Clara Zetkin: Unsere Losung

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 15, 25. April 1910, S. 225 f.]

Die diesjährige Maifeier des revolutionären Weltproletariats wird in Deutschland von dem Wetterleuchten aufziehender schwerer sozialer Kämpfe umloht. Der außerordentliche Kongress der freien Gewerkschaften wirft der Regierung ihren zweiten Entwurf zu einer Reichsversicherungsordnung vor die Füße, wie dies der letzte Parteitag der Sozialdemokratie mit ihrem ersten Machwerk getan hatte. Das Stattfinden dieses Kongresses allein schon ist eine Quittung über das Fiasko der Sozialreform von oben, ist aber auch ein feierliches Gelöbnis, dass die organisierten Arbeitermassen aus eigener Kraft der bürgerlichen Gesellschaft die nötigen sozialpolitischen Neuerungen entreißen werden. Das gewaltige Ringen zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern im Baugewerbe rückt die zunehmende Verschärfung der wirtschaftlichen Kämpfe in ein helles Licht. Hüben und drüben werden sie von immer größeren, immer fester zusammengeschlossenen Organisationen der Kämpfenden getragen, die Rückhalt von jenseits der Berufssphäre und der Landesgrenzen empfangen, und immer tiefer, erschütternder wirken die wirtschaftlichen Kämpfe auf das Getriebe der gesamten gesellschaftlichen Ökonomie zurück. Der rollende Donner des Wahlrechtskampfes in Preußen kündet ein aufsteigendes Gewitter, das sengende Blitze über ganz Deutschland senden wird.

Schon jetzt zeigt sich, dass der Feldzug gegen die politische Herrschaft des Geldsacks in Preußen nicht eröffnet werden konnte, ohne dass die Wahlrechtskämpfe in anderen Bundesstaaten einen leidenschaftlicheren Herzschlag und größere Wucht erhielten. Wir denken an den Stand der Dinge in Braunschweig, in der „Republik“ Bremen, in Anhalt und anderen „engeren Vaterländern“. Jedoch der Wahlrechtskampf kann sich auch auf die Dauer nicht weiter entwickeln, ohne in Preußen selbst wie in den anderen Bundesstaaten seine Spitze ebenfalls gegen die politischen Invalidenhäuser der geborenen und berufenen Gesetzgeber zu kehren. Seiner ganzen Natur nach unfähig, dem Wohle der Massen zu dienen, tritt der hier hockende Landsturm der Reaktion nur unter die Waffen, um die wichtigsten Reformen zu hemmen. Ein kraftvolles, zähes Ringen um die politische Demokratie in den Bundesstaaten muss endlich je länger je mehr den Sturm der Massen für die volle Demokratie im Reich entfesseln. Bekunden die Feinde der Arbeiterklasse nicht wieder und wieder das Gelüsten, das Reichstagswahlrecht reaktionär zu verschandeln, der vorwärts dringenden proletarischen Macht im Parlament durch ebenso kleinliche als bösartige Geschäftsordnungstücken zu begegnen, sie durch einen übergeordneten „Senat“ siebenmal gesiebter Gesetzgeber von Mammons Gnaden zu brechen? Und duckt sich die bürgerliche Mehrheit des Reichstags selbst nicht freundwillig unter die antiparlamentarische Faust der in Preußen regierenden Junkerkaste und des persönlichen Regiments? Die beste Verteidigung bleibt stets der Hieb, zumal für ein Kampfesheer besitzloser Massen, die ihre Gegner nie überzeugen können, sondern überwinden müssen. Eine wirksame Verteidigung des politischen Rechts der mit Hand und Hirn schaffenden Bevölkerung muss sich zum Kampfe für die demokratische Vollendung des Reichstagswahlrechts zuspitzen, zum Kampfe für das Frauen- und Proportionalwahlrecht, die Herabsetzung des Wahlmündigkeitsalters, die Aufhebung der politischen Ächtung der ganz Armen, die Unterstützung empfingen, die Neueinteilung der Wahlkreise usw. Sie muss zum Kampfe für die Macht des Parlaments selbst und die republikanische Staatsform treiben. Indes die proletarischen Massen den Krieg für das freie Wahlrecht in Preußen bis zu Ende durchfechten, muss in ganz Deutschland allerhand politischer Urväterhausrat in die Rumpelkammer der Geschichte geworfen oder wenigstens in bescheidene Stubenwinkelchen gerückt werden. Das lässt schon die Einleitung dieses Krieges in Erscheinung treten. Die ersten Geschützsalven haben dem Proletariat das Recht auf die Straße, auf die Demonstrationen unter freiem Himmel erobert. Und wenn dieser gefallene Zweig vom Baume politischen Unrechts daran erinnert, dass der Baum selbst noch steht, so sagt er den Massen nicht minder eindringlich, dass nur ihre Kraft außerhalb der Parlamente ihn zu fällen vermag.

Vor zwanzig Jahren haben die klassenbewussten Proletarier aller kapitalistischen Länder in der ersten sinneseinmütigen Maimanifestation feierlich ihren Willen bekundet, der kapitalistischen Ordnung die dringend nötigen sozialen und politischen Reformen abzutrotzen. Wenn Deutschlands werktätige Massen im Lichte der hervorgehobenen Flammenzeichen rückschauend betrachten, was sie seither in dieser Beziehung an „positiven Erfolgen“ errungen haben, mag ihnen die Bilanz mager erscheinen. Die Forderungen, um die es in diesen Tagen wettert und leuchtet, lassen dies begreiflich werden. Die sozialen Reformen auf den Gebieten des gesetzlichen Arbeiterschutzes und der Arbeiterversicherung sind nicht weit über bescheidene Ansätze hinausgekommen. Jede kleine Fortentwicklung zugunsten der Ausgebeuteten wurde durch Trutzmaßregeln gegen sie wettgemacht. Das Stück Menschentum, das die Gewerkschaften dank der Verkürzung der Arbeitszeit den gierigen Kapitalistenhänden entrissen, machen diese den Lohnsklaven vielfach wieder durch intensivere Ausnutzung ihrer Kraft streitig. Zoll-, Steuer- und Wohnungswucher fressen in unholder Gemeinschaft nur allzu oft die schwer erkämpften Lohnerhöhungen wieder auf. Der Erweiterung politischer Volksrechte in Württemberg, Bayern usw. stehen die Rechtsräubereien in Sachsen, Hamburg, Lübeck und vielen Gemeinden zur Seite. Die deutschen Arbeiter konnten in diesen zwanzig Jahren alles in allem weniger die Waffen erheben, um Neuland zu besetzen, als dass sie gezwungen waren, Vorstöße der Feinde zurückzuwerfen. Mussten sie nicht immer wieder tückische Versuche abwehren, das kämpfende Proletariat durch Zuchthausgesetze zu Paaren zu treiben, es mittels der Ausgestaltung und der Praxis des gemeinen Rechts als gemeinstes Recht zu knebeln?

Spärlich und langsam reifend müssen dem Proletariat die Früchte seiner Reformarbeit dünken, wenn es sie an seinem leidenschaftlichen Begehren nach Freiheit und Kultur misst; an der berauschenden Fülle des gesellschaftlichen Reichtums, der sein eigenes Werk ist, der Macht des Besitzes, die aus seiner Schwäche und Gebundenheit ihre Nahrung zieht; an den Bedürfnissen des Leibes und der Seele, die jeden Tag mahnend, aufpeitschend aus den Abgründen seines Elends emporsteigen.

Doch wie steigt die Bedeutung der proletarischen Errungenschaften, wenn wir sie in anderem Zusammenhang betrachten! Sie haben Hunderttausende vor dem Absturz in das kämpfuntüchtige Lumpenproletariat bewahrt; andere Hunderttausende wieder kampffähig gemacht; haben Millionen um das Banner des Sozialismus geschart; das Proletariat als Ganzes hat durch sie an Kampfesfrische und Schlagfertigkeit gewonnen. Denn dieses ist ihre alle anderen Vorteile überragende Tragweite: sie sind das Werk des organisierten Proletariats selbst. Kämpfend hat dieses jeden Zollbreit nach vorwärts errungen. Kein noch so bescheiden auftretender Fortschritt in der proletarischen Klassenlage konnte sich vollziehen, ohne dass ihm die große geschichtliche Tatsache steigender Organisation, bewusst geführten Klassenkampfes vorangegangen wäre. Die Sammlung, Organisierung und Schulung der Arbeitermassen für den proletarischen Klassenkampf, der im Sturze der kapitalistischen Ordnung gipfeln muss, das ist das folgenschwerste, positive Ergebnis dieser zwanzig Jahre. Und wahrhaftig: das deutsche Proletariat kann mit Stolz auf dieses sein Werk zurückblicken. Wie engmaschig und fest ist das Netz seiner gewerkschaftlichen und politischen Organisation geworden, wie reich und blühend das Leben, das in ihnen pulsiert!

Die große Bedeutung des organisierten Aufmarsches der Ausgebeuteten als Klasse tritt aber weniger in greifbaren Erfolgen zutage, als vielmehr in dem zähen erbitterten Widerstand, dem jede Forderung der kämpfenden Heerscharen begegnet. Der Zusammenschluss aller bürgerlichen Parteien zu der einen reaktionären Masse, sobald es sich um weittragende proletarische Interessen handelt, die fortschreitende Koalition der Unternehmer künden die steigende Macht des kämpfenden Proletariats. Was die trockenen starren Ziffern der letzten Berufs- und Gewerbezählung aufzeigen, das bestätigen die Feuersäulen wirtschaftlicher und politischer Kämpfe. Wir stehen mitten drin in einer Ära revolutionärer Entwicklung, die zu gewaltigen Auseinandersetzungen zwischen den Klassen treibt.

Für das Proletariat gilt es, gerüstet zu sein. Schon hat es die Waffe der Straßendemonstrationen seiner Rüstkammer einverleibt. Die Not – im Sinne der Notwendigkeit – wird es in absehbarer Zeit dazu drängen, sich auch jener Waffe zu bedienen, welche der Parteitag zu Jena dorthin gestellt hat: des Massenstreiks. Denn der Massenstreik ermöglicht es wie kein anderes Kampfmittel, die im gesellschaftlichen Tartarus schlummernden Riesenkräfte zu mobilisieren und in klassenbewusste Aktion umzusetzen. Selbstverständlich kann es sich dabei nicht um einen einzigen Massenstreik als alleinseligmachende Kampfestat handeln, deren Datum, Voraussetzungen und Wirkungen die Theoretiker im Voraus berechnen. Wohl aber werden Massenstreiks immer mehr als die typische Bewegungs- und Kampfesform des Proletariats in Zeiten revolutionärer Entwicklung und Gärung auftreten,. Es ist der Geschichte ew’ges Muss“, und ihr Gebot wird die alten erprobten proletarischen Kampfesformen und Kampfesmethoden nicht entwerten, sondern im Gegenteil bedeutsamer und fruchtbarer gestalten.

Am Weltfeiertag der Arbeit ziemt es dem kämpfenden Proletariat, seinen Blick prüfend auf alle Machtmittel zu richten, die ihm zu Gebote stehen. Es kann sie nicht mustern, ohne an männlichem Selbstvertrauen, an geschichtlicher Einsicht und frei gewollter Zucht zu gewinnen. Es darf ihre Anwendung nicht ins Auge fassen, ohne sich über die Gefahren und Opfer klar zu sein, welche mir dem Gebrauch verknüpft sind, ohne das heilige Gelöbnis, alle starken Quellen eines hingebungsvollen Idealismus zu erschließen. Es muss mit ihnen rechnen, ohne zu übersehen, dass sein Siegeslauf zwar ein sicherer, aber kein gleichmäßiger, geradliniger ist. Nicht verabsäumen, alles zu wägen, nicht davor zurückschrecken, alles zu wagen: diese Losung möge die Maifeier den Unterdrückten unverwischbar ins Bewusstsein schreiben. Von ihr befeuert, werden sie die Reformforderungen zum Siege tragen, welche am 1. Mai überall auf dem Erdenrund proklamiert werden, wo der tote Besitz seinen Schöpfer knechtet: den lebendigen, arbeitenden Menschen. Von ihr befeuert, werden sie die gewaltigste Tat der Menschheitsgeschichte vollbringen: die Befreiung des Proletariats als das Werk des Proletariats selbst. Mit dem unbeugsamen Willen zu dieser Tat reiht sich das klassenbewusste Proletariat Deutschlands den revolutionären Kampfesheeren seiner Brüder aller Länder ein.


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