprechende Hinausschiebung der Altersgrenze für den Landsturm bezwecken Die Feldarmee wird durch diese Vorkehrungen abermals um einige hunderttausend Mann vermehrt werden. Es scheint, der höchste Zweck des Staates ist – die Vorbereitung auf den Krieg. Für diese Aufgabe müssen alle Rücksichten weichen. Aber wer weiß, ob nicht der Tag kommt, wo die Bajonette zu denken anfangen. Schon Talleyrand meinte, man könne vieles mit ihnen machen, nur setzen könne man sich nicht auf sie. Seitdem ist die Welt sieben Jahrzehnte älter geworden.
Mit der größten Spannung wird das Sozialistengesetz erwartet, das in ganz neuer Ausarbeitung erscheinen soll. „Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.“ Der Wechsel, der in nicht ferner Zeit in der Besetzung des Kaiserthrones eintritt, kommt bereits in der neuen Vorlage zum Ausdruck. Der Kranke in St. Remo scheint abgetan, während er noch am Leben ist. Auch die Lebenden reiten zuweilen schnell.
Wie verlautet, soll das neue Sozialistengesetz auf die Dauer von fünf Jahren beantragt werden, das letzte Mal auf drei. Außerdem enthalte es eine Menge Verschärfungen, darunter die wichtigste ist, das in einer Reihe von Fällen die Ausweisung nicht mehr bloß aus dem Wohnort und seiner Umgebung, sondern aus dem ganzen deutschen Reich stattfinden kann. Es tritt also vollkommene Expatriierung ein. Wir schreiben bald 1888 nach Christo.
Auf die Frage, ob der Reichstag diese Zumutungen gutheißt, wollen wir nicht eingehen. Das eine ist sicher, der jetzigen Majorität ist Alles zuzutrauen und wird sie gepeitscht, so springt sie über den Stock; sie ist ihrer selbst nicht mehr Herr.
Ein unheimlicher Geist geht in Deutschland um. Dumpfe Ruhe lagert über den Massen. schweigend nehmen sie eine Bedrückung nach der andern hin. Sie wissen, das alles Protestieren nichts mehr hilft. Die Reaktion ist an der Arbeit und sie ruht nicht eher, bis sie ihre Ernte eingeheimst hat. Diese fasst das allgemeine Schweigen als Zustimmung ihres Treibens auf und so erhebt sie immer kühner ihr Haupt. Dass dieses Schweigen auch die Ruhe vor dem Sturm sein kann, daran denkt sie nicht. In ihrem fieberhaften Eifer, die morsch und faul gewordenen Stufen des Gesellschaftsbaues neu zu untermauern, greift sie selbst zu Mitteln, die nur Kopfschütteln und die allgemeine Heiterkeit erregen. Was mehr als ein Jahrtausend dem Despotismus und für die Unterdrückung des Volks gute Dienste geleistet, das soll auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch seine Wunderkraft verrichten.
Ein gut Teil unserer Weisen im Staate hat nämlich die schöne Entdeckung gemacht, das an all den Übeln der modernen Zeit, an der Unzufriedenheit der Massen, an dem Umsichgreifen des Sozialismus, der Mangel an positivem Christentum die Hauptschuld trage, und diesem Mangel abzuhelfen, sei die erste [?] und wichtigste Aufgabe unserer Zeit. Und so traten sie denn zusammen, die ersten Stützen der Gesellschaft, der künftige Thronfolger des Deutschen Reiches, Vertreter des hohen Adels, der Plutokratie und der Kirche, um für die „innere Mission“ Hand ans Werk zu legen, wobei der Dompfaff Stöcker die Rolle des spiritus rector zufällt.
Diese Nachricht hat sehr verschiedene Beurteilung gefunden In der Sozialdemokratie zuckt man die Achsel und freut sich des Unbehagens, das man in den oberen Regionen über die sozialistische Bewegung empfindet. Auf der entgegengesetzten Seite, im reaktionären Lager, ist man entzückt, man jubelt, das so ganz unvermutet der schwarze Weizen blüht und sieht im Geiste sich um sechzig Jahre verjüngt. Die Liberalen sind verblüfft und wie aus allen Himmeln gestürzt. Mit ihren Regierungs-Hoffnungen ist es für immer vorbei: Preußen-Deutschland wird keine liberalen Minister zu sehen bekommen. Das steht felsenfest. Der, mit dem man sie erhoffte, liegt todkrank an den Ufern des mittelländischen Meeres, und sein Nachfolger ist über den Verdacht erhaben, liberalisierende Neigungen zu besitzen Was Deutschland blüht, ist die nackte Reaktion, darüber gibt sich Niemand einem Zweifel mehr hin. Wie immer der Einzelne sonst denkt, darin sind Alle einig.
Und sie wird kommen diese Reaktion und Alles zu zermalmen suchen, was sich ihr entgegenstellt. Aber auf der Höhe ihrer Triumphe angekommen, im Übermute schwelgend, wird sie für ewig in den Abgrund stürzen. Wer leben wird, wird sehen.
Schreibe einen Kommentar