[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 22, 1. November 1905, S. 127]
Das Proletariat ist um ein treues Herz und einen starken, reinen Willen ärmer geworden, die ganz dem Dienste seiner Befreiung aus leiblicher und geistiger Not gehörten. Am 11. Oktober ist infolge einer schweren Operation Genossin Gatti de Gamond gestorben, eine der verdienstvollsten Führerinnen der sozialistischen Frauen Belgiens, Mitglied des Nationalrats, das ist des Parteivorstandes der belgischen sozialistischen Arbeiterpartei. Um die Schwere des Verlustes würdigen zu können, genügt es nicht, auf die hehren Ideale zu verweisen, für welche die Verstorbene gekämpft hat, solange sie atmete; genügt es nicht, die Talente und Kenntnisse zu rühmen, welche sie für die Sache der Ausgebeuteten und Geknechteten betätigt hat. Da muss man vor allem auch der hohen Vorzüge des Charakters und Herzens gedenken, welche unsere Genossin zu dem machten, was sie war, und zu dem befähigten, was sie leistete. Aus der überquellenden Fülle reinster, selbstloser Menschenliebe, aus dem nie schlummernden Drängen nach der Vervollkommnung des inneren Menschen erwuchsen ihr die Kräfte, eine Kämpferin für die größten Ziele unserer Zeit zu sein.
Isabella Gatti de Gamond wurde 1839 als Tochter einer wohlhabenden, gebildeten Bürgerfamilie geboren. Aber Wertvolleres noch als die Gunst äußerer Verhältnisse leuchtete ihrer Kindheit und Jugend. Ihre Mutter war eine hochgesinnte Frau, welche in Belgien zu den ersten Vorkämpferinnen für das Recht des weiblichen Geschlechts auf freie Bildung zählte. Genossin Gatti de Gamond hat das ihr zugefallene Erbe an Glücksgütern und geistig-sittlichen Schätzen stets als eine heilige Verpflichtung betrachtet, für die zu wirken, zu opfern und zu ringen, welche in dieser besten aller Welten in jeder Hinsicht Enterbte sind.
Eine vorzügliche Erziehung entfaltete ihre reiche Begabung zu schönster Blüte. Um mit dem empfangenen Pfunde zu wuchern und der Allgemeinheit zu geben, was ihr gebührt, widmete sich Isabella dem Lehrberuf. Von 1864 bis 1399 leitete sie ein Bildungsinstitut für Mädchen, das Kindergarten, Elementar- und Mittelschulunterricht, Lehrerinnenseminar und Universitätskurse umfasste. Keine einseitige Drillanstalt für den Geist war es, keine Pflegestätte verlogenen gesellschaftlichen Formelkrams, eine Bildungsanstalt im schönsten Sinne des Wortes, die den Zweck verfolgte, die Zöglinge zu freien, zu ganzen Menschen erziehen, und die daher keine Seite ihres Wesens hungern und verkümmern ließ. Hier ward das Denken nicht von kirchlichen Dogma in Fesseln geschlagen, sondern durch den starken Odem der wissenschaftlichen Forschung belebt und gekräftigt. Hier waltete ein gütiges Herz, aus der Tiefe zarten und reinen Empfindens Verständnis. Nachsicht, Ermunterung für alle ihm Nahenden schöpfte. Denn Isabella Gatti de Gamond war nicht bloß eine Freidenkerin, sie war eine freie Denkerin, und sie, die Unvermählte, Kinderlose, war bis die letzte Faser ihres Wesens ein mütterliches Weib, das seine große Familie in allen leiblich und geistig Hilfsbedürftigen erblickte. Ihr glühendes Sehnen und Wollen drückte der Anstalt, der sie vorstand, das Gepräge ihres Geistes und Gemüts auf. Dazu war die Verstorbene eine geborene und geschulte Pädagogin. Eine ganze Generation von Töchtern der bürgerlichen Kreise hat sie zu tüchtigen Menschen erzogen. Aus der von ihr geleiteten Anstalt, die später der Staat übernahm – ein Zeichen ihres Wertes –, sind sehr viele der Frauen hervorgegangen, die in Belgien im Vordertreffen des Kampfes für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts stehen und sich auf dem Felde liberaler Berufstätigkeit hohe Achtung erworben haben. Aber sie hat ebenso Gattinnen und Mütter gebildet, die in mustergültiger Weise am häuslichen Herd schalten und walten, und die ihrerseits gar manchen der besten und führenden Männer getragen und erzogen haben. Ihr Wirken – das durch Rede und Schrift weit über die Kreise ihrer Schule und die Grenzen ihres Berufs hinausreichte – hat ihr treue Freunde und glühende Bewunderer geschaffen, aber auch grimmig hassende Feinde. Kein Wunder das! Genossin Gatti de Gamond war allzeit eine Kämpferin, und auch das Lehren und Erziehen war eine Seite ihrer Kampfestätigkeit, es war ein Stück lebendiger Praxis der Ideen, zu denen sie sich bekannte. Und je rückhaltloser und leidenschaftlicher sie jede Form und Äußerung der Knechtung, der Unwissenheit, der Lüge und Selbstsucht bekämpfte, desto heftiger feindeten sie alle an, die bewusst oder unbewusst Stützen und Nutznießer der Unterdrückung und Unwissenheit des Volkes sind und Gewalt und listigen Trug als Mittel der Herrschaft brauchen. Am bittersten aber hassten die klerikalen Dunkelmänner Genossin Gatti de Gamond, die ihrem Streben nach schrankenloser Macht der Kirche das Ringen nach dem Recht des Volkes entgegenstellte, das Dogma im Namen der Wissenschaft bekämpfte und den die Geister vergiftenden und brechenden Einfluss des Klerikalismus aus seinem festesten Bollwerk vertrieb: aus Hirn und Herz der Frau, aus der Familie. Was zum Pfaffentum gehörte und auf dasselbe schwor, das überschüttete die „Gottlose“, ihre Anstalt und sogar ihre Zöglinge mit den giftigsten Beschimpfungen und Verleumdungen. An der Reinheit der Persönlichkeit und der Verdienstlichkeit ihres Wirkens prallten sie wie von einem undurchdringlichen Panzer ab.
Von Staat und Gemeinde mit den höchsten Ehren ausgezeichnet, trat Isabella Gatti de Gamond 1899 von ihrem Amt zurück. Wie einen kalten Schatten hatte sie es stets inmitten ihres segensreichen beruflichen Wirkens empfunden, dass es in der Hauptsache nur den Kindern der Besitzenden zugute kam. Nun aber konnte sie dem Drängen ihres Herzens volle Genüge leisten und sich ganz der Sache derer widmen, die unter der Not der Sklaverei und der Sklaverei der Not seufzen. Trotz der Bürde der Jahre, die Schnee auf ihren Scheitel gehäuft hatten, war sie in jugendlicher Begeisterung unablässig als Agitatorin und Organisatorin unter dem belgischen Proletariat tätig. Nie ist der Ruf zum Kampfe für Wahrheit, Freiheit und Recht vergeblich an sie ergangen, keine Ungunst der Witterung, kein Drohen und Lästern der Gegner hielt sie zurück, wenn sich Gelegenheit bot, den Ausgebeuteten das sozialistische Evangelium zu verkünden. Für die Aufklärung und den Zusammenschluss der Arbeiterinnen, der proletarischen Frauen setzte sie vor allem freudig ihre Kraft ein. Sie gehörte zu den Gründerinnen und Führerinnen politischer und gewerkschaftlicher Organisationen der belgischen Sozialistinnen, besonders der Liga sozialistischer Frauen; sie war Begründerin, Redakteurin und hauptsächlichste Mitarbeiterin des ersten belgischen sozialistischen Frauenblattes, der „Cahiers féministes“; sie saß als Vertreterin des oben genannten Verbandes im Nationalrat der sozialistischen Arbeiterpartei. Als Rednerin und Schriftstellerin hat sie treulich alle Arbeiten und Kämpfe unserer belgischen Bruderpartei geteilt.
Gewiss: sie hat unserer Meinung nach als Sozialistin nicht immer den Weg von der Utopie zur Wissenschaft gefunden und die scharfen Grenzlinien erkannt, welche den Idealismus der Sozialisten von dem bürgerlichen Ideologismus scheiden, dessen letzte kümmerliche Zweige vor unseren Augen verdorren. Sie überschätzte zum Beispiel ebenso die bürgerliche Freidenkerbewegung der Leute, die auf Kongressen mit dröhnendem Wortschwall gegen die Kirche toben, aber ihre Frauen dem Pfaffeneinfluss und ihre Töchter der klösterlichen Erziehung überlassen, wie die bürgerliche Friedensbewegung der Herren und Damen, welche über die Gräuel des Krieges jammern, aber sich gleichzeitig für Heer und Flotte begeistern. Und wenngleich sie nicht bürgerliche Frauenrechtlerin war, so hoffte sie doch auch von den bürgerlichen Frauen manchmal mehr, als das Proletariat ihrer Klassenlage nach von ihnen billig erwarten darf. Das zu verschweigen, hieße die Tote beleidigen, die zeitlebens heiß um Wahrheit gerungen hat. Wer aber vermöchte diese und jene Unklarheit der Frau zum besonderen Vorwurf zu machen, die hochbetagt nicht mehr lernte, bei allen sozialen Erscheinungen historisch mit dem Kopfe die Klassen zu wägen, statt ideologisch mit dem Herzen auf die einzelnen Persönlichkeiten zu hoffen und ihnen den gleichen Mut der Konsequenz zuzutrauen, den sie selbst mit dem Übertritt ins sozialistische Lager betätigt hatte? Bis zu ihrem Tode hat Genossin Gatti de Gamond mit erhebender Gewissenhaftigkeit nach neuen Erkenntnissen, nach Klarheit gestrebt Das bekundet ihre – vermutlich letzte – Arbeit in den „Cahiers féministes“ über die Lage der Arbeiterinnen, ein Artikel, in welchem sie die frauenrechtlerischen Einwände gegen den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz abfertigt und klipp und klar nachweist, dass die Arbeiterin, die Proletarierin ihr Heil nicht von einem Kampfe zwischen den Geschlechtern erwarten darf, sondern nur von dem Kampfe der Klassen. Und Einzelheiten ihres Strebens verschwinden vor dessen hoch gerichteter Gesamttendenz, vor seinem mutvoll und begeistert festgehaltenen Endziel: am Bau einer Gesellschaftsordnung mitzuarbeiten, in der eine freie und glückliche Menschheit wohnt. Dafür hat Isabella Gatti de Gamond all ihr Sein und Können eingesetzt, redlich, ohne zu geizen und zu schachern, bis zum letzten Fünkchen Kraft; uneigennützig, ohne nach Vorteil und Ruhm zu fragen; begeistert, ohne sich je durch Schwierigkeiten und Opfer schrecken zu lassen. Gerade was die Verstorbene persönlich gewesen und in ihr Tun hineinlegte, das gab diesem Glanz, Wärme und überzeugende Kraft, das zwang auch den anständigen Gegnern ihrer Ziele Achtung ab, und das wird belebend und beispielgebend fortwirken über ihr Grab und über die Grenzen ihres Vaterlandes hinaus. Nicht bloß den Kämpfern und Kämpferinnen für den Sozialismus in Belgien, den Sozialisten aller Länder wird die edle Frau unvergesslich sein, die aus einem unerschöpflichen Schatz von Liebe und einem unstillbaren Wahrheitsdrang die Erkenntnis gewann: „Mitzukämpfen bin ich hier.“
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