Clara Zetkin: Unser Tag

[Nach „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, 21. Jahrgang Nr. 13, 27. März 1911, S. 193 f.]

Der erste Versuch, die arbeitenden Frauenmassen zum Kampfe für das volle politische Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts international um das Banner der Sozialdemokratie zu sammeln und in eine einheitliche, geschlossene Front zu stellen, ist glänzend ausgefallen. Der Erste sozialdemokratische Frauentag hat sich in Dänemark und der Schweiz, hat sich ganz besonders in Österreich und Deutschland zu einem großen, bedeutsamen Erfolg gestaltet, der die belehren muss, die nicht etwa an der Güte und Gerechtigkeit der Sache zweifeln, um die es geht, wohl aber an der Stärke der eigenen Kraft, sie zum Siege zu führen. In vielen Hunderten von Versammlungen über die Landesgrenzen hinweg sind viele Hunderttausende, sind sicher über eine Million von Frauen und Männern eins gewesen in der Bekundung der Überzeugung, dass dem weiblichen Geschlecht das Wahlrecht und die Wählbarkeit zu allen gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften gebühre als Anerkennung der sozialen Mündigkeit und der sozialen Lebensnotwendigkeit, seine Interessen selbst wahrzunehmen. Und die aufmarschierten Massen haben dem grundsätzlichen Bekenntnis zum gleichen politischen, unbeschränkten Recht für Mann und Weib die ebenso einheitliche Willenskundgebung hinzugefügt, dieses Recht in ausdauerndem Kampfe den Schützern uralten Unrechts zu entreißen.

Mit freudigem Stolze dürfen wir es niederschreiben: dieser internationale sozialdemokratische Frauentag ist die wuchtigste Kundgebung für das Frauenwahlrecht gewesen, welche die Geschichte der Bewegung für die Emanzipation des weiblichen Geschlechts bis heute verzeichnen kann. Trotz seiner schlichten äußeren Form verblassen neben ihm und seiner Bedeutung die farbenprächtigen, mit großem Geschick und noch größeren materiellen Mitteln organisierten Demonstrationen der englischen Suffragettes, Ihrem Gehalt nach verhalten sie sich zu der internationalen sozialdemokratischen Kundgebung wie ein vorübergehend fesselndes Bühnenbild zum kraftvoll pulsierenden Leben selbst. Daher wird unserer Demonstration auch nie, wie dem Riesenaufmarsch der Suffragettes in London, die Farce einer Kandidatur für das Frauenwahlrecht folgen, die ganze 20 Stimmen auf sich vereinigt. Die Hunderte und Tausende, die in den einzelnen Versammlungen zusammenströmten, konnten nur um den Preis von persönlichen Opfern und Unbequemlichkeiten an den Veranstaltungen teilnehmen, unter Verzicht auch auf den ersten schönen Frühlingssonntag, den wenigstens bei uns in Deutschland der launische Wettergott bescherte. Es waren ja fast ausschließlich Frauen und Männer, auf deren Nacken tagaus tagein das Joch der unbarmherzigen kapitalistischen Ausbeutung lastet. Aber gerade darum trieb sie ein heiliger Ernst der klar bewussten und begründeten Überzeugung, ein unerschütterlicher Wille zur Bekundung ihres Willens. Der Kampf für die volle politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts als für ein Recht der Persönlichkeit, das losgelöst ist von jedem Vorrecht des Besitzes und der Bildung, ist vor allem ein Kampf der arbeitenden Frauen. Daher ist er untrennbar dem Ringen des klassenbewussten Proletariats für eine durchgreifende Demokratie eingegliedert. Seine entscheidenden Schlachten werden in Verbindung mit diesem Ringen unter Führung der Sozialdemokratie von den arbeitenden und ausgebeuteten Massen ohne Unterschied des Geschlechts geschlagen werden, deren Rechtsbegehren sich die ausbeutende Minderheit ebenfalls ohne Unterschied des Geschlechts zäh und erbittert entgegenstemmt. In Deutschland und, soviel wir bis jetzt urteilen können, auch in Österreich ist dieser ausgesprochen proletarisch-sozialdemokratische Charakter des Kampfes für das Frauenwahlrecht unzweideutig in die Erscheinung getreten. Die bürgerlichen Frauen haben bei uns in den Versammlungen im Allgemeinen so gut wie vollständig gefehlt, und wo sie hier und da doch vertreten waren, bildeten sie eine verschwindende Minderheit, zu schwach, um dem Charakter der Versammlungen ein anderes Gepräge aufzudrücken. Kein Wunder das! Nach den letzten Veröffentlichungen zählten die bürgerlichen Frauenstimmrechtsorganisationen noch nicht einmal 3000 Mitglieder, und diese sind außerdem noch in Anhängerinnen und Gegnerinnen des allgemeinen Wahlrechts gespalten. Auf die sozialdemokratische Kundgebung war außerdem in der frauenrechtlerischen Presse mit keinem Worte hingewiesen worden. Und das, obgleich die nämlichen Blätter ein betäubendes Freudengeschrei zu erheben pflegen, wenn in einem amerikanischen oder südafrikanischen Buxtehude auch nur zwei Leute sich für das Frauenwahlrecht erklären. Und das, obgleich die rege systematische Agitation in der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Presse wie in den Organisationen auf die bevorstehende Veranstaltung zwingend aufmerksam machen musste.

Diese Tatsachen spiegeln aber mehr wider als die Schwäche, Unentschlossenheit und Zerrissenheit der bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands im Kampfe für das politische Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts und das allgemeine Wahlrecht aller Großjährigen im Besonderen: den politisch dumpfen und stumpfen Sinn der bürgerlichen Frauen überhaupt. In ihm tritt uns eine Sünde der bürgerlichen Demokratie entgegen, die ihrer spottet, sie weiß selbst nicht wie, indem sie bis vor kurzem jede politische Erweckung der Frauen mit der ungemilderten Borniertheit des vormärzlichen Philisteriums bekämpft hat, ja zum Teil noch bekämpft. Wie der Tag von der Nacht unterscheidet sich davon das Verdienst der Sozialdemokratie, das in dem politisch wachen und reifen Geist Hunderttausender von Proletarierinnen lebendig wird. Die boshafte Laune des Zufalls hat es gefügt, dass der aufgezeigte Gegensatz zwischen bürgerlicher Demokratie und Sozialdemokratie just am 19. März lehrreich illustriert wurde. Während die Sozialdemokratie für das Frauenwahlrecht demonstrierte, toastete der in Berlin tagende „Zentralausschuss der Fortschrittlichen Volkspartei“ in der üblichen Weise „auf die Damen“. Kein Bericht meldet, dass bei den Beratungen davon die Rede gewesen wäre, endlich das Flehen der liberalen „Damen‘ zu erhören und die Forderung des Frauenwahlrechts in das Programm der Partei aufzunehmen.

Dem ausgesprochen proletarisch-sozialdemokratischen Wesensinhalt der Veranstaltung fügt es kein änderndes Strichlein bei, dass in Berlin, Nürnberg und Mannheim einige bürgerliche Frauenrechtlerinnen ihre Sympathie dafür versicherten. Die feierlich beschworene Begeisterung für unseren Kampf bekommt einen eigentümlichen Beigeschmack, wenn man sich einiger Tatsachen erinnert. In Berlin befand sich unter den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, die unsere Demonstration für das allgemeine Wahlrecht aller Großjährigen ohne Unterschied des Geschlechts begrüßten, neben der ehrlichen Demokratin Frau Cauer auch die brünstige Hohenzollernschmärmerin Fräulein Lischnewska. Fräulein Lischnewska ist aber die Gründerin und Egeria der nämlichen „liberalen Frauenpartei“, die mit ihrer Hutnadel dem Wahlrechtskampf des Proletariats in Preußen in den Rücken fiel, indem sie sich zunächst mit einem beschränkten Wahlrecht zufrieden erklärte. Und Fräulein Lischnewska hat es erst im letzten Herbst auf der Generalversammlung des Bundes deutscher Frauenvereine in Heidelberg ausdrücklich abgelehnt, diese Organisation programmatisch dazu zu verpflichten, das Gemeindewahlrecht für die Frauen auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts zu fordern. Frau Altmann-Gottheiner aber, das geistige Haupt der Mannheimer Frauenrechtlerinnen, tutete in das gleiche Horn, nachdem sie sich vorher in ihrem Referat in feiger Zweideutigkeit um eine Stellungnahme zu der brennenden Frage herumgedrückt hatte: allgemeines Frauenwahlrecht oder Damenwahlrecht. Uns ist nichts bekannt geworden, dass sie darob von ihrer Gefolgschaft zur Ordnung gerufen worden wäre. Doch denken wir der Zukunft! Die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen haben es da in der eigenen Hand, jeden Zweifel an dem Ernst und der Zuverlässigkeit ihrer Gesinnung zu entkräften. Sie brauchen zu diesem Zwecke nur hinter das Wort die Tat zu setzen. Sobald sie sich nicht darauf beschränken, unter dem Beifall sozialdemokratischer Versammlungen für das allgemeine Wahlrecht zu reden. Sobald sie für dieses in der bürgerlichen Welt und gegen deren Widerstand kämpfen: können sie ihrer Wertung als Verfechterinnen der Demokratie sicher sein. Jedenfalls steht das eine fest, dass die sozialdemokratische Kundgebung für das allgemeine Frauenwahlrecht die Situation klärend, die Geister scheidend auf die frauenrechtlerische Bewegung zurückwirken wird. An den ehrlichen bürgerlichen Kämpferinnen für das gleiche Recht aller liegt es, die Konsequenz daraus zu ziehen, das heißt mit erhöhtem Nachdruck und gesteigertem Vertrauen den offenen und heimlichen Anhängerinnen des als Frauenwahlrecht vermummten GeldsackwahIrechts entgegenzutreten.

Der 19. März ist ein lebensstrotzender Beweis für die innere Einheit zwischen dem revolutionären Klassenkampf des Proletariats und dem Streben nach der vollen Befreiung des menschlichen Geschlechts. Er hat aufs Neue bestätigt, dass keine Not des Leibes und der Seele die arbeitenden Frauen drückt — von dem nagenden Hunger, den die Zoll- und Steuerwucherpolitik verschärft, bis zur zehrenden Sehnsucht nach der Entfaltung und Betätigung der Kräfte im Lichte der Kultur –, um deren Linderung die kämpfende sozialistische Arbeiterklasse nicht ernstlich bemüht wäre; dass jedes Rechtsbegehren der mit Hand und Hirn fronenden Frauenmassen in ihr die Sachwalterin und Vorkämpferin findet. Er hat aber auch erhärtet, dass die proletarischen Frauen — soweit sie zum Klassenbewusstsein erwacht sind — Treue für Treue geben. Um das rote Banner haben sich alle geschart, die befreiungssehnsüchtig in das Morgendämmern einer neuen Zeit schauen. Die Proletarierinnen haben damit bekundet, dass sie die enge Verknüpfung ihres Einzelschicksals mit der historischen Lage ihrer Klasse begreifen und erkennen, dass ihnen erst jenseits der Kerkermauern dieser kapitalistischen Ordnung volles Menschentum blüht. Aus dieser Erkenntnis heraus haben sie die Kraft geschöpft, alle Arbeiten und Kämpfe der Arbeiterklasse zu ihren eigenen zu machen. Es gibt keine einzige Tätigkeit im Dienste der proletarischen Befreiung — von der stillen, staubigen Kleinarbeit des Alltags bis zu den gewaltigsten Kämpfen um Brot und Recht —, die nicht auch die Frauen als ihre ureigenste Sache empfanden, für die sie sich ganz bis zum letzten Atom ihrer Kraft eingesetzt hätten. Das steht in der Geschichte der großen Streiks und Aussperrungen; das ist in den Tafeln des Wahlrechtskampfes eingegraben; das kann jeder beobachten, der das tägliche Gemeinschaftsleben des Proletariats verfolgt, aus dem sein großes geschichtliches Handeln die Kraft saugt.

Die sozialdemokratischen Frauen haben in dieses ihr Wirken die höchste Summe all der alten Vorzüge gelegt, die man ihrem Geschlecht nachrühmt; sie geizen danach, dabei auch alle neuen Bürgertugenden zu betätigen, deren die Arbeiterklasse zur Erfüllung ihrer gewaltigen historischen Aufgabe bedarf. Sie, die oft Ungelehrten und Ungeschulten sind so Wissende, Geschulte und in strenger freiwilliger Selbstzucht mit der Gemeinschaft Handelnde geworden. Sie sind mit ihrer Aufgabe gewachsen; die Arbeit für das gemeinsame höhere Ziel ist zugleich zur Arbeit an ihnen selbst geworden. Aus ihr haben sie jene persönliche, menschliche Erhebung und Entwicklung gewonnen, die ihnen die bürgerliche Gesellschaftsordnung vorenthält, und mit der sie sich ein Stück des befreiten Menschentums ihrer Klasse vorwegnehmen. Diese ihre persönliche und politische Reife ist aber ebenso unerlässliche Voraussetzung für den glänzenden Verlauf der Demonstration für das Frauenwahlrecht gewesen, wie die historische Einsicht, der Gerechtigkeitssinn, die Sehnsucht nach höherer Kultur auf Seiten der politischen und gewerkschaftlichen Kampfesorganisationen des Proletariats. Es ist gewiss geschichtlich fest begründet, dass die entscheidenden Siege für das Recht des Weibes in der bürgerlichen Klassengesellschaft nur von den Heeren der einen ungeteilten revolutionären Arbeiterklasse erfochten werden können. Nicht minder stark verankert ist aber die andere Tatsache, dass die arbeitenden Frauen selbst die treibende Kraft des Kampfes für dieses Recht bleiben müssen. Zur Initiative der Frauen die gewaltige Kraft des gemeinsamen Handelns! Dieser Erkenntnis verdanken wir es, dass der erste internationale sozialistische Frauentag für das Frauenwahlrecht zu einem Ruhmestag der Sozialdemokratie, zu einem Ruhmestag der Proletarierinnen, der sozialistischen Frauen geworden ist, zu einem politischen Ereignis. Als ein Markstein ragt er empor, der uns den Weg zeigt, auf dem wir von Etappe zu Etappe in das Land vordringen, wo die letzten sozialen Fesseln des Weibes vom Menschheitsbefreier Sozialismus gesprengt werden.


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