[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 12, 14. März 1910, S. 177-179]
In kampfglühender politischer Atmosphäre feiert heuer die deutsche Arbeiterklasse den 18. März, den Gedenktag der beiden revolutionären Erhebungen, die ihrem Herzen besonders teuer sind. So lebendig ist die Verbindung, in welche sie von der geschichtlichen Entwicklung mit dem Berliner Märzensturm von 1848 gebracht worden ist, dass als ihre dringlichste Gegenwartsaufgabe sich die Vollstreckung des politischem Testaments darstellt, das ihr die ruhmvollen Barrikadenkämpfer jener Tage hinterlassen haben: der Kampf für die volle Demokratie in Preußen, in Deutschland. Diese Aufgabe, die immer sichtlicher in den Mittelpunkt des politischen Lebens im ganzen Reiche rückt, lenkt den Blick auch mit einer anderen Stärke als der bloßer platonischer Sympathie auf die unvergängliche Tat des Pariser Proletariats: die Kommune von 1871. Denn den befreiungslechzenden Massen der Ausgebeuteten und Beherrschten ist das Erinnern an die großen revolutionären Ereignisse seiner internationalen Klassengeschichte mehr als das „traditionelle Begießen von Papierblumen mit tönenden, aber leeren Redensarten. Ihr gesunder Klasseninstinkt empfindet sie als fortwirkende Äußerungen ihres eigenen geschichtlichen Seins, das unter anderen Bedingungen und Formen immer wieder als Gegenwart auferstehen macht, was begrabene Vergangenheit scheint, solange der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit existiert.
Die Kommune von Paris musste mit Strömen proletarischen Blutes für Frankreich das letzte bedeutsame politische Erbe der großen Revolution sichern, die Republik, und damit den Boden, auf dem sich dieser Klassengegensatz unverhüllt und voll entfalten, auf dem er am besten ausgefochten werden kann. Also fällt es dem Wahlrechtskampf des Proletariats in Preußen zu, die politische Situation zu liquidieren, welche 1848 die schwächliche deutsche Schwester der großen Revolution geschaffen hat. Soweit wir in Deutschland von einem modernen bürgerlichen Staat reden dürfen, sind es die blutgetränkten revolutionären Kämpfe der vierziger Jahre gewesen, die ihm Geburtshelferdienste geleistet haben. Das darf die deutsche Arbeiterklasse nie vergessen. Soweit wir noch unter halbfeudalen Zuständen leiden – unter der Peitsche der Junkerherrschaft und den Launen eines irrlichternden persönlichen Regiments – hat das die liberale Bourgeoisie durch ihren Verrat an der Revolution verschuldet. Das ist die andere Tatsache, die dem deutschen Proletariat ins Gedächtnis gebrannt bleiben muss. Beide zusammen predigen ihm mit der ersten demokratischen Tugend des Misstrauens gegen die wortreichen Schwärmer für den „Fortschritt“, die dessen wichtigste Kraft hassen – den bewusst geführten proletarischen Klassenkampf – männliches Selbstvertrauen in den eigenen Willen, die eigene Tat. Sie zeigen ihm aber auch die Form, in der sich dieses Selbstvertrauen äußern, in der es sich zunächst in Wille und Tat umsetzen muss: die Massenaktion in der Straße.
Nicht die „Volksvertretungen“ in der und jener von den 36 deutschen Monarchien und nicht das dem parlamentarischen Kretinismus verfallene „Narrenkollegium“ in der Frankfurter Paulskirche haben das kümmerliche Bäumchen unseres verfassungsgemäßen Lebens gepflanzt. Das taten die rebellierenden Volksmassen, das taten vor allem die Helden auf den Berliner Barrikaden, die dem klassischen Typus der feudalen Monarchie den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust setzten. Noch im Tode machtvoller als die lebendige Majestät des gekrönten „Romantikers“ zwangen sie Friedrich Wilhelm IV., die Kapitulation des Thrones vor der Straße durch die Huldigung vor den Gefallenen feierlich einzugestehen. Die Konstitution, das verhasste „Blatt Papier“ kam, das der König durch bombastisches Geschwätz für immer gebannt zu haben wähnte. Jedoch die Straße hatte nur über die Krone, über die bewaffnete Gewalt des Feudalstaats zu triumphieren vermocht, indem in den Lichtkreis des politischen Lebens die empor tauchten, welche die sich revolutionär gebärdende liberale Bourgeoisie in der dunklen Tiefe zu halten wünschte: die Arbeiter. Die Arbeiter hatten die Kerntruppen der Barrikadenmänner gestellt, sie hatten gekämpft und gesiegt und waren damit plötzlich zum Bewusstsein ihrer Macht gelangt. Wie, wenn sie diese nicht bloß gegen das feudale System, sondern auch gegen die Bourgeoisie selbst kehren würden? Zwar hatten die deutschen Arbeiter noch so wenig hinter das Geheimnis ihrer Existenz als Klasse geguckt, dass sie nicht die bescheidensten eigenen Forderungen stellten. Aber rumorte nicht hier und da der Kommunismus der Handwerksgesellen, war da nicht das gräuliche Beispiel der Pariser Februarrebellen, die die „soziale Republik“ erklärt hatten und mit ihr „das Recht ans Arbeit“ und andere böse Dinge, welche das Recht der Bourgeoisie auf Faulheit antasteten? Die Spuren schrecken! Lange ehe das Klassenbewusstsein in den Ausgebeuteten und Geknechteten seine Augen aufzuschlagen beginnt, wird es in den Besitzenden und Ausbeutenden lebendig. Der Klassenhass der Bourgeoisie gegen die werktätigen Massen geht auch den elementarsten Regungen proletarischen Klassenlebens voran, denn es wird von der bangen Sorge um Besitz und Macht geboren. Eine geschichtliche Tatsache das, die hohnlachend alle Klugmeiereien zertritt, den Widerstand der Herrschenden gegen Forderungen der Proletarier durch die Bescheidenheit des Begehrens und das Lexikon des guten Tones einer demokratischen Reformpartei zu entwaffnen, die die „grässliche Fresslegende“ verpönt. Noch auf den Barrikaden von Bertin paktierte die oppositionelle Bourgeoisie mit dem geschlagenen System. Sie übernahm die ganze Maschinerie des Feudalstaats, um sie zum „Schutze“ der Ordnung gegen die Arbeiter zu kehren. Der kreißende Berg revolutionärer Bourgeoisbegeisterung für die Einheit und Freiheit Deutschlands gebar in Preußen nur das Mäuslein eines Ministerwechsels. An die Stelle von Feudaladligen kamen Vertreter der industriellen liberalen Großbourgeoisie.
Die gewaltige Junischlacht der heroischen Pariser Arbeiter steigerte die Furcht des „honetten“ Bürgertums vor dem Proletariat zu schlotterndem Entsetzen, die Niederlage der glorreich Geschlagenen reizte seine brutale Unterdrückungsgier um so mehr, je feiger und gefügiger es sich vor der einsetzenden Konterrevolution duckte. Die revolutionäre Erhebung Wiens im Oktober und nach verzweifelter, heldenmütiger Gegenwehr seine Knebelung durch Windischgrätz‘ Kohorten wirkten in der gleichen Richtung. Frech und frecher konnte die Konterrevolution auftrumpfen Im November schon ließ sie in Berlin durch Wrangel die konstituierende Versammlung auseinanderjagen. Noch sprosste 1849 kaum das erste junge Grün auf den Grabhügeln der März „ gefallenen, als Friedrich Wilhelm IV. durch die provisorische Verordnung, die heute noch als Wahlgesetz gilt, das „elendeste und widersinnigste aller Wahlrechtssysteme“ oktroyierte, und damit die Proletarier als politische Heloten unter das Geldsackregiment beugte. Das Pack der Besitzenden vertrug sich wieder, nachdem es sich geschlagen hatte. Die Arbeiter hatten mit ihren „ Blute die Kosten des Schlagens zahlen müssen, sie wurden nun auch die Opfer des Vertragens Die Großbourgeoisie begnügte sich im Parlament mit dem Platze neben dem Junkertum und lieferte diesem nach wie vor die Verwaltung und Regierung des Staates aus. Sie legte ihren Männerstolz vor Königsthronen fein säuberlich in die Altertumstruhe und katzbuckelte vor dem Gottesgnadentum, um nur bei gelegentlicher Verärgerung mit der Rückverwandlung der „Vernunftmonarchisten“ in „Idealrepublikaner“ zu drohen. So kam mit der Herrschaft des Junkertums die Selbstregiererei eines Monarchen wieder zu Ehren, den Marx [Engels] in „Revolution und Konterrevolution“ also charakterisiert: „In dilettantischer Weise hatte er sich mit den Elementen der meisten Wissenschaften bekannt gemacht und hielt sich daher für kenntnisreich genug, sein Urteil in jeder Sache für entscheidend anzusehen. Er war überzeugt, er sei ein Redner ersten Ranges, und es gab sicher keinen Handlungsreisenden in Berlin, der ihn an Fülle vermeintlichen Witzes oder an Geläufigkeit im Sprechen übertreffen konnte. Und vor allem hatte er seine Ideen. Er hasste und verachtete das bürokratische Element der preußischen Monarchie, aber nur, weil alle seine Sympathien dem feudalen Element gehörten. … Alle Kasten oder Stände des Reiches sollten einander an Macht und Einfluss so trefflich das Gleichgewicht halten, dass das Handeln des Königs völlig frei blieb.“ Solches wurde – es ist nützlich, das zu betonen – im September 1851 geschrieben.
Reichlich 60 Jahre nach Revolution und Konterrevolution trägt Preußens Proletariat noch immer die Ketten des Dreiklassenwahlunrechts, der Junkerherrschaft, des kaum verhüllten Halbabsolutismus. Dieser Stand der Dinge hemmt den Vormarsch der Arbeiterklasse in ganz Deutschland, denn einem Alp gleich lastet er auf der politischen Entwicklung im Reich. Jedoch Junkermacht und persönliche Regiererei schießen in Preußen und Deutschland nicht aus eigener Lebenskraft so üppig in die Halme. Die herrschende Großbourgeoisie ist es, die sie nährt und schützt, weil sie dadurch an Sicherheit der proletarischen Geusen gegenüber gewinnt, was sie an Macht und Freiheit verliert. Lange, ehe der Hottentottenblock sich zusammenschloss, trat die preußische Dreiklassenschmach als legitimes Kind der reaktionär-liberalen Paarung in die Geschichte ein, und nachdem diese Vereinigung sich formell aufgelöst hatte, zeugte sie noch den Wechselbalg der Wahlrechtsreform Bethmann Hollwegs. Denn was ist diese im Lichte der Tatsächlichkeit betrachtet? Mindestens ebenso sehr die Frucht der schimpflichen Schwäche des bürgerlichen Liberalismus, wie des zynischen Machtkitzels der Junker. Das preußische Proletariat würde zu den Fesseln seiner politischen Entrechtung und der Fuchtel der Junker die Narrenkappe verdienen, wollte es über die Lehren der Geschichte hinweg springen und in doktrinärer Glaubensseligkeit mit Wenn und Aber am Grabe des Liberalismus noch die Fahne der Hoffnung aufpflanzen. Wessen es sich in seinem Wahlrechtskampf von der herrschenden Bourgeoisie zu versehen hat, das schrieb bei der Beratung des Regierungsentwurfes die Haltung des Zentrums und der Nationalliberalen aufs Neue mit unverwischbaren Zügen nieder. Das Zentrum gab mit der direkten in Wirklichkeit auch die geheime Wahl preis; die Nationalliberalen aber schwingen sich im eigenen Interesse allenfalls noch zur Vertretung dieser beiden Forderungen auf, werden aber nun und nimmer den Kampf für das gleiche Wahlrecht aufnehmen, das sie als einen Raub am Monopol des Besitzes hassen. Ihr politisches Herz ist, wo ihr Geldbeutel ist, bei dem Zensus-, bei dem Pluralwahlrecht. Von dem kleinen Häuflein der Demokratischen Vereinigung abgesehen, wird nicht einmal der geeinte Linksliberalismus ein getreuer, rücksichtsloser Kämpfer für die politische Hinterlassenschaft der Märzrevolution sein. Hat nicht seine Einigung sich auf dem Boden eines Programms und einer Taktik vollzogen, die nach rechts orientiert sind und Anschluss an den Nationalliberalismus suchen? Hat nicht die erste Tagung der neuen „Fortschrittlichen Volkspartei“ im Zeichen belanglos plätschernden Bankettgeredes gestanden, und nicht in dem der Rüstung zum Wahlrechtskampf, des Appells an die Massen? Politischen Bettlern mag es genügen, dass der Demokrat von Payer etwelche freundliche Worte für das freie Wahlrecht fallen ließ, ausgerechnet der nämliche Herr von Payer, der vor zwei Jahren die Bajonette der Regierung im Voraus zur Mundtotmachung der Wahlrechtskämpfer gesegnet hat. Die bürgerliche Wahlrechtsdemonstration im Zirkus Busch hat gezeigt, dass die Führer des „entschiedenen“ bürgerlichen Liberalismus im Kampfe für das Wahlrecht nur voranschreiten, wenn die proletarischen Massen sie mit Fußtritten vorwärtstreiben.
So wird das Proletariat die Hauptmacht, die Sozialdemokratie die Führerin im Kampfe um das Erbe der Demokratie von 1848 sein. Das begreift die geschichtliche Notwendigkeit in sich, über den Märzen dieses Jahres hinauszugehen. Im Ziel, in den Kampfmethoden! Wir tragen dem Feldzug für die volle Demokratie nicht die bürgerlichen, wohl aber die sozialdemokratischen Wahlrechtsforderungen voran, die das Frauenwahlrecht, die Herabsetzung des Wahlrechtsalters, den Proporz und alle Reformen in sich fassen, die die volle politische Macht der breitesten Massen sichern. Wir lassen über ihm nicht die schwarzrotgoldenen Farben des bürgerlichen Konstitutionalismus fliegen, vielmehr das stolze Banner der roten Republik. In der Tat: „Das plutokratische Wahlrecht und der Halbabsolutismus sind im bürgerlichen Preußen-Deutschland leibliche Geschwister. Aus Furcht vor dem Proletariat hat der Liberalismus so wenig den Willen zur parlamentarischen Macht wie zur Einführung eines demokratischen Wahlrechts. Die Geschichte des Reichstags ist eine Kette von Selbsterniedrigungen des bürgerlichen Parlamentarismus vor dem persönlichen Regiment, von Ohrfeigen, die dieses der Volksvertretung verabfolgt. Man blättere nur einmal die Ereignisse der letzten zehn Jahre nach: von der Ausschaltung des Reichstags bei der Entscheidung über den Hunnenfeldzug bis zu den bekannten Veröffentlichungen der englischen Presse. Als Antwort darauf hat der Reichstag seine Unlust und seine Unfähigkeit dokumentiert, auch nur eine leidlich würdige Geschäftsordnung zusammenzubringen, von so „umstürzlerischen“ Dingen wie Ministerverantwortlichkeit usw. gar nicht erst zu reden. Den Verfall des bürgerlichen Parlamentarismus hat er sich erst kürzlich wieder bescheinigt, als die großen bürgerlichen Parteien sich weigerten, den Ordnungsruf aufzuheben, den Ledebour für seine Kennzeichnung der konservativen Staatsstreichgelüste erhalten hat. Als Erbe der achtundvierziger Revolution muss das Proletariat zur Verteidigung seiner Bürgerrechte alle Konsequenzen der Situation ziehen. Erblicken Junker und Junkergenossen die höchste Aufgabe eines Monarchen darin, einen Leutnant mit zehn Mann zur Auflösung des Reichstags zu kommandieren, so antwortet die Arbeiterklasse mit Heinrich Heine: „Bedenk ich die Sache mir ganz genau, so brauchen wir gar keinen Kaiser.“ Rufen die Herrschenden frech: „Es lebe der Staatsstreich!“, so klingt es von unten kühn: „Es lebe die Republik!“
Seit dem Märzen des Jahres 1848 sind durch die Geschichte zwei Revolutionen reisig geschritten, deren Hauptträger das Proletariat war: die Kommune von Paris und die russische Revolution. Beide haben trotz ihrer Erstickung im Blute tiefere Spuren in der Geschichte gepflügt und schöpferischer gewirkt als lange Jahre der Evolution. Lernen wir von ihnen! Es gilt den Kampf für ein ganzes Ziel; es gilt den Sieg unter Anwendung aller Kampfmittel, die sich aus der Klassenlage der Arbeiter ergeben, und welche die Not der Stunde gebeut. Darum das Schwert geschliffen und das Pulver trocken! Im Proletariat darf die große Zeit kein kleines Geschlecht finden. Es hat die Ziele der bürgerlichen Revolution nicht zu verwirklichen, sondern weiterzuführen. Seine Losung lautet: über den März hinaus!
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