[Nr. 863, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 49, 26. November 1887, S. 5 f.]
:: Norddeutschland, 22. November. In Berlin ist in der sozialdemokratischen Partei ein Streit ausgebrochen über die Beteiligung an den am heutigen Tage stattfindenden Gemeindewahlen, der bei der Bedeutung, welche die Berliner Sozialdemokratie für ganz Deutschland hat, bei Freund und Feind Aufsehen erregt.
Um den Streitfall richtig würdigen zu können ist es nötig, die Berliner Verhältnisse klarzulegen. Als im Jahre 1883 das damals bestehende Stadtverordnetenkollegium aufgelöst wurde, weil die alte Wahlkreiseinteilung bei der raschen Vergrößerung der Stadt zu den größten Ungleichheiten in der Vertretung führte, beschloss die Sozialdemokratie zum ersten Male sich bei den allgemeinen Neuwahlen zu beteiligen. Dieser Beschluss wurde mit geteilten Gefühlen aufgenommen, weil das Wahlrecht der Arbeiterpartei möglichst ungünstig ist.Es besteht nämlich in Berlin für die Gemeindewahlen das Dreiklassenwahlsystem, und zwar dergestalt, dass sämtliche Steuerzahler nach der Höhe der gezahlten Steuer in drei Klassen eingeteilt werden, von denen jede Klasse ein Drittel der Stadtverordneten, deren Gesamtzahl 126 beträgt, wählt. Da die Gesamtsteuersumme für jede Klasse dieselbe ist, so ergibt sich hieraus, das die erste Klasse eine kleine Minorität, die dritte Klasse hingegen die große Majorität der Gemeindewähler umfasst Eine weitere Bestimmung schreibt vor, das die Hälfte der Gewählten in jeder Klasse Hausbesitzer sein müssen, außerdem ist die Stimmabgabe eine öffentliche. Wahlberechtigt ist, wer das 25. Lebensjahr überschritten, einen selbstständigen Hausstand hat und mindestens in die zweite Klassensteuerstufe eingeschätzt ist, d. h. eine Staatssteuer von wenigstens 6 Mark bezahlt, die einem jährlichen Einkommen von 600–900 M. entspricht. Obgleich also die Wahlrechtsbestimmungen für die Arbeiter möglichst ungünstige sind, gelang es der energischen Agitation 5 Sitze von 42 in der 3. Klasse zu erobern. Unter den Gewählten befand sich der Reichstagsabgeordnete Singer.
Vernünftigerweise wird sich Niemand über die Bedeutung einer solchen Wahl täuschen. Die Tätigkeit der gewählten Vertreter der Arbeiter kann in der Hauptsache nur eine kritisierende sein. Da aber die Stadt nach vielen Richtungen hin großer Arbeitgeber ist, eine Menge von Wohlfahrtseinrichtungen besitzt, die für die Arbeiter von Wichtigkeit sind, Letztere auch das höchste Interesse an der Gestaltung des städtischen Bildungswesens, der Steuerverteilung etc. haben, so kann eine geschickt agierende Minorität immerhin manches Nützliche für die Arbeiter erreichen, aber noch mehr Schädliches verhüten. Die Erfahrung der bisherigen parlamentarischen Tätigkeit in Deutschland hat gezeigt, dass in Letzterem gerade der Schwerpunkt für die Sozialdemokratie liegt. Der ausgeprägteste Bourgeois hütet sich, seinem Klasseninteresse die Zügel schießen zu lassen, wenn er weiß, es sind Leute da, die ihm auf die Finger sehen und sein Streben an den Pranger stellen. Es ist auch unbestreitbar, dass die Arbeitervertretung, namentlich so lange Singer mit im Stadtverordnetenkollegium war, nützlich wirkte und sich einen gewissen Respekt verschaffte. Nach Ansicht eines größeren Teils der Berliner Sozialisten änderte sich das aber, als Singer in Folge seiner Ausweisung aus Berlin nicht mehr die Führerrolle seiner Gesinnungsgenossen im Stadthaus übernehmen konnte. Man warf den übrig gebliebenen Vier vor, sie seien schlimme Opportunisten geworden, sie hätten vergessen, wessen Interessen sie zu vertreten hätten und kam dadurch zu dem Schluss, dass die Vertretung im Rathaussaal überhaupt nutzlos und darum überflüssig, wenn nicht gar direkt schädlich sei.
Hierzu kamen noch andere Gründe. Sobald die Gewählten, meist Arbeiter, ihr Amt antreten wollten, wurden sie seitens ihrer Unternehmer aufs Pflaster geworfen. Die ganze, außerordentliche Zeitopfer erfordernde Stellung eines Stadtverordneten vertrug sich überhaupt nicht mit der eines abhängigen Arbeiters. Die Berliner Sozialisten traten also dafür ein, das den Gewählten eine selbstständige Existenz verschafft wurde. Nun will man die Erfahrung gemacht haben, das die Gewählten, einmal in dieser bürgerlich unabhängigen Stellung, anfingen, sich mehr als Bürger, denn als Arbeitervertreter zu fühlen, das sie sich um die eigentlichen proletarischen Bestrebungen nicht mehr kümmerten, ihnen hie und da sogar gegnerisch gegenübergetreten seien. Daraus entstand eine lebhafte und weit um sich greifende Missstimmung und der Ruf wurde laut, sich unter solchen Umständen an den Stadtverordnetenwahlen überhaupt nicht mehr zu beteiligen. Wähle man abermals und gelänge es, neue Leute in das Rathaus zu bringen, so werde man genötigt sein, hieß es, für diese abermals zu sorgen, um ihnen eine unabhängige Existenz zu schaffen, um dann nach einiger Zeit dieselben schlimmen Erfahrungen zu machen
Die hier angeführten Gründe sind die entscheidenden Gründe, wenn man diese auch leicht begreiflicher Weise nicht öffentlich als die wahren Gründe hinstellte.
Tatsache ist also, das der von Jahr zu Jahr, ob mit Recht oder Unrecht, lassen wir dahingestellt sein, da wir nur referieren wollen, gesteigerte Unwille dieses Jahr besonders lebhaft ausbrach und bei Vielen der Entschluss reifte, öffentlich gegen die Wahlbeteiligung vorzugehen. Die gegenüberstehenden Parteien kamen überein, die Frage, ob Wahlbeteiligung oder nicht, in einer öffentlichen Wählerversammlung, in der beide Seiten ihre Gründe darlegen sollten, zur Entscheidung zu bringen. Im Widerspruch zu den Grundsätzen, die Herr von Puttkamer 1885 öffentlich im Reichstag in Bezug auf die Wahlbeteiligung der Sozialdemokratie an den Gemeindewahlen vertreten hatte, verbot die Berliner Polizeibehörde die Versammlung. Ein zweiter Versuch misslang ebenfalls. Eine Verständigung, resp. Auseinandersetzung war also auf diesem Wege unmöglich gemacht, sie scheint aber auch auf anderem Wege, in privater Erörterung, gescheitert zu sein, denn am 12. November brachte die Nr. 15 der Berliner „Volks-Tribüne“ eine von sieben in den betreffenden Kreisen bekannten Arbeitern unterzeichnete scharfe Erklärung, durch die man sich überwiegend aus prinzipiellen Gründen entschieden gegen die Wahlbeteiligung erklärt, die Wahl unter den bestehenden Umständen als eine „Wahlposse“ bezeichnete, an der sich zu beteiligen die politische Ehre verbiete, und forderten die Unterzeichner die Arbeiter zur Wahlenthaltung auf. Obgleich dieser Aufruf bezüglich künftiger Wahlbeteiligung einige schwache Reserven machte, so war doch der ganze Eindruck desselben, das er sich prinzipiell gegen die Beteiligung an der Dreiklassenwahl aussprach, und damit war, wenn auch von Seiten der Verfasser wohl ungewollt, auch die frühere Wahlbeteiligung verurteilt.
Dieser Aufruf fand in einem Gegenaufruf der sozialistischen Stadtverordneten und einer Anzahl ihrer Anhänger im „Berliner Volksblatt“ vom 13. November eine entsprechende Entgegnung. Die Unterzeichner bestritten, das sie die praktischen Erfolge bei den Stadtverordnetenwahlen überschätzten, aber in Rücksicht auf den großen Einfluss, den die Einrichtungen der Gemeinde und die Beschlüsse der Gemeindevertreter auf das Wohl und Wehe von vielen Tausenden von Arbeitern ausübten, hielten sie die Wahlbeteiligung für notwendig Analog den Reichstagswahlen sollten auch die Gemeindewahlen nur Mittel zum Zweck sein.
Beide Parteien berufen sich dabei für ihre Ansicht auf die Beschlüsse des St. Gallener Parteitages, die einen zu Gunsten, die Andern zu Ungunsten der Wahlbeteiligung Der bezügliche in St. Gallen gefasste Beschluss lautet: „Der Parteitag empfiehlt den Parteigenossen überall da, wo Erfolge in Aussicht stehen, in die Wahlagitation einzutreten, sei es für den Reichstag, die Land- oder die Gemeindevertretungen. Doch ist insbesondere Bezug auf die letzteren sorgfältigste Erwägung geboten.“
Hiernach hängt also die Frage von der Beteiligung in Bezug auf die Kommunalwahlen allein von der Meinung der Genossen an den einzelnen Orten ab. Dass der Parteitag der Meinung war, hier auf diesem Gebiete liege die Frage besonders schwierig, beweist der in Bezug hierauf gefasste Zusatz, und zwar wurde derselbe angenommen in Rücksicht auf die schlimmen Erfahrungen, die man vielfach mit den sozialistischerseits gewählten Gemeindevertretern schon gemacht haben will.
Schlimm ist, das man in Berlin zu keiner Verständigung kam und der eine Teil sich beeilte durch Veröffentlichung eines Protestes einen Druck auf die Ansicht der Masse zu versuchen, dem die andere nicht glaubte schweigend zusehen zu dürfen. Unrecht aber ist, da man von Seiten der Wahlanhänger öffentliche Bezirksversammlungen abhielt, in denen man sich widerspruchslos der polizeilichen Bedingung – die mit dem Gesetz im Widerspruch steht – fügte, wo nur im Bezirk Wohnende an der Debatte teilnehmen durften, und damit der Opposition das Wort abgeschnitten wurde.
Und wie es denn immer in solchen Konflikten geht, Ungeschicklichkeiten aller Art bleiben hüben und drüben nicht aus, welche die Erregung nur noch steigern. Für das ganze Parteileben sind diese Differenzen im höchsten Maße schädlich, ihre Ausgleichung wird durch die Ausnahmezustände in Berlin erschwert, ja die Polizei sucht durch die Art der Handhabung des Ausnahmegesetzes den Konflikt noch zu verschärfen, weil sie das im „Interesse des Staates“ für nützlich findet. Im letzteren Umstande ist aber auch der Hauptgrund für beide Parteien enthalten, den Konflikt nicht auf die Spitze zu treiben und sich zu verständigen. Die Aussichten dazu sind allerdings durch schwer verletzende persönliche Ausfälle in der „Volks-Tribüne“, die eine scharfe, ebenfalls persönlich beleidigende Entgegnung im„Volksblatt“ hervorriefen , vorderhand sehr geringe und so wird wohl die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die in den nächsten Tagen in Folge der Einberufung des Reichstages zusammentritt, kräftig intervenieren müssen.
Soeben vor Abgang meines Briefes eingetroffene Depesche meldet Stichwahl im 37. Bezirk zwischen Sozialdemokratie und Fortschritt. Im 16. Bezirk sind die sozialistischen Kandidaten mit nur 37 Stimmen Minorität gegenüber dem Fortschritt unterlegen. Im 41 Bezirk war kein Kandidat aufgestellt worden, weil die bezügliche Versammlung polizeilich aufgelöst worden war. Unter den gegebenen Umständen ist das Resultat sehr günstig.
Der Breslauer Prozess ist ausgefallen, wie nach dem Vorspiel und der Art seiner Führung, über die haarsträubende Dinge erzählt werden, nicht anders zu erwarten war. Von den 38 Angeklagten wurden 9 freigesprochen, darunter der frühere Reichsrats-Abgeordnete Geiser, die übrigen 29 wurden mit Gefängnisstrafen von einem Monat bis zu einem Jahre verurteilt, darunter der Abgeordnete Kräcker mit sieben Monaten, dem von 5 Monaten Untersuchungshaft nicht ein Tag angerechnet wurde. Die Entscheidungsgründe sind außerordentlich dürftig, wie bei dem Mangel an strafbaren Tatsachen nicht anders zu erwarten war. Der Prozess zeigt wieder, was im Deutschen Reich heute möglich ist.
Aus dem Prozess wurde die interessante Tatsache bekannt, das der Staatsanwalt die Absicht hatte, sämtliche Teilnehmer des im Jahre 1883 in Kopenhagen stattgehabten Kongresses in ganz Deutschland in Untersuchungshaft nehmen zu lassen. Und warum? Er hoffte damit die über ganz Deutschland verbreitete geheime Verbindung, die nach seiner und vieler anderer Staatsanwälte und Polizisten Ansicht bestehen soll, aber bis heute nicht entdeckt werden konnte, ausfindig und unschädlich zu machen Der schöne Plan wurde an hoher Stelle in Berlin so bedenklich gefunden, das ihn der Breslauer Eiferer fallen lassen musste.
Zu Barmbek bei Hamburg soll vor einigen Tagen eine 60 bis 70 Köpfe zählende geheime Sozialisten-Versammlung polizeilich aufgehoben worden sein. Angeblich wäre auch viel gravierendes Material gefunden. Letztere Nachricht dürfte zu den Räubergeschichten gehören, die bei jeder Sozialisten-Verhaftung in Hamburg-Altona oder Umgebung von letzterer Stadt aus in die Welt gesandt werden.
In Berlin hat sich am Sonntag ein Schauspiel entwickelt, das die ganze Erbärmlichkeit unserer Zustände enthüllt. Einer der in meinem letzten Bericht erwähnten gefangen gewesenen Sozialisten, die angeblich das Berliner Zentral-Komitee bildeten, war wenige Tage nach der Freilassung gestorben und sollte Sonntag Vormittags beerdigt werden. Die Polizei, ein Massengeleit fürchtend, verbot die Begleitung der Leiche, die nur den nächsten Anverwandten gestattet wurde. Aber das Leichenbegängnis konnte nicht demonstrativer ausfallen als nun geschah. Dem Leichenwagen voraus ritten eine Anzahl Schutzleute eine gewaltige Macht zu Fuß und zu Pferde umgab denselben oder bildete Spalier Die Zuschauer zu Tausenden und Abertausenden begleiteten den Zug auf den Bürgersteigen. Es war ein Anblick wie er aufreizender nicht gedacht werden kann. Zwei Tage zuvor war die gesamte Berliner Schutzmannschaft und Tausende von Soldaten aufgeboten, um den lebenden Kaiser aller Reußen vor etwaigen Ausbrüchen des Volkszornes zu schützen, zwei Tage darauf hatte die Berliner Schutzmannschaft die Aufgabe, einem toten Proletarier die Liebes- und Achtungsbezeugungen des arbeitenden Volkes fern zu halten. Kann man einen stärkeren Kontrast sich denken? Mene tekel upharsin.
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