August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 879, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 53, 24. Dezember 1887, S. 6 f.]

:: Aus Norddeutschland, 21. Dezember. Der deutsche Reichstag ist am 11. d. M. auf einen vollen Monat in die Weihnachtsferien gegangen, nachdem er in viertägiger Debatte die Erhöhung der Getreide- und Mehlzölle beschlossen hat. Unsere Agrarier haben selten so vergnügte Feiertage vor sich gehabt wie dieses Mal. Zwar erlangten sie nicht die Verdoppelung der Getreidezölle , wie die Regierungsvorlage beantragte, sie mussten sich mit einer Erhöhung von 66⅔% des bisherigen Zolles auf Roggen und Weizen begnügen, aber die künstlich geschaffene Preissteigerung ist doch eine sehr ansehnliche und repräsentiert für Manchen ein kleines Vermögen, das er über Nacht gewann. Anders steht es mit Denen, die den Zoll bezahlen müssen, sie mögen sich trösten mit dem Spruch: wer da hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird genommen. Entsprechend diesem Spruch stimmten sämtliche Geistliche und ihre Freunde, katholischer und protestantischer Couleur, für die Erhöhung der Getreidezölle. Der ultramontane Domherr Moufang und der protestantisch orthodoxe Dompfaffe Stöcker begegneten sich in dem gleichen Eifer, den Armen das Brot zu verteuern und ihnen folgte Alles was schwarz ist. Wenn der „liebe Gott“, zu dem dieses Volk allsommerlich um gute Ernten betet, ihr Gebet erhört hat, müssen sie ihm ins Handwerk pfuschen, und die durch gute Ernten gedrückten Preise künstlich steigern. O! dieses Heuchlervolk!

Es muss angenagelt werden und wird Millionen bei den nächsten Wahlen hoffentlich die Augen öffnen, das ohne die Diplomatie des ultramontanen Windhorst, die Getreidezollerhöhung schwerlich durchgegangen wäre. Das Zentrum war nämlich gespalten, einer seiner Wortführer, Herr P. Reichensperger, hatte sich sogar in einer Broschüre gegen jede Zollerhöhung erklärt, Herr Windhorst selbst war, wie er offen zugab, gegen dieselbe, aber um der Welt nicht wieder das Schauspiel der Spaltung seiner Partei zu bieten und der Regierung zu zeigen, das er unter Umständen auch heute noch das Zünglein der Waage in der Hand habe, setzte er als Kompromiss den 5-Mark-Zoll, statt der geforderten 6 Mark durch und hatte den Triumph, Herrn Reichensperger ihm Heerfolge leisten zu sehen. Eine große Bewegung ging durch das Haus und wenig schmeichelhafte Zurufe wurden laut, als Herr Reichensperger entgegen seiner Broschüre, im Widerspruch mit seiner kurz zuvor gehaltenen Rede, für die 5 Mark stimmte.

Dem diplomatischen Schachzug einer christlichen Pfaffenpartei zu Liebe muss das arbeitende Volk Deutschland den höheren Getreidezoll bezahlen. Es wird wirklich immer schöner im Deutschen Reich.

Die neue Militärvorlage hat auch bereits die erste Lesung passiert und wird von allen Parteien, mit Ausnahme der Sozialdemokratie, akzeptiert werden, das hat die Debatte gezeigt. Die Opfer , die dem Volke abermals damit auferlegt werden, sind weit größer als man vorher, ehe die Vorlage bekannt war, annahm. Bisher war die Landwehrpflicht mit dem 32. Lebensjahr beendet, von jetzt ab wird sie bis zum 39. Lebensjahre ausgedehnt. Der Landsturm, dem bisher alle waffenfähigen Männer vom 17. bis 42. Jahre angehörten, wird bis zum 45. Lebensjahr verlängert und in zwei Aufgebote eingeteilt, so das die militärisch geschulten Mannschaften desselben von 39-45 Jahren als Landsturm zweiten Aufgebots sogleich mit der Landwehr ins Feld rücken müssen. Da es sich hierbei um Männer handelt, die fast sämtlich verheiratet sind, Familie haben und oft ein selbstständiges Gewerbe besitzen, so werden die Opfer, die diese wie das Gemeinwesen im Ernstfall zu bringen haben, ganz gewaltig gesteigert.

Der sozialdemokratische Redner erklärte sich gegen die Vorlage, für die er ein Bedürfnis nicht anerkennen könne, am allerwenigsten, nachdem erst dieses Frühjahr eine bedeutende Vermehrung des stehenden Heeres eingetreten sei. Die Pflicht, im Falle eines Angriffskrieges einer fremden Macht das Heimatland. zu verteidigen , erkenne er als die Pflicht eines jeden wehrfähigen Mannes an. Weil er dies tue, müsse er sich dem jetzigen Heeressystem, für einen großen Teil wehrfähiger Männer die Wehrpflicht auf dem Papier stehe, gegnerisch gegenüberstellen. Er fordere die allgemeine Volkserziehung mit Rücksicht auf die Verteidigungspflicht organisiert werde durch Einführung des obligatorischen Turnunterrichtes und der militärischen Übungen. Diese physische Ausbildung der Jugend werde auch der degenerierenden Wirkung des heutigen Fabriksystems entgegenarbeiten, werde es ermöglichen, die Dienstzeit im Heere auf ein Minimum im Vergleich zu jetzt zu reduzieren, und werde für den Kriegsfall eine weit größere und besser ausgebildete Waffenmacht schaffen als sie jetzt vorhanden sei, und ohne das man nötig habe, dem älteren Familienvater die Opfer des Krieges aufzuladen. Des Weiteren verbreitete sich der Redner über die europäische Lage und wies nach, das die Interessengemeinschaft Deutschlands mit Österreich-Ungarn und Italien eine Defensivmacht schaffe, genügend stark, um jeden Angriff zurückzuweisen, dass also die Vorlage durch die europäische Lage nicht gerechtfertigt werde.

Solche Einwände ändern natürlich am schließlichen Resultat nichts, sie können keinen anderen Zweck haben als zu zeigen, dass die Art, wie die Machthaber Gut und Blut des Volkes für ihre Zwecke glauben brauchen zu können, wenigstens auf einer Seite entschiedenem Widerstande begegnet.

Über die neue Fassung des Sozialistengesetzes schwebt bis u diesem Augenblick noch tiefes Dunkel. Der Bundesrat, der zu dem von Preußen eingebrachten Gesetzentwurf bereits letzten Freitag seine Zustimmung gab, bewahrt über den Inhalt strenges Geheimnis. Wir müssten uns sehr täuschen, wenn Bismarck-Puttkamer den Entwurf nicht erst unmittelbar vor den Feiertagen den Reichstagsmitgliedern zugehen ließen, um den Sozialisten ein passendes Weihnachtsgeschenk damit zu machen. In unseren hohen Regionen liebt man solche Scherze, die ein Ausfluss ihrer christlichen Gesinnung sind. Dass ein gewisser Christus wegen seiner Gesinnung und seiner agitatorischen Tätigkeit unter den Juden vor etwas mehr als 1800 Jahren als Hochverräter gegen das römische Reich am Kreuze sterben musste, hat man längst vergessen. Solche Reminiszenzen sind störend [?] und wie kann man zugeben, das ein Hochverräter gegen die römischen Cäsaren der Gründer einer Weltreligion die sich die Religion der Liebe nennt, gewesen sei? In der Kampfweise der Erhalter des Bestehenden hat sich seit zwei Jahrtausenden nichts geändert, damals kreuzigte man die Vertreter des Neuen, heute kerkert man sie ein, zerstört ihre Existenz, expatriiert sie. Das ist der ganze Unterschied.

Wie eine durch alle Zeitungen gehende Version lautet, soll das neue Sozialistengesetz dahin abgeändert werden, das nicht bloß die Ausweisung auf Grund des sogenannten kleinen Belagerungszustandes aus dem Rayon desselben stattfinden kann, sondern eventuell zur vollkommenen Expatriierung ausgedehnt werden soll, und zwar auch in allen den Fällen, wo Verurteilungen auf Grund des Sozialistengesetzes oder Bestrafungen wegen Teilnahme an einer geheimen oder ungesetzlichen Verbindung vorkommen. Auch soll die Teilnahme an auswärtigen Kongressen mit Strafe belegt und mit der Expatriierung bedroht sein. Ist letzteres richtig, und wir halten dafür, so ist die Abhaltung und der Verlauf des St. Galler Parteitages die Ursache davon. Man sieht ein, das die Teilnehmer desselben es verstanden, den Parteitag abzuhalten, ohne das ihnen ein Verstoß gegen irgend ein Gesetz nachgewiesen werden kann, also – schafft man ein solches Gesetz.

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, das entgegen den so bestimmt auftretenden Zeitungsmeldungen uns aus einer Quelle, die wir für gut unterrichtet halten müssen, die Nachricht zuging, die Expatriierung stehe nicht im Gesetzentwurf. Welche von den beiden Nachrichten die richtige ist, wird sich bald zeigen.

Sicher scheint zu sein, das, wenn die Expatriierung beantragt wird, sie dieses Mal noch nicht im Reichstag durchgeht. Es fehlt zu sehr an Material, um einen solchen Beschluss der Majorität schon jetzt plausibel zu machen. Aber die Expatriierung kommt später sicher. Einstweilen gilt es, die „öffentliche Meinung“ an den Gedanken zu gewöhnen. Das ist wichtig. Kommen schließlich durch „Gottes gnädige Fügung“ Ereignisse, die man ausnutzen kann, und unter Umständen kann man solche Ereignisse schaffen – il faut corriger la fortune – so wird sich das Weitere finden. Auch gibt es wohl keinen Sozialdemokraten im Deutschen Reich, der nicht auf die äußerste Verfolgung seiner Partei gefasst ist, wenn ein gewisser Jemand, auf den Alles, was reaktionär im Deutschen Reich ist, wie auf einen Messias hofft, die Geschicke Deutschlands in die Hand bekommt. Dann wird es heißen, wie zu König Rehabeams Zeit in Israel, der nach dem Rat der Jungen, die mit ihm aufgewachsen waren, dem Volk, das um mildes und gerechtes Regiment ihn bat, antwortete: „Hat mein Vater Euer Joch schwer gemacht , so will ich es mehr dazu machen. Mein Vater hat Euch mit Peitschen gezüchtiget, Ich aber mit Skorpionen“ Es ist ein sehr lehrreiches Kapitel, das Kapitel 10, Chronika 2, der Bibel, dem wir unser Sprüchlein entnehmen. Es könnte sehr lehrreich sein, wenn es nicht auch hieße: wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit.

Warten wir ab, was kommt. Wie schlimm immer es komme, überraschen wird man nicht die deutsche Sozialdemokratie. Gewiss ist, dass diesmal das Sozialistengesetz nicht nur auf fünf Jahre verlängert wird, sondern das auch eine Anzahl Verschärfungen angenommen werden. Ganz begreiflich. Die herrschenden Klassen sind vom Gefühl der Ohnmacht und von der Unzulänglichkeit ihrer Mittel, die Arbeiterklasse zu befriedigen, zu sehr überzeugt, als dass sie den Alb, der auf ihnen lastet, nicht mit den verzweifeltsten Mitteln los zu werden trachteten. Sie haben zwar Einsicht genug sich zu sagen, das auch das nicht hilft, das es wahrscheinlich die Dinge verschlimmert, aber beweist dem Ertrinkenden, dass ihm dass Anklammern an den Strohhalm nichts hilft, er gibt Euch recht und – greift doch darnach. Die deutsche Sozialdemokratie hat diese Woche Glück gehabt. Es ist ihr gelungen, nicht weniger als drei geheime Polizeispitzel kurz hintereinander zu entlarven. In Berlin wurde ein gewisser Nickel, der dort in der Bewegung als einer der vorlautesten und radikalsten Schreier sich gebärdete, entlarvt und von den entrüsteten Sozialisten mit einer gehörigen Tracht Prügel entlassen. In Genf gelang dasselbe mit einem gewissen Haupt, der in der Bewegung dort eine große Rolle spielte, und der, als er sah, das alles Leugnen nichts half, zugab, seit sieben Jahren im Dienste der Berliner Polizei zu stehen. Der Hauptfang aber wurde in Zürich gemacht, wo der Präsident der Schreiner-Gewerksgenossenschaft Agent und Schreiner Schröder gründlich die Larve vom Gesicht gerissen bekam. Bei Schröder wurde eine Kiste Dynamit in der Werkstatt entdeckt, er stand in intimen Beziehungen zu dem Anarchisten Kaufmann, der wieder ein Freund von Stellmacher war. Schröder gestand Alles ein, als er sah, das Alles verloren war. Er sagte aus, dass er seit vier Jahren im Dienste der Berliner Polizei stehe und monatlich 250 Mark Gehalt beziehe, das er sein Gewerbe als Schreiner und Agent nur zum Schein betreibe usw.

Schröder wurde von der Züricher Polizei wegen des bei ihm gefundenen Dynamits verhaftet und wird ihm wohl der Prozess gemacht werden. Ein preußischer Polizeispion vor Züricher Richtern als Agent provocateur auf der Anklagebank, das gibt ein Schauspiel für Götter und Sozialdemokraten Dieser ganze Skandal wird im Reichstag bei Beratung des Sozialistengesetzes gründlich aufgedeckt werden und wird es Herrn von Puttkamer nicht leicht fallen, sich die bekannte Unschuldspose zu bewahren.


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