Clara Zetkin: Der erste Ansturm

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 5, 6. März 1895, S. 33 f.]

Zum ersten Male ist im deutschen Parlamente die Forderung erhoben worden auf das unbeschränkte Bürgerrecht der Frau, auf die volle politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts. Und dies durch den von Bebel begründeten Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, welcher für alle Bundesstaaten die Schaffung einer gesetzgebenden Körperschaft auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts fordert und das aktive und passive Wahlrecht auch für das weibliche Geschlecht verlangt.

Bezeichnender Weise, aber dem Gang der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland durchaus entsprechend, ist es nicht das Bürgertum, ja nicht einmal dessen fortgeschrittenster Flügel, sondern die Sozialdemokratie, welche als Vorkämpferin auftritt für einen Kulturfortschritt ersten Ranges. Der beschränkteste Klassenegoismus und die schlotternde Klassenfurcht vor dem Proletariat haben sich wie Mehltau auf das politische Leben des deutschen Bürgertums gelegt und seine Entfaltung zu voller Blüte verhindert. Wir stehen der Erscheinung gegenüber, dass in jeder Beziehung die politische Gegenwart unserer Bourgeoisie ihrer Vergangenheit ins Gesicht schlägt, dass ihre Taten ihre Ideale mit Füßen treten, dass sie die Entwicklung nicht mehr vorwärts führt, vielmehr derselben rückwärts bremsen möchte. Auf bürgerlicher Seite kein Verständnis für Reformen, kein Sinn für die Erweiterung der Volksrechte, kein Erfassen unserer Zeit und ihrer Aufgaben. So ist es erklärlich, um nicht zu sagen natürlich, dass die bürgerlichen Parteien insgesamt die von der Sozialdemokratie geforderte politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts als einen Gräuel und Scheuel zurückweisen. Und das im Jahre des Heils 1895, wo es im Deutschen Reiche gegen sechs Millionen Frauen und Mädchen gibt, die ihr Brot durch selbständige Berufsarbeit suchen müssen!

Keiner der bürgerlichen Politiker, welche sich bei jeder Gelegenheit als die berufenen Bannerträger und Schildknappen der Freiheit des Individuums aufspielen, öffnete den Mund, um für die Frauen jene freie Betätigung des Individuums im politischen Leben zu fordern. Die Wortführer der bürgerlichen Parteien schwiegen sich über die Frage aus, oder sie schwenkten nach deutscher Männer Art mit fröhlichem Stolze den Zopf altersgrauer Vorurteile von der „natürlichen“ und „sittlichen“ Bestimmung des weiblichen Geschlechts. Mit seiner Haltung spottet der bürgerliche Liberalismus seiner selbst, er weiß nicht wie. Entpuppt sich die früher beschworene Losung von den allgemeinen Menschenrechten als Phrase, so lange die wirtschaftliche Sklaverei des Proletariats fortbesteht, so stellt es sich als Phrase der Phrasen dar, von allgemeinen Menschenrechten zu reden, dieweil das weibliche Geschlecht politisch noch nicht mündig gesprochen worden ist und politisch rechtlos Unmündigen, Blödsinnigen und bürgerlich Ehrlosen zugesellt bleibt.

Freilich hat die deutsche Bourgeoisie ganz andere Gründe für diese ihre bornierte Verleugnung ihrer ehemaligen Grundsätze, als den bloßen Respekt vor der blöden und seichten Philistermoral von der „Natur“ und den „sittlichen Aufgaben“ des Weibes. Die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts würde zur Zertrümmerung aller Schranken führen, welche den Frauen gegenwärtig noch den Zutritt zu den höheren Lehranstalten und die unbeschränkte Ausübung der liberalen Berufe verwehren. Eine Überschwemmung dieser Berufe mit weiblichen Kräften wäre die Folge davon und ein wilder, erbitterter Konkurrenzkampf zwischen Männern und Frauen der bürgerlichen Kreise, den zu entfesseln man sich begreiflicherweise so lange als möglich sträubt. Konkurrenzkampf, Brotneid ist einer der maßgebenden letzten Gründe für den Widerstand gegen die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts. Und die Furcht vor der klassenbewussten Proletarierin ist der andere, noch viel schwerer ins Gewicht fallende Grund hierfür.

Die deutsche bürgerliche Frauenrechtelei macht den herrschenden Gewalten wahrlich keine Beschwer. Sie war allezeit im Großen und Ganzen gut fürstenfromm, undemokratisch, zersplittert und weder einsichtsvoll noch charakterfest genug, die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts durch einen energischen Kampf erringen zu wollen. Aber abseits von der bürgerlichen Frauenrechtelei ist eine kräftige proletarische Frauenbewegung empor gesprosst. Zielklar, klassenbewusst bekennt sie sich unumwunden zum Prinzip des Klassenkampfs, zu dem Programm der Sozialdemokratie, erbittet sie nicht Frauenrechte, sondern kämpft sie für die Befreiung der Arbeiterklasse, für die Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft. Die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts würde in erster Linie dieser Bewegung zu gute kommen, ihre Trägerinnen mit neuen, besseren Waffen gegen die Klassenherrschaft der Besitzenden ausrüsten; sie müsste dem Heere der Sozialdemokratie aus den Reihen der proletarischen Frauenwelt zahlreiche Streiterinnen zuführen, welche gleich wehrtüchtig wie der proletarische Mann am Befreiungskampfe ihrer Klasse teilnehmen könnten. In Deutschland ist gerade die politische Reife eines nicht unbeträchtlichen Teils der werktätigen Frauen der ausschlaggebende Grund dafür, dass man dem weiblichen Geschlecht seine politische Gleichberechtigung vorenthält, und das nicht selten unter Berufung auf seine geistige Unreife.

Die deutsche Frau könnte deshalb bis auf Sankt Nimmerlein warten, wenn sie ihre politische Gleichberechtigung von dem Verständnis und dem Gerechtigkeitsgefühl der Bourgeoisie erhoffen wollte. Aber was ihr das Bürgertum – auch das liberalste – versagt, das wird und muss ihr die Sozialdemokratie erkämpfen. Nicht auf Grund ideologischer Erwägungen fordert diese die politische Gleichberechtigung der Frau, nicht lediglich um der schönen Augen der Gerechtigkeit willen betätigt sie sich als Vorkämpferin für eine Reform von tief einschneidendster Bedeutung. Ihre Haltung wird bestimmt durch das wohlerwogene, zwingende Klasseninteresse des Proletariats. Dieses kann auf gewerkschaftlichem und politischem Gebiete der energischen und überzeugten Kampfesgenossenschaft der proletarischen Frau nicht länger entraten. Die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts aber schafft erst der Proletarierin von Gesetzes wegen die unerlässliche Ellbogenfreiheit, sich als zielsichere Mitstreiterin im Ringen der Klassen betätigen zu können.

So gründet das Eintreten der Sozialdemokratie für das unbeschränkte Bürgerrecht der Frau nicht auf dem Flugsand schöngeistiger und idealistischer Schlagworte, vielmehr auf dem granitenen Felsen des Klasseninteresses des revolutionären Proletariats. Und deshalb wird der Ansturm für Eroberung der politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts wieder und wieder von der Sozialdemokratie unternommen werden, allem Vorurteil des Philistertums zum Trotz und allem Klassenegoismus der Besitzenden zum Trotz. In feiger Angst schmettert die greisenhaft abgelebte Bourgeoisie eines ihrer Ideale nach dem anderen in den Staub. In jugendfrischer Begeisterung hebt sie das Proletariat auf, mit kraftvollem Kampfesmut tritt es für ihre Verwirklichung ein. Die Flucht der Erscheinungen, welche an uns vorüber rast, kündet mit dem politischen Verfall der Bourgeoisie das Ende einer Welt, der bürgerlichen Welt. Gleichzeitig aber auch mit der revolutionären Schilderhebung der Besitzlosen die Morgendämmerung einer neuen Zeit, der die Menschheit unter Führung des klassenbewussten Proletariats rüstig entgegen schreitet.


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