August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 905, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 7, 2. Februar 1889, S. 8]

:: Aus Norddeutschland, 8. Februar. Die erste Beratung des Sozialistengesetzes im deutschen Reichstage hat einen Verlauf genommen, den weder die Bundesregierungen noch der Reichstag erwarteten. Man konnte und musste annehmen, das, sobald sich die Regierungen entschlossen hatten, nicht bloß die Verlängerung des Sozialistengesetzes, sondern auch eine sehr erhebliche Verschärfung desselben zu beantragen, sie auch mit dem nötigen Begründungsmaterial versehen sein würden. War schon die Enttäuschung groß, das die Motive zu dem Gesetzentwurf nichts als die Wiederholung der schon so oft gehörten Klagen über die Sozialdemokratie enthielten und sich dabei in den greifbarsten Widersprüchen bewegten, so war die Enttäuschung noch größer, als auch bei der Beratung sich herausstellte, das die Regierungen absolut nichts vorzubringen vermochten, das die Verschärfungen rechtfertigte Aber die Beratung nahm noch einen ganz unerwarteten Verlauf dadurch, das die Sozialdemokratie ihrerseits von der Verteidigung zum Angriff überging und über das Treiben angeworbener Polizeiagenten Dinge enthüllte, die Niemand für möglich gehalten. Die Verblüffung über diese Enthüllungen grenzte an vollkommene Konsternation, die sich zumeist der Vertreter am Regierungstisch bemächtigt hatte, die ratlos den gemachten Anklagen gegenüberstanden. Alles, wozu sich der preußische Minister des Innern, Herr v. Puttkamer, aufraffen konnte, war, in erregtestem Tone zu versichern, das er an diesem Treiben der Agents provocateurs unschuldig sei und von den ganzen Vorgängen keine Kenntnis habe. Von einer Widerlegung der vorgebrachten Anklagen war weder am ersten, noch am zweiten, noch am dritten Tage der Beratung die Rede

Die Wirkung der dreitägigen Debatten auf die öffentliche Meinung ist schwer zu beschreiben. Bei keiner Debatte zuvor waren die Massen so erregt. wie diesmal und nie war der moralische Sieg der Sozialdemokratie größer als nach dieser dreitägigen Schlacht Die Angeklagten waren die Sieger, die Verfolger wurden die Angeklagten Das System erhielt eine Niederlage, von der es sich schwer wieder erholen wird.

Darüber ist heute alle Welt einig, das das Sozialistengesetz auf die Dauer nicht zu halten ist, dass seine moralischen Schäden größer sind als seine Vorteile, und das es notwendig wird, so oder so zu dem normalen Zustand, zur Herrschaft dess gemeinen Rechts zurückzukehren. Freilich über das „Wie“ gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Doch unsere Aufgabe ist es nicht, uns die Köpfe für unsere Gegner zu zerbrechen; sie mögen sehen, wie sie die selbst eingerührte Suppe, die anfängt ihnen am meisten unangenehm zu werden, ausessen.

Fest steht, und das ist das Resultat der Generaldebatte über das Gesetz, das alle beantragten Verschärfungen abgelehnt werden, und das das alte Gesetz nicht auf fünf Jahre, wie die Regierungen wünschen, sondern nur auf zwei Jahre bewilligt werden wird, mittlerweile solle ein Weg, aus dem bisherigen Zustand herauszukommen, gesucht werden.

Unter den von den sozialistischen Rednern im Reichstag als Polizeispitzel Angeklagten befindet sich auch der Hauptmann a. D. von Ehrenberg, der seitens des Schweizer Bundesrats wegen anarchistischer Umtriebe aus der Schweiz ausgewiesen wurde. Es erweckt nun das allergrößte Aufsehen, das dieser Herr v. Ehrenberg, der nach seiner Flucht aus der Schweiz – wo er in Untersuchungshaft sich befand – nach Deutschland gekommen und in Karlsruhe seitdem in Militärgewahrsam gehalten wurde, zwei Tage nach seiner Ausweisung aus der Schweiz und einen Tag nah der fulminanten wider ihn im Reichstag erhobenen Anklage, landes- und hochverräterische Unternehmungen gegen Deutschland angezettelt zu haben, demonstrativ aus der Militärhaft entlassen wurde. Herr v. Ehrenberg befindet sich augenblicklich in Wiesbaden, erklärt frech, das alle wider ihn erhobenen Anschuldigungen erlogen seien, und droht den Stil umzukehren, indem nicht er, sondern seine Ankläger es seien, die alle die ihm vorgeworfenen Handlungen begangen hätten. Das ist eine ganz unglaubliche Frechheit, zu welcher dieser Herr sich schwerlich herbeilassen würde, wenn er nicht dächte an höherer Stelle größeren Rückhalt zu finden.

Sicher ist der Fall einzig, das ein deutscher Offizier, wegen anarchistischer Umtriebe von einem fremden Staate ausgewiesen, sich in Deutschland aufhalten kann, ohne das das Ehrengerichtsverfahren gegen ihn eingeleitet wird. Bisher wurde das schon gegen Offiziere eingeleitet, die sich der bürgerlichen Opposition angeschlossen hatten, wie z. B. gegen den Major a. D. Hinke, der den Deutsch-Freisinnigen beitrat, und hier bleibt ein ausgesprochener Anarchist und Revolutionär ungeschoren. Bei der zweiten oder dritten Lesung des Gesetzes dürfte dieser Fall den sozialistischen Rednern zu weiteren Erörterungen Veranlassung geben.

Den Enthüllungen über die Agents provocateurs im Reichstag folgen jetzt andere Enthüllungen außerhalb des Reichstags. So ist der Schriftsetzer Karl Herrmann, der sich in Warnsdorf in Böhmen als Anarchist aufhielt, als preußischer Polizeispion entlarvt worden, und zwar im Dienste der Magdeburger Polizei stehend. Herrmann hatte die Aufgabe, anarchistische Schriften, die aus Belgien kamen, von Sachsen aus über die österreichische Grenze zu schmuggeln, die er dann bis ins Innere von Österreich, nach Linz etc., sandte. Weiter sind in diesen Tagen in Belgien zwei Anarchisten, und zwar in Angleur und Seraing in der Gegend von Lüttich, als deutsche Polizeispione entlarvt worden, und wurden bei Beiden ganze Ballen anarchistischer Schriften gefunden. Das Interessante bei diesem Fang ist, das diese Beiden der belgischen Polizei als preußische Polizeibeamte, welche die deutschen Anarchisten und Sozialisten im Lütticher Revier überwachen sollten, sehr wohl bekannt waren. In Belgien besteht der unerhörte Zustand, dass preußische Polizeibeamte mit Wissen der belgischen Regierung und Polizei sich dort aufhalten und spionieren, und zwei von diesen entpuppen sich jetzt als Agents provocateurs. Es wird in der Tat immer schöner; es scheint, die Polizei selbst hat das größte Interesse daran, den Anarchismus künstlich am Leben zu halten, wo er keine natürlichen Existenzbedingungen findet.

Die Aufregung, welche die Verhandlungen über das Sozialistengesetz erzeugten, ist in den Hintergrund gedrängt worden durch die Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Bündnisvertrages und die Rede, die Fürst Bismarck am Montag anlässlich der neuen Heeresorganisationsvorlage im Reichstag über die europäische Lage hielt. Die Lobredner des Reichskanzlers sind ob dessen Rede ganz aus dem Häuschen und preisen sie als ein Meisterstück diplomatischer Kunst und Gewandtheit. Im Grunde genommen hat Fürst Bismarck weder besonders Neues noch außerordentlich Wichtiges gesagt. Er bestätigte nur, was neulich schon einmal der sozialdemokratische Redner bei der neuen Wehrvorlage sagte: die Lebensinteressen Deutschlands und Österreichs seien bei der dermaligen politischen Lage Europas so identische, das auch ohne Bündnisvertrag die beiden Reiche nebst Italien auf gegenseitige Unterstützung und Hilfe angewiesen seien. Dagegen wird man in Österreich schwerlich der Ansicht sein, das es Deutschland gleichgültig sein könne, wie die Dinge in Bulgarien sich gestalteten, ja, dass Deutschland hier Russlands Ansprüche nach Kräften zu unterstützen vermöchte. Das erachten wir für grundfalsch. Am Balkan und Bosporus wird die Zukunft der deutschen Ostseeprovinzen und die Herrschaft über die Ostsee entschieden. Hat Russland Bulgarien in seiner Gewalt, so hat es in Kürze auch Konstantinopel und die Dardanellen unter seiner Herrschaft, und damit wird die Macht und der Einfluss Österreichs auf der Balkanhalbinsel, im adriatischen und mittelländischen Meere direkt bedroht und untergraben. Mit der Herrschaft über die Balkanhalbinsel ist aber die Expansiv- und Aggressivmacht Russlands so kolossal gewachsen, das der Kampf um die deutschen Ostseeprovinzen und um die Herrschaft in der Ostsee nur eine Frage kurzer Zeit ist. Ein deutscher Staatsmann, der nicht bloß von heute auf morgen seine Politik treibt, sondern Jahrzehnte voraus sieht und sich bewusst ist, dass die Fehler, die er macht, seine Nachfolger bitter zu büßen haben werden, kann und darf Österreich in seiner Orientpolitik nicht im Stich lassen.

Die ganze Rede Bismarcks hat überhaupt gezeigt, das er es bitter schmerzlich empfindet, in Russland nicht mehr den alten Alliierten aus den Zeiten der heiligen Allianz zu besitzen Seine ganze Rede war ein Mal über das andere Mal eine Verbeugung gegen Russland, was ihm in Russland allerdings gar nichts helfen wird, dort sieht man darin höchstens ein Zeichen der Schwäche. Auch will uns das wiederholte Hervorheben der gewaltigen Macht, die Deutschland militärisch zu entfalten im Stande sei, nicht gefallen.

Das Eine ging aus der Rede unzweifelhaft hervor: Bismarck will keinen Krieg, und das begreifen wir. Wie stark immer Deutschland sein mag, und wie sicher es vor einem militärischen Unterliegen ist, es kommen im Falle eines Krieges sehr viele andere ungünstigere Momente in Betracht sobald der Krieg zu einem europäischen wird – und das wird er auf jeden Fall – ist Deutschland vom Meere und von allen Zufuhren abgeschnitten. Auf sich selbst im Wesentlichen angewiesen, vermag es nicht auf längere Zeit den ungeheuren Verbrauch für die Unterhaltung der Armee und des Volkes zu beschaffen. Es ist also zu befürchten, das die Lebensmittelpreise eine in den letzten vier Jahrzehnten nie dagewesene Höhe erreichen. Dazu kommen die absolute Stockung der Ausfuhr von Industrieerzeugnissen, die furchtbaren Rückschläge, welche diese Stockung der Ausfuhr, verbunden mit der Masseneinberufung der Männer zu den Fahnen verursacht, Entwertung aller Papiere, Massenbankrotte, allgemeine Arbeitslosigkeit. Kurz, es entsteht ein Zustand, dessen schließliche Folgen Niemand zu übersehen vermag, und zwar um so weniger, je gewisser ist, das der nächste Krieg ein Krieg bis aufs Messer, ein gegenseitiger Vernichtungskrieg wird, in dem man sich bis zur äußersten Erschöpfung bekämpft. Alles das wohl erwogen, will Fürst Bismarck nicht den Krieg, ja er hat Furcht vor dem Krieg, nicht weil er schließlich eine militärische Niederlage führtet – die unseres Erachtens nicht zu befürchten ist – sondern weil der Krieg Zustände gebären könnte, an die heute Niemand denkt, und die alles Bestehende in Frage stellen; dann weil Deutschland auch nah einem siegreichen Kriege mit seinen Riesenopfern nichts zu gewinnen hat. Die Art, wie Fürst Bismarck vor dem Kriege warnte und mehrfach sehr nachdrücklich auf die deutsche Überlegenheit pochte, bestärkt in uns die Ansicht: er will den Krieg nicht, weil er ihn nicht wollen darf.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert