Clara Zetkin: Vorwärts!

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 11, 28. Februar 1910, S. 161 f.]

Der preußische Wahlrechtskampf ist in ein neues Stadium getreten. Nachdem die Schmach des Dreiklassenwahlrechts, des ,elendesten aller Wahlsysteme‘, wie es Bismarck genannt hat, über ein halbes Jahrhundert lang gewährt hat, nachdem die Junker- und Geldsackherrschaft in Preußen über ein halbes Jahrhundert lang ungestört die skrupelloseste und zynischste Methode des Wahlsystems benutzen konnte, um die große Masse des werktätigen Volkes in Unmündigkeit zu erhalten, ist plötzlich, wie über Nacht, die preußische Wahlreform zur brennendsten Frage des öffentlichen Lebens in Deutschland geworden. Alle Parteien nehmen zu ihr Stellung, alle öffentlichen Versammlungen fassen Resolutionen über das preußische Wahlrecht, alle Zeitungen sind mit Artikeln und Notizen darüber gefüllt, im Reichstag, im preußischen Landtag, in allen Stadtverordnetenversammlung hallt es von Redeschlachten über die preußische Wahlreform, und schließlich schwitzen die Geheimräte Angst und Blut über der Regierungsvorlage zur Abänderung des preußischen Wahlrechts.

Was ist geschehen? Welches Wunder hat hier die Totenstille des politischen Kirchhofs, genannt Preußen, mit dem Lärm der Gassen erfüllt? Welcher Zauber hat die ehrenwerten Mumien des Dreiklassenparlaments aus dem sanften Schlafe eines halben Jahrhunderts gerüttelt? Welche Macht hat plötzlich die Tore und Fenster der alten Zwingburg aufgerissen, Licht und scharfen Luftzug hereingelassen, dass der Staub und der Moder des alten Herrenrechts atemraubend aufsteigen und im Wirbelwind herumtanzen? Das Wunder, der Zauber sind mit zwei Worten genannt: Das arbeitende Volk ist in die Straßen gestiegen!

Die „väterliche Regierung“, der Staat, der vorgibt, über den Klassen und Parteien zu stehen, hat sechzig Jahre lang mit gepanzerter Faust die Zwingburg des junkerlich-großbürgerlichen Vorrechts geschützt. Das konservative Junkertum, das moderne Raubrittertum hat „mit Gott für König und Vaterland“ sechzig Jahre lang in schamlosester Weise ein parlamentarisches Gewaltrecht, ein parlamentarisches Wegelagererhandwerk ausgeübt, um die Volksmasse zu knechten und die geknechtete auszuziehen, wie weiland ihre edlen Vorfahren wenigstens unter Einsatz des eigenen Lebens auf großen Straßen nachts im Walde den Kaufmann niederschlugen und auszogen.

Aber, was das Wichtigste: auch das gesamte Bürgertum aller Schattierungen hat sechzig Jahre lang die preußische Dreiklassenschmach geduldet. Das einst demokratische, oppositionelle Zentrum, das vorgibt, eine Volkspartei zu sein, „für Wahrheit, Freiheit und Recht“ zu kämpfen, hat sich im preußischen Landtag selbst der Junkersippe zugesellt, sich das schreiendste aller Wahlunrechte zugute kommen lassen, sich an der Volksknebelung und der Volksberaubung weidlich beteiligt. Die Nationalliberalen, die Partei des Geldsacks und des Industrierittertums, haben nicht einen Finger gerührt, um die junkerliche Zwingburg zu erschüttern, ja sie verschanzten sich jahrzehntelang selbst hinter dieser Zwingburg, um desto sicherer ihre Streiche gegen das arbeitende Volk zu führen. Und die Freisinnigen haben ein halbes Jahrhundert lang mit allen liberalen Phrasen im Munde es feige vermieden, den geringsten Kampf gegen das Junkerregiment zu erheben, bis sie in den Sumpf der Blockpolitik herabgerutscht sind, um mit eigenen Nacken die Herrschaft des ostelbischen Kürassierstiefels zu stützen. Nichts rührte sich, und die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung schienen an Preußens Grenzen zu verstummen. Im Schoße Preußens entstand eine gigantische moderne Industrie, unzählige Fabrikschlote rauchten, Maschinen rasselten, Dampfhämmer pochten, Eisenbahnzüge rasten durch das kapitalistisch aufgewühlte Land. Aber das preußische Abgeordnetenhaus ragt inmitten dieses modernen, fieberhaft pulsierenden Lebens wie eine düstere feudale Burgruine, von Eulen der schwarzen Reaktion umflattert, schien den Zeiten und Stürmen zu trotzen, die Gesetze des Fortschritts zu verhöhnen. Preußen blieb bei all seiner enormen kapitalistischen Entwicklung politisch ein Stück in die moderne Zivilisation hineinragender mittelalterlicher Barbarei.

Und nun genügten einige Tage imposanter proletarischer Straßendemonstrationen, um die Burgruine in ihren Grundfesten zu erschüttern, um ihren Zusammenbruch zur Frage der nächsten Zeit zu machen. Das preußische Wahlsystem istunhaltbar geworden, und dies zu bewirken, hat die erste ruhige Regung des Riesen Proletariat genügt!

Die bisherigen Demonstrationen des preußischen Proletariats haben wieder einmal bewiesen, dass es nur eine Macht gibt, die dem Fortschritt in Deutschland zu seinem Rechte verhelfen, ihm Bahn brechen kann, und das ist die Aktion der großen Masse des Volkes auf den Straßen. Nicht in den Parlamenten, nicht in glatten und scharfzüngigen Wortgefechten – nein, draußen auf staubigen Straßen und Plätzen werden die großen Fragen der Geschichte, des Fortschritts, der Kultur ausgefochten. Der reale Beginn der deutschen Freiheit und des deutschen Fortschritts ward gelegt auf den Straßen Berlins, Wiens und anderer Städte im März des Jahres 1848, als das Volk in Massen auf die Straße stieg und Barrikaden baute. Heute steigt das Volk auf die Straße, um jenes Werk fortzusetzen, es noch einmal zu erschaffen, nachdem die Konterrevolution das Volk um die Früchte seiner Kämpfe und Siege betrogen und im Jahre 1849 das schändliche Dreiklassenwahlrecht in Preußen oktroyiert hat.

Jene gute Tradition des Jahres 1848 und aller modernen revolutionären Kämpfe setzen wir heute fort, indem wir uns einzig und allein auf die Macht des Volkes, auf den Willen der Arbeitermasse, auf die Tat des proletarischen Millionenheers verlassen, indem wir einzig und allein auf die eigene Kraft bauen. Nur so viel werden wir im gegenwärtigen Kampfe um das preußische Wahlrecht erlangen, als wir aus eigener Einsicht, durch eigene Entschlossenheit, Zähigkeit und eigenen Wagemut den Feinden entreißen. Wir knüpfen im heutigen Wahlrechtskampf an die Tradition des Jahres 1848 an, wir knüpfen durch unsere Straßendemonstrationen wieder den Faden des preußisch-deutschen Fortschritts, wo ihn vor sechzig Jahren die Sturzwelle der Konterrevolution jäh und brutal abgerissen. Aber wir müssen uns dabei auch die ganzen Lehren und Erfahrungen der seitdem verflossenen sechzig Jahre der preußisch-deutschen Geschichte zunutze kommen lassen.

Weshalb konnte die Reaktion den Faden des Fortschritts zerreißen; weshalb müssen wir heute erst in zähem Kampfe einen Rest des finstersten Mittelalters aus Preußen-Deutschland in die Luft sprengen; weshalb hat sich ins zwanzigste Jahrhundert herüberretten können, was schon am Beginn des neunzehnten von der modernen Entwicklung zum Tode verurteilt war? Die Antwort lautet: Weil die deutsche liberale Bourgeoisie, die im „tollen Jahre“ das Heft in den Händen hatte, in ihrer Feigheit vor dem revolutionären Proletariat, das hinter ihr her stürmte, auf halbem Wege stehengeblieben ist. Durch sechzig Jahre politischen Stillstandes in Preußen mit all seinen fluchwürdigen Folgen der junkerlichen Herrschaft für ganz Deutschland hat sich die Zaghaftigkeit, die Halbheit der damaligen bürgerlichen Führer der Revolution gerächt.

Darum heißt die erste, die oberste Lehre dieser sechzig Jahre düsterer preußisch-deutscher Geschichte für uns heute: Nichtauf halbem Wege stehen bleiben! Nicht auf halbem Wege in den Mitteln, nicht auf halbem Wege in den Zwecken.

Die Straßendemonstrationen haben die Macht des arbeitenden Volkes gezeigt, sie haben das alte Wahlunrecht erschüttert. Aber das Wahlunrecht ist noch nicht gestürzt, das Recht ist noch nicht erobert. Die Straßendemonstrationen haben ausgereicht, um den Kampf auf der ganzen Linie einzuleiten, sie werden kaum ausreichen, um ihn zum Siege zu führen. Den Straßendemonstrationen müssen sich weitere Kampfmittel zugesellen. Das Proletariat muss zeigen, dass seine Rüstkammer noch lauge nicht erschöpft ist, dass es schärfere Waffen besitzt, um den Widerstand der junkerlich-bürgerlichen Reaktion zu brechen. Und eine schärfere Waffe, fertig zum Gebrauch, birgt die Rüstkammer der Sozialdemokratie bereits seit dem Jenaer Parteitag, seit dem Beschluss über den Massenstreik. Der Massenstreik ist die nächste Waffe, die wir werden ergreifen müssen, wenn das Mittel der Straßendemonstrationen seine Wirkung erschöpft hat oder auf brutalen Widerstand der nackten Gewalt der Gegner gestoßen ist.

Aber auch in den Zwecken unseres gegenwärtigen politischen Kampfes bleiben wir nicht auf halbem Wege stehen. Unsere nächste Antwort auf die lächerliche Erbärmlichkeit der preußischen Wahlreformvorlage ist die Losung: Allgemeines,gleiches, direktes Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe für alle Staatsangehörigen über zwanzigJahre ohne Unterschied des Geschlechts und mit Proportionalvertretung aller Parteien nach der Anzahlder für sie abgegebenen Stimmen.

Allein, auch ein solches demokratisches Wahlrecht für Preußen kann uns nicht genügen, gibt uns keine ausreichende Garantie vor den Übergriffen der junkerlich-großkapitalistischen Reaktion. Wollen wir den Kampf gegen den Punkt richten, wo sich alle Fäden der herrschenden Reaktion kreuzen und knüpfen, wo die Herrschaft des Junkertums in Preußen und des junkerlichen Preußens in Deutschland ihre sichtbare Spitze hat, so müssen wir zur Offensive gegen das persönliche Regiment übergehen. Auch hier ist der Hieb die beste Parade. Dem ganzen persönlichen Regiment, dem ganzen heiseren reaktionären Gekrächze nach Umsturz der Reichsverfassung stellen wir klipp und klar unsere Forderung der sozialen Republik entgegen. Wir tragen diese stolze Grundforderung jeder wahren Demokratie in die breitesten Volksmassen. Auch damit knüpfen wir an die besten Traditionen des Jahres 1848 an und nehmen das von dem Bürgertum so erbärmlich feige verlassene Banner wieder auf.

Ein großes Werk hat die Sozialdemokratie übernommen, indem sie durch ihr Machtwort aus dunklem unterirdischem Dasein Millionen Enterbter und Ausgebeuteter heute auf die Oberfläche gerufen hat, um das Urteil der geschichtlichen Entwicklung zu vollstrecken, dem Fortschritt eine neue Bahn zu schaffen. In diesem großen Werke gibt es kein Zurück, sobald der Anfang einmal gemacht ist. Und der Anfang ist gemacht! Schon zittern Hunderttausende unserer besten, opfermutigsten Proletarier vor Ungeduld nach weiteren Kämpfen und Siegen. Schon rufen die Arbeiter in Halle, in Bremen, in Frankfurt, in Breslau nach weiteren, schärferen Mitteln, nach Massenstreik. Dieser Ruf muss in allen Städten, in allen Gegenden Preußens und des Reiches Echo finden, überall sollen die Proletarier das eherne Muss der Geschichte, die unerbittliche Logik, die hohen Pflichten des einmal begonnenen Kampfes erkennen, zum Entschluss und zur befreienden Tat schmieden. Überall müssen sich arbeitende Männer und Frauen, Alte und Junge von dem Bewusstsein durchdringen lassen: es gibt kein Zurück jetzt für die Sozialdemokratie in dem einmal begonnenen Kampfe, sie kann nicht mehr auf halbem Wege stehen bleiben. Darum vorwärts! auf der ganzen Linie.


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