[Nach Der Kampf. Jahrgang 4, 2. Heft, 1. November 1910, S. 68-74. Der Artikel ist über weite Strecken mit diesem Artikel identisch. Aber in ihm kommt Trotzkis damaliges Versöhnlertum gegenüber den Menschewiki stärker zum Ausdruck]
Als die große französische Revolution durch die europäische Reaktion, die die heilige Allianz zur Welt brachte, abgelöst wurde; als die Konterrevolution alle ihre Kräfte anstrengte, um mit der Erbschaft des Jahres 1848 fertig zu werden, da trat jedes Mal auf die Bühne die Orientfrage. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Marx hingewiesen. Und jetzt, nach der Niederlage der Revolution in Russland, gleichwie zu dem Zweck, um den Skeptikern das Recht zur Behauptung zu geben, die Geschichte drehe sich in einem verzauberten Kreis, ist die Orientfrage wieder auf die Tagesordnung gestellt worden. Aber welch gewaltiger Unterschied! Dort kritzelten die europäischen Diplomaten mit ihren Nägeln nach Belieben auf der Landkarte der Balkanhalbinsel herum und entschieden über das Schicksal der Völker; hier erwachen die Balkanvölker selber zum historischen Leben, die Balkanfrage wird zu ihrer eigenen Frage, der Rückkehr des Zarismus auf den Balkan stellt die Türkei ihre eigene Revolution entgegen; der balkanische Kapitalismus beginnt auf festen Füßen zu stehen; aus dem jahrhundertelangen Chaos tritt die Sozialdemokratie der Balkanvölker hervor. Und wenn selbst für die europäische Diplomatie der südöstliche Auslauf Europas aufhört, ein passives Objekt der raubsüchtigen Kombinationen zu sein, muss er desto mehr für die europäische Sozialdemokratie aus einem unpersönlichen geographischen Terminus zu einem lebendigen politischen Begriff werden: dort wächst empor und nimmt eine immer bestimmtere Gestalt an die Balkansektion der Internationale.
Die kapitalistische Entwicklung des Nahen Ostens zeichnet sich durch ihren kolonialen Charakter aus. Die europäische Börse, die die Balkanstaaten mit Netzen von Schuldverpflichtungen umwickelt hat, ruiniert mit Hilfe der „nationalen“ Fiskalapparate die Bauern und Handwerker des Balkan, ohne Unterschied des Stammes und der Rasse; die europäischen Waren töten die Hausindustrie und das Handwerk; endlich errichtet das europäische Industriekapital, indem es sich den heimischen Kapitalismus unterwirft, Eisenbahnen und industrielle Unternehmungen des neuesten kapitalistischen Musters auf dem Balkan. Diese Entwicklung zwängt das hausindustrielle Kleinbürgertum schon in den Anfängen seiner historischen Existenz in eine Klemme. Seine ökonomische Zersetzung ergänzt sich durch seine politische Fäulnis; zusammen mit der ruinierten Bauernschaft wird es zum Kanonenfutter der Wahlmacher, der Marktdemagogen, der dynastischen und antidynastischen Scharlatane, die aus dem Dünger des agrarkolonialen Parlamentarismus wie Pilze emporschießen. Die kleine Zwischenschicht der großen Bourgeoisie, die ihre historische Laufbahn mit den Worten Kartell und Aussperrung im Munde betreten hat, ist von den Massen politisch völlig getrennt und sucht eine Stütze in den europäischen Banken. Der Kolonialcharakter der kapitalistischen Entwicklung der Balkanländer, der hier noch greller hervortritt als in Russland, lässt das Proletariat als Vorkämpfer erscheinen, übergibt in seine Hände die konzentriertesten Produktivkräfte des Landes und verschafft ihm eine politische Bedeutung, die seine numerische Größe weit übertrifft. Wie in Russland die Hauptbürde des Kampfes mit dem hausmachtbürokratischen Regime auf die Schultern des Proletariats fällt, so stellt auch auf dem Balkan nur das Proletariat die Aufgabe der Schaffung von normalen Bedingungen für das Zusammenleben und Zusammenwirken der zahlreichen Nationen und Stämme der Halbinsel in ihrem vollen Umfang vor sich. Es handelt sich darum, auf dem Territorium, dessen Grenzen durch die Natur festgestellt sind, hinreichend weite und elastische Staatsformen zu schaffen, Staatsformen, die imstande wären, auf der Basis der nationalen Autonomie der Teile, der ganzen Bevölkerung der Halbinsel die Einheit des inneren Marktes und der allgemeinen Staatsorgane zu sichern; „den Partikularismus und die Beschränktheit loszuwerden; die vielen Grenzen zu vernichten, die teils die Völker derselben Zunge und Kultur, teils die Länder, die wirtschaftlich aufeinander angewiesen sind, trennen; endlich die direkten oder indirekten Formen der Fremdherrschaft, die das Volk des Rechtes, sein Schicksal selber zu bestimmen, beraubt, zu stürzen“ – in diesen negativen Ausdrücken formulierte ihr Programm die erste Konferenz der sozialdemokratischen Parteien und Gruppen des europäischen Südostens, die vom 7. bis 9. Jänner 1910 in Belgrad abgehalten wurde*.
Das daraus folgende positive Programm, geschichtlich durch die Erfahrung der Vereinigten Staaten und der Schweiz gerechtfertigt, heißt: die föderative Balkanrepublik.
Die Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung stoßen alltäglich auf die engen Zellen des Partikularismus auf der Halbinsel, und die Föderation wird zum Gedanken der Regierungskreise auf dem Balkan selbst. Und noch mehr. Die zarische Regierung, ohnmächtig, auf dem Balkan eine selbständige Rolle zu spielen, versucht als Initiator und Patron des bulgarisch-serbisch-türkischen Bundes aufzutreten, dessen Spitzen gegen Österreich-Ungarn gerichtet wären. Hier handelt es sich aber nur um schwankende Pläne eines provisorischen Bundes der Balkandynastien und politischen Parteien, der seinem ganzen Wesen nach nicht imstande ist, Freiheit und Frieden auf dem Balkan zu garantieren. Mit diesem Gedanken hat das Programm des Proletariats nichts gemein. Es ist gegen die Balkandynastien und die politischen Koterien, gegen den Militarismus der Balkanstaaten wie gegen den europäischen Imperialismus gerichtet, gegen das offizielle Russland wie gegen das habsburgische Österreich-Ungarn. Seine Methode bilden nicht die diplomatischen Kombinationen, sondern der Klassenkampf, nicht Balkankriege, sondern Balkanrevolutionen.
Freilich sind die Arbeiter der Balkanländer zurzeit noch allzu schwach, um ihr politisches Programm ins Leben setzen zu können. Sie werden aber morgen stärker sein. Die kapitalistische Entwicklung auf dem Balkan vollzieht sich unter dem hohen Drucke des Finanzkapitals Europas, und die nächste Periode des industriellen Aufschwunges – sein Herannahen wird durch das Baufieber in Sofia angekündigt – kann in einigen Jahren die von Natur reich begabte und glücklich gelegene Halbinsel industrialisieren. Auf dieser Basis kann die nächste ernste europäische Erschütterung die Sozialdemokratie der Balkanländer, wie es im Jahre 1905 mit der russischen geschah, in den Mittelpunkt der entscheidenden Ereignisse stellen. Aber schon heute besitzt das Programm der föderativen Balkanrepublik eine ernste praktische Bedeutung: nicht nur, dass dieses Programm die alltägliche politische Agitation leitet, indem es in sie prinzipielle Einheit hinein trägt, es bildet, was noch wichtiger ist, die Grundlage, auf der die nationalen Arbeiterorganisationen der Halbinsel sich einander nähern, und schafft auf diese Weise die vereinigte Balkansektion der internationalen Sozialdemokratie.
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Das Verdienst der Initiative zur Vereinigung des Proletariats der Balkanländer gehört den sozialdemokratischen Parteien Serbiens und Bulgariens. Trotz ihrer Jugend – wenn man von ihrer ideologischen Vorgeschichte, die bei den Bulgaren viel länger ist, absieht und sie bloß als Arbeiterorganisationen betrachtet, zählt jede von ihnen erst ein sieben- bis achtjähriges Lebensalter – haben sie schon große Verdienste der Internationale gegenüber. In dem kritischen Augenblick, nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina, als das ganze Serbien von dem Revanchefieber ergriffen wurde, widersetzte sich die Sozialdemokratie mutig dem allgemeinen Strom. Genosse Katzlerowitsch, der einzige Deputierte der Partei in der Skupschtina, hatte den Mut, den berauschten Nationalisten und nüchternen Intriganten die bittere Wahrheit ins Antlitz zu schleudern. „Radnicke Novine“, das Zentralorgan der Partei, eröffnete eine rücksichtslose Kampagne gegen das Haupt der Belgrader Kriegsclique, den Prinzen Georg, den die Sozialdemokratie im Verlaufe von wenigen Tagen bis zum Verzicht auf die Thronrechte brachte. Und diese Taktik, die politischen Realismus mit revolutionärem Mut vereinigte, stärkte die Partei in organisatorischer Hinsicht und vergrößerte ihren politischen Einfluss. Dasselbe gilt auch von der bulgarischen Sozialdemokratie, die unversöhnlich zuerst gegen die patriotische Aventüre, die den Scheinvasallfürsten in einen unabhängigen „Zaren der Bulgaren“ umwandelte, dann gegen die vermittelnde Einmischung Russlands in den bulgarisch-türkischen Konflikt kämpfte. Der Kampf gegen die neu-panslawistische Demagogie, die sich liberal gebärdet, aber bis ins Mark reaktionär ist, bildet ein wichtiges Verdienst wie der serbischen so auch der bulgarischen Sozialdemokratie. Ihren letzten Parteitag vom 24. bis 26. Juli dieses Jahres verwandelte die bulgarische Partei in eine wirksame „Demonstration des Pan-Sozialismus gegen den Panslawismus“, indem sie nach Sofia Vertreter der russischen, polnischen, tschechischen, serbischen Sozialdemokratie eingeladen hat, Vertreter des Proletariats derselben Nationen, deren bürgerliche Politiker einige Wochen früher in demselben Sofia die panslawistische Brüderlichkeit simulierten. Und obgleich die russophile Presse Sofias genug Unverschämtheit, Dummheit und Feigheit besaß, um den sozialdemokratischen Kongress totzuschweigen, sprach er beredt genug für sich selbst; die Straßendemonstration des 24. Juli, an der drei- bis viertausend Arbeiter teilnahmen, die Begrüßungsreden der fremden Delegierten in den offenen Versammlungen des Parteitages, im Hofe des Arbeiterheims in Anwesenheit vieler hundert Gäste, das öffentliche Referat über die russische Revolution, von dem in der ganzen Stadt angeklebte rote Plakate verkündeten, feierliche öffentliche Dispute über die Balkanfrage, durch das Referat Blagojews eröffnet, all dies stellte, trotz aller Anstrengungen der bürgerlichen Presse, den sozialdemokratischen Parteitag in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit und machte ihn zu einer bedeutungsvollen Episode in der Geschichte der jungen bulgarischen Partei.
Wir erwähnten die Verschweigungsverschwörung der bürgerlichen Presse. Es muss noch hinzugefügt werden, dass die einzige Tageszeitung, die sich mit mehr oder weniger Recht sozialistisch nennt, die „Kambana“ („Glocke“), sehr gewissenhaft die internationale Manifestation gegen den Panslawismus verschwieg, nicht so sehr aus politischen, als vielmehr aus fraktionellen Erwägungen. Über die Fraktionsgruppierungen, die im Leben der bulgarischen Sozialdemokratie eine große Rolle spielen, müssen wir hier ein paar Worte sagen.
Im Jahre 1903 spaltete sich die bulgarische Partei in zwei Fraktionen: die „Tjessniaki“ („Engen“) mit Blagojew, Kirkow, Rakowski1 und Bakalow an der Spitze und die „Breiten“ unter der Leitung Janko Sakasows und N. Gabrowskys. Im Gegensatz zu den strengen Hütern des Klassenprinzips, den „Tjessniaki“, neigen die „Breiten“ zu dem sogenannten „Obschodielstwo“, das heißt zum Zusammengehen mit den bürgerlich-demokratischen Elementen und – in der Theorie – zum Revisionismus. Beide Teile behielten den Namen, das Programm und das Statut der alten Partei. Im Jahre 1905 findet eine weitere Spaltung unter den „Tjessniaki“ statt: unter der Führung Bakalows und Charlakows trennt sich eine Gruppe der „Liberalen“ ab, die die Anhänger Blagojews, die „Konservativen“, organisatorischer Engherzigkeit beschuldigten, die die Partei von der Klasse isoliere und sie in eine „Koterie“ zu verwandeln drohe. Im Jahr 1908 splittert sich von den „Tjessniaki“ wieder eine Gruppe von Protestanten ab, die mit dem Konservatismus der Partei unzufrieden, eine Vereinigung aller sozialistischen Organisationen forderten: das sind die sogenannten „Progressisten“ mit Iljew an der Spitze. Der Versuch der allgemeinen Vereinigung misslingt dank dem Widerstreben der „Tjessniaki“. Neben ihnen und als ihr Gegengewicht wird die sogenannte „vereinigte“ Partei aus den „Breiten“, den „Liberalen“ und den „Progressisten“ gebildet. Das einzige Band zwischen den beiden Organisationen besteht in einer erbitterten Polemik in der Presse und in den Versammlungen. Die „Kambana“, die kein Parteiorgan ist, verbleibt jedenfalls in engem Zusammenhang mit den „Vereinigten“ und ist gewissermaßen ihr offiziöses Organ. Das erklärt auch ihr Verhalten der antislawophilen Manifestation gegenüber, die von den „Tjessniaki“ veranstaltet wurde. Trotzdem gleichzeitig mit dem Kongress dieser letzteren auch der Parteitag der „Vereinigten“ stattfand, konnten sich die fremden Delegierten, die von den „Tjessniaki“ eingeladen worden waren, in Anbetracht der lokalen Verhältnisse nicht entschließen, auf dem Kongress der Vereinigten Partei mit Begrüßungsreden hervorzutreten, ein Umstand, der unabhängig, gewissermaßen sogar gegen den Willen der Delegierten ihrem Hervortreten in Sofia nicht nur einen politischen, sondern auch einen fraktionellen Charakter verlieh.
Der Charakter und die Formen der Gruppierungen und Abgrenzungen in dem bulgarischen Sozialismus werden in ihrer Basis durch die politische Jugend des Landes bestimmt: durch die schwache Differenzierung des öffentlichen Lebens, durch völligen Mangel an politischen Traditionen, durch die ungenügende Selbständigkeit der proletarischen Avantgarde und durch den Überfluss an radikaler und sozialistischer Intelligenz. In allen politischen Parteien Bulgariens spielt die Intelligenz eine unverhältnismäßig große Rolle; sie hat nur eine einzige ernste geistige Tradition: den Sozialismus. Der Gründer der heute regierenden „demokratischen“ Partei, Petko Karawelow (gestorben), war seinerzeit ein Anhänger der „Narodnaja Wolja“ in Russland. Mit Ausnahme von zwei, drei sind alle heutigen Minister – gewesene Sozialisten. Der Minister des Innern Takijew wurde noch vor fünf bis sechs Jahren von republikanischer Glut verzehrt. Die Journalisten aller bürgerlichen bulgarischen Parteien gingen, sei es auch flüchtig, eine sozialistische Schulung durch. Der Sozialismus war für sie eine Schule des politischen Alphabets; um dieses Alphabet anzuwenden, gingen sie in ein anderes Lager über. Am längsten verblieben bei dem Sozialismus die Volksschullehrer und -lehrerinnen Die scharfe Aufklärungsnot neben der allgemeinen kulturellen Zurückgebliebenheit des Landes machten die Tätigkeit des Volkslehrers zur Mission, zum Apostelamt und drängten den Lehrer in die Richtung der radikalsten Ideologie. Von den zwei Lehrerorganisationen ist die eine, die 850 Mitglieder umfasst, direkt an die „Tjessniaki“ angeschlossen, die andere, die über 3000 Mitglieder besitzt, steht unter dem unmittelbaren Einfluss der „Vereinigten“. Auf diese Weise bilden den bulgarischen Sozialismus nicht nur die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter, sondern auch ein breiter und nebelhafter Fleck der sozialistischen und halb-sozialistischen Intelligenz. Die Grenzen der bürgerlichen Parteien zeichnen sich ihrerseits durch einen vollständig chaotischen Charakter aus oder genauer: es bestehen solche Grenzen überhaupt nicht. Es genügt, zu bemerken, dass in der vorigen Sobranje die Stambulow-Partei, die die Regierung bildete, eine erdrückende Mehrheit hatte, dagegen die oppositionellen Demokraten über fünf bis sechs Mandate verfügten; nach den Neuwahlen dagegen die Demokraten, die zur Regierungspartei wurden, fast 160 Mandate (Gesamtzahl – 200!) erhielten, während die Stambulow-Partei keinen einzigen Kandidaten durchbrachte! Und das alles auf der Basis des allgemeinen Wahlrechtes! Demagogie – das ist die höchste Weisheit der bulgarischen Politik; im Vergleich zu ihr ist die Bestechung nur ein technisches Detail. Die Demagogie erobert Herzen, Mandate und Portefeuilles. In diesem politischen Chaos, das in jedem beliebigen Moment bereit ist, die Gestalt und das Ebenbild jeder am Ruder stehenden Gottheit anzunehmen, schafft der Überfluss an sozialistischer Intelligenz die Gefahr ernster Verführungen und Versuchungen für eine junge Arbeiterpartei. Die proletarische Armee nimmt zu, aber vorläufig ist sie noch schwach; der Generalstab der Führer ist für sie zu groß. Die Möglichkeit des unmittelbaren politischen Einflusses dieser Führer wird durch die verhältnismäßige Schwäche der Armee beschränkt – und wie leicht ist es sonst in diesem Lande, bei einigem Talent eine politische Rolle zu spielen! Es gilt nur einen kleinen Sprung abseits zu machen! Eigentlich ist auch der Sprung nicht nötig, da die radikale Intelligenz aller Regenbogenschattierungen eine natürliche Brücke zwischen der sozialistischen Ideologie und der bürgerlichen Praxis bildet. Das „Obschodielstwo“ formuliert eben dieses Bestreben der sozialistischen Intelligenz, den historischen Prozess zu überholen und mittels kunstfertiger politischer Kombinationen der Sozialdemokratie den Einfluss zu gewähren, den ihr die zahlenmäßige Stärke und die Organisationsstufe des Proletariats noch nicht verschaffen können. „Den Weg der Demokratie!“ schrieb die „Kambana“ am Tage vor den letzten Wahlen. Aber in Bulgarien ist das „Obschodielstwo“, das heißt das Zusammengehen mit der bürgerlichen Demokratie, gefährlicher als irgendwo: denn wo fängt an und wo endet diese bulgarische „Demokratie“, die man heute mit einem Stab aus dem Felsen hervorbringt, um sie vielleicht morgen wieder ins Nichtsein zurückzuschicken? Indessen geben die Regierungsdemokraten Sofias – die gestrigen Republikaner und Konspiratoren – in ihren Methoden der politischen Korruption den französischen Radikalen gar nichts nach! Siehe da – die einen und die anderen Anhänger der „Obschodielstwo“, die gewesenen Führer des Lehrer- und des Eisenbahnangestelltenverbandes, sitzen heute in bequemen Stellungen in verschiedenen „demokratischen“ Kanzleien …
Anderseits verursachen dieselben Bedingungen auch die entgegengesetzte Gefahr – der Verwandlung der politischen Partei in ein sozialistisches Seminar. Die organisatorische Enge und die politische Selbstbeschränkung als Selbsterhaltungsmethoden in dem lockeren Gesellschaftsmilieu durchtränken den Parteigedanken und Parteiapparat mit Konservativismus und bringen beide um die notwendige Elastizität, um die Fähigkeit der Anpassung, nicht nur an die vergänglichen politischen Konjunkturen, sondern auch an die tieferen sozialen Prozesse: an das Wachstum des Proletariats als Klasse und die diesem Wachstum entspringende Komplizierung seiner Aufgaben. Jede neue Eroberung auf dem Gebiet der Taktik wird in diesen Bedingungen um den Preis neuer Spaltungen und Absplitterungen erkauft. Wir haben gesehen, dass die bulgarische Sozialdemokratie sich dreimal gespalten hatte; das Resultat dieser Spaltungen erscheint heute einerseits als Existenz zweier Parteien, anderseits – in der Form eines Fraktionszwistes innerhalb der „vereinigten Partei“. Die „Tjessniaki“ sehen in diesen Spaltungen nichts anderes als einen Prozess der „Säuberung“ der Arbeiterpartei von der kleinbürgerlichen Intelligenz. Wir können uns aber dieser Ansicht nicht ohne weiteres anschließen, nicht nur aus dem Grunde, weil bei den „Tjessniaki“ selbst die dominierende Rolle in der Partei noch immer der Intelligenz gehört, nicht nur darum, weil die „Vereinigten“, soweit wir urteilen können, in ihren Reihen viele wertvolle sozialistische Elemente enthalten, sondern und vor allem aus dem Grunde, weil wir die traurigste Tatsache der Arbeiterbewegung Bulgariens nicht aus dem Auge verlieren können: die Spaltung der Gewerkschaften zwischen den Tjessniaki und den Vereinigten.
Es scheint uns aber, dass sich ein Minimum wohl feststellen ließe, das man erreichen kann und muss: erstens die Wiederherstellung der Einheit der gewerkschaftlichen Organisation und des gewerkschaftlichen Kampfes; zweitens die Möglichkeit der Einberufung einer allgemeinen Balkankonferenz mit Beteiligung beider Fraktionen der bulgarischen Sozialdemokratie. Die erstere Forderung ist an sich klar. Was die zweite betrifft, muss man folgendes bemerken: ein Versuch, die konkurrierende Partei von dem Anteil an den allgemeinen Balkanangelegenheiten zu entfernen, würde – schon in Anbetracht der engen Verbindung der Tjessniaki mit den Serben und der „Vereinigten“ mit den Rumänen – eine Untergrabung des Gedankens der Balkankonferenzen selbst bedeuten. Die Internationale ist sehr daran interessiert, dass ihre Balkansektion vor der Außenwelt einheitlich hervortrete, sie wird wohl Mittel finden, um in dieser Frage die lokalen Fraktionserwägungen, seien sie auch noch so ernst, den Interessen der internationalen Sozialdemokratie unterzuordnen.
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Zum Schlusse wollen wir noch einen allgemeinen Überblick über die Organisation und die Tätigkeit der Tjessniaki geben, auf deren Parteitag der Verfasser dieser Zeilen als Vertreter der russischen Sozialdemokratie anwesend war. Der beredte Sekretär der Partei, der talentvolle Agitator und Redakteur des Parteiorgans „Robotnitscheski Wiesstnik“, zugleich der Parteikassier, der unermüdliche Georg Kirkow, gibt in einer fünfstündigen Rede ein erschöpfendes Bild des Lebens und der Leistung der Partei. In dem vergangenen Jahre umfasste sie 56 Lokalorganisationen und Gruppen mit 2126 Mitgliedern, darunter 1519 Arbeiter; außerdem gehörten zu der Partei: die sozialdemokratische Lehrerorganisation mit 851 Mitgliedern, die Organisation der Gemeindebediensteten mit 250 Mitgliedern, vier sozialdemokratische Studentengruppen mit 52 Mitgliedern, 12 Arbeiter-Bildungsvereine mit 325 Mitgliedern und 14 Vereine der jugendlichen Arbeiter mit 420 Mitgliedern. Die Zahl der Parteimitglieder – beklagte sich Kirkow – nahm im vorigen Jahre bloß um 12 Prozent zu – infolge der äußerst strengen Auslese seitens der Lokalorganisationen bleibt sie im Vergleich mit der Mitgliederzahl des Gewerkschaftsverbandes, der geistig und organisatorisch mit der Partei verbunden ist, immer zurück. Dieser Verband umfasst gegenwärtig 13 zentralisierte Gewerkschaften mit 172 Lokalsektionen und 4600 Mitgliedern: im Vergleich zum vorigen Jahre wuchs er um 1200 Mitglieder an. Für das verflossene Jahr gab der Verband für Streikzwecke 15.000 Leven (= Franken), für Unterstützung 10.000 Leven aus. Die gewerkschaftlichen Zeitschriften erreichten die Zahl von zwölf2. Mit berechtigter Genugtuung schildert Kirkow die agitatorische und Verlagstätigkeit der Partei. Im Laufe des letzten Jahres organisierte sie 917 öffentliche Versammlungen mit 154.675 Teilnehmern, gab 647 Aufrufe in 158.896 Exemplaren heraus und verbreitete 157 Broschüren in 18.896 Exemplaren. An der Maifeierdemonstration des Jahres 1910 nahmen beinahe 14.000 bulgarische Arbeiter teil. Der „Rabotnitscheski Wiestnik“, das Zentralorgan der Partei und des Syndikatverbandes, das dreimal in der Woche erscheint, schloss seinen 13. Jahrgang mit 3214 Abonnenten ab. Die Monatsschrift der Partei, „Nowo Wrieme“, durch den „Alten“ Blagojew, den Gründer der Partei, den Theoretiker des Marxismus in Bulgarien, redigiert, hatte zu Ende ihres 13. Jahrgangs 1275 Abonnenten. Den Stolz der Partei bilden ihre Knischarnitza und Pietschatniza (Buchhandlung und Verlag). Der Umsatz des Verlages wuchs von 124.000 Franken im Jahre 1909 auf 422.000 Franken im Jahre 1910 an! In dem letzten Jahre gab die Knischarnitza 16 Bücher und Broschüren heraus, darunter: „Der Ursprung der Familie usw.“ von Engels, „Der Weg zur Macht“ von Kautsky, „L. Feuerbach“ von Engels, „Die Sozialdemokratie und der Parlamentarismus“ von Parvus, „Marx und seine Bedeutung“ von Kautsky – in je 2000 Exemplaren; „Aus meinem Leben“ von Bebel in 3000 Exemplaren und endlich den ersten Band des „Kapital“ in der Übersetzung Blagojews, von dem 1700 Exemplare im Voraus bestellt waren. außerdem erschien noch, fast gleichzeitig, eine andere Ausgabe des „Kapital“ in der Übersetzung Bakalows. Unsere französische Partei mit ihren großen revolutionären Traditionen, mit ihren unvergleichlichen Rednern und Parlamentariern hat allen Grund, auf die erstaunliche Aufklärungstätigkeit der bulgarischen Partei in diesem kulturarmen Land, das kaum 5 Millionen Einwohner zählt, mit Neid hinzublicken. Woran die bulgarische Sozialdemokratie Not hat, das ist die parlamentarische Vertretung. Die Notwendigkeit, in der Volksvertretung zu allen Fragen des gesellschaftlich-politischen Lebens des Landes Stellung zu nehmen, würde auf einen Schlag allen Erwägungen und Differenzen in der Partei einen mehr aktuell-politischen Charakter verleihen und damit – das ist unsere Überzeugung – eine reelle Möglichkeit für die Vereinigung schaffen. Anderseits ist die Abwesenheit einer Vertretung des bulgarischen Proletariats im Parlament selber als Ergebnis der Spaltung zu betrachten …
Auf dem Rückwege hielten sich die Vertreter der ausländischen Parteien in Belgrad auf, wo sie Gelegenheit hatten, in einer Versammlung mit mindestens 1500 Besuchern zu sprechen. Wir haben im Augenblick keine Möglichkeit, uns in eine ausführliche Charakteristik der serbischen Partei einzulassen, wie auch der politischen Bedingungen, in denen sie tätig ist. Wir wollen uns daher bloß auf flüchtige Bemerkungen beschränken. Die serbischen Führer sind bedeutend jünger als die bulgarischen – und die Arbeiter sehen älter aus; bei den „Tjessniaki“ herrschen die Jünglinge im Alter von 18 bis 25 Jahren vor; wie man sagt, ist das Altersniveau bei den Vereinigten höher. Die serbischen Arbeiter sind in ihrer Masse viel reifer, kulturell entwickelter, intelligenter als die bulgarischen, man sieht an ihnen das hundertjährige politische Leben des Landes. Zugleich sind sie auch ruhiger, vielleicht sogar skeptischer. Eine Reihe nationaler Schläge, die die Serben ertragen mussten, die Aussichtslosigkeit der ökonomischen Situation des Landes, das von dem Ermessen Österreich-Ungarns abhängt, – dies alles spiegelt sich im serbischen Proletariat wieder. Von dem feurigen Enthusiasmus, der in den Versammlungen in Sofia den Redner und das Auditorium wie Lava überflutet, findet man in Belgrad keine Spur. Hier sieht es aus, als ob man sich in Wien oder gar in Berlin befände.
Der Marxismus herrscht in der serbischen Partei vollständig. In den Jahren 1901 bis 1903 kämpfte die Partei unter der Führung des verstorbenen Dragowitsch, der die Schule des deutschen Sozialismus in Graz durchgegangen war, einen entschiedenen Kampf gegen die revisionistisch gefärbten Radikalen aus, die es versuchten, serbische Arbeiter mit sich zu reißen (Jovan Skerlitsch, Kosta Jovanowitsch und andere). Sie wurden aus den proletarischen Organisationen gänzlich verdrängt und führen jetzt ein erbärmliches Dasein von Renegaten, die die Partei in den Spalten des demokratischen Blattes angreifen. Die Partei verblieb einig und einheitlich gesinnt. Die zentralistische Gewerkschaftsorganisation, die auf die engste Weise mit der Partei verknüpft ist, umfasst 5000 Mitglieder, die politische Organisation die Hälfte dieser Zahl. Die Sekretärsfunktionen im Gewerkschaftsverband verrichtet jetzt Dragischa Laptschewitsch, ein gewesener Händler, der in die Partei bereits als fertige politische Figur eintrat und sich in ihr sogleich einen großen Einfluss eroberte. Das ist ein echter Typus eines Massenagitators, der es versteht, gleichzeitig prinzipiell und populär zu bleiben. Man heißt ihn in der Partei „Tschitscha“, das heißt Onkel, wohl wegen seiner mächtigen Gestalt und seiner 43 Jahre; in Serbien ist dies ein Methusalemsalter, da der Redakteur der theoretischen Zweiwochenschrift „Borba“ Dimitrije Tuzowitsch 29 Jahre alt ist, und der Redakteur des Zentralorgans „Radnitschke Novine“, der talentvollste Journalist Duschan Popowitsch, 24 Jahre.
Die Einheit der serbischen Sozialdemokratie und ihre große politische Biegsamkeit erklärt sich einerseits durch die höhere politische Kultur des Landes im Zusammenhang mit der größeren Stabilität und dem festeren Rahmen der bürgerlichen Parteien; anderseits durch die Quelle, aus der sie ihre geistigen Anregungen schöpft. Die serbische Partei befindet sich in demselben Maße unter dem Einfluss der deutschen Partei wie die bulgarische unter dem Einfluss der russischen. Die Kraft dieses letzteren Einflusses stellen wir Russen uns nicht in entferntestem Masse groß genug vor. Nicht nur der 50jährige Blagojew, der an einer russischen Universität studierte und im Jahre 1885 in Petersburg wegen der Organisation von Arbeiterzirkeln und der Beteiligung an der Herausgabe der Zeitung „Der Arbeiter“ verhaftet wurde, nicht nur der 45jährige Kirkow, der das Gymnasium in Nikolajew (Südrussland) absolvierte und schon in dieser Zeit in Zirkeln der „Narodnaja Wolja“ verkehrte, sondern die ganze junge Nachkommenschaft der bulgarischen sozialistischen Intelligenz ist durch und durch „russifiziert“ und mit der Intelligenz auch die vorderen Schichten des Proletariats. Sie machten unseren geistigen Kampf mit den „Ökonomisten“, dann die Spaltung zwischen den Bolschewiki und Menschewiki durch. Die „Iskra“ ist für sie ebenso ein lebendiger Begriff wie für uns oder, um nicht zu übertreiben, wie die „Neue Zeit“ für die Serben. Die bulgarischen Arbeiter singen russische revolutionäre Lieder, bei den bulgarischen Polemiken decken sie auf jeden Schritt unsere Parteiphraseologie auf. Die serbische Partei übersetzte das Erfurter Programm ins Serbische und machte es zu ihrem eigenen Programm. Sie kämpfte geistig und teilweise auch politisch den ganzen Kampf des deutschen Marxismus mit dem Revisionismus mit und bewahrte ihre Einheit. Und unsere lieben Brüder Bulgaren sind auch wie wir in Fraktionen gespalten …
Es sind das zwei Schulen. Welche von ihnen ist besser? Um keinen Konflikt zwischen meinem Patriotismus und meiner Achtung vor der Wahrheit heraufzubeschwören, will ich mich der Antwort auf diese Frage enthalten.
*Auf dieser Konferenz waren die sozialdemokratischen Parteien Serbiens, Bulgariens, Rumäniens vertreten, die sozialdemokratischen Gruppen Makedoniens und der Türkei, die südslawischen sozialdemokratischen Parteien Österreich-Ungarns (Krain, Kroatien, Slawonien, Bosnien und Herzegowina), endlich die wenigen Sozialdemokraten Montenegros.
1Gegenwärtig steht Rakowski außer beiden Fraktionen; aber insoweit wir urteilen können, ist er den „Vereinigten“ näher.
2 Wir wollen hier bemerken, dass die Zahl der Mitglieder des konkurrierenden „vereinigten“ Syndikatverbandes am Ende des Jahres 1909 3020 Mann betrug (neuere Zahlen haben wir nicht in Händen) Die Ausgaben des Verbandes betrugen für das Jahr 1909 30.000 Leven, der Überschuss zu Anfang des Jahres 1910 26.000 Leven.
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