[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 8, 19. April 1905, S. 43]
Das stolz herausfordernde Wort gegen die Tyrannei, das Schiller seinem gewaltigen Erstlingsdrama voranstellte, kennzeichnet schlagend das Wesen des wichtigsten fruchtbarsten Ereignisses unseres innerpolitischen Lebens, des Delegiertentags preußischer Bergarbeiter, der vom 28. bis 30. März in Berlin stattgefunden hat. Wider die Zechentyrannen, wider die Tyrannei des ausbeutenden Grubenkapitals, das war die Losung, welche die Vertreter von preußischen Bergarbeiterorganisationen aller Richtungen, ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses, der politischen Überzeugung, der Nationalität, zu einem Arbeiterparlament zusammenführte, wie es Deutschland noch nicht gesehen hat.
Lediglich bergmännische Interessen und Forderungen bildeten den Gegenstand der Beratungen und Beschlussfassungen, aber nicht eine zünftige Berufsmeierei, ein ausgesprochen proletarischer Klassenstandpunkt gab ihnen das Gepräge. Welche Anklagen auch immer gegen schwer empfundene Übel erhoben wurden, und welches auch immer die formulierten Forderungen waren, sie hatten alle eine gemeinsame Wurzel: die tyrannische Macht, welche das ausbeutende Kapital über die ausgebeutete Arbeit ausübt; das mehr oder minder geklärte Bewusstsein, dass ein unversöhnlicher Gegensatz der Interessen die düstere Welt der Grubensklaven von dem glanzvollen Reich der Grubenherren scheidet, und dass die Bergarbeiter nur durch die Auflehnung, den Kampf gegen die knechtende Macht ihr Los zu erleichtern vermögen.
Die nämliche Sprache redete, was da an Tatsachen angeführt wurde über die profitwütige Verlängerung der Schichtdauer, die allen Verträgen und allen Rücksichten auf das Menschentum der Bergarbeiter frech-hohnvoll ins Antlitz schlägt; über das Unwesen der Überschichten und den Raub der Sonntagsruhe; über die gewissenlose Vernachlässigung von Betriebseinrichtungen und Maßregeln zur Sicherung von Gesundheit und Leben, die in dem frühzeitigen und häufigen Siechtum der Bergproletarier, in der erschreckenden Steigerung der Unfälle ihren Ausdruck findet; über die brutale Stilllegung der Zechen, die Tausenden Brot und Heimat nimmt und ganze Gemeinden zerrüttet; über die niedrigen, schwankenden Löhne, die Not und Entbehrung in die Familien tragen; über die Gaunerei des Wagennullens und das Strafwesen, das sich nicht selten zur schamlosen Prellerei der Arbeiter um den sauer verdienten Lohn zuspitzt; über die rachsüchtigen Maßregelungen „missliebiger Elemente“ usw. usw. Die nämliche Erkenntnis, den nämlichen Willen bekundete aber auch, was ausgeführt wurde zur Brandmarkung der offiziellen Untersuchungskomödie im Ruhrgebiet, zur Begründung der Einführung einer gewissenhaften Grubenkontrolle, der Schaffung unabhängiger Arbeiterausschüsse, der durchgreifenden Reform des Knappschaftswesens, der Notwendigkeit gründlichen Bergarbeiterschutzes überhaupt.
Es ist uns nicht möglich, hier auf das Material zu den einzelnen Fragen einzugehen, das die sachkundigen Referenten und Diskussionsredner in schier unerschöpflicher Fülle häuften. Wir bedauern das. Denn hinter den 250.000 organisierten Bergarbeitern, die auf dem Delegiertentag vertreten waren, hinter der halben Million Grubenhörigen, um deren Arbeits- und Existenzbedingungen es sich handelte, stehen Hunderttausende und Aberhunderttausende Frauen und Kinder. Keine Seite der Erwerbsverhältnisse der Männer, die nicht hineingreift in das Leben ihrer Angehörigen und damit deren Wohl und Wehe in Abhängigkeit bringt von der Gewalt des ausbeutenden Kapitals. Wir müssen uns damit begnügen, auf den Teil der Verhandlungen besonders hinzuweisen, welcher mit schlichter Eindringlichkeit feststellte, wie die Frauen und Kinder selbst die erbarmungslos zerfleischte Beute des Grubenkapitals sind.
Die Schwere und Mühsal der Grubenarbeit, die aufreibenden, gesundheitsschädlichen Einflüsse, mit denen sie verbunden ist – Bedingungen, welchen der Organismus robuster Männer nicht lange standzuhalten vermag –, heischen gebieterisch den Ausschluss der Frauen und Kinderarbeit vom Bergbau. Die Verwendung von Kindern in den Gruben und ihren Nebenbetrieben bedeutet nicht mehr und nicht weniger als einen langsamen, tückischen Mord an Leib und Seele der Kleinen. Jeder Tag, jede Stunde ihrer Fron zerrüttet und tötet in ihnen unreife, schonungs- und pflegebedürftige Kräfte. Und eines Mordes macht der Kapitalismus sich auch schuldig, wenn er die Frau im Bergbau ausbeutet, eines Mordes, der mit der Gesundheit des Weibes, der Mutter, die des nachwachsenden Geschlechtes erwürgt, wichtige Voraussetzungen für die Erfüllung der Mutterpflichten, für ein gedeihliches Familienleben vernichtet. Je verderblicher die Gruben- und Hüttenarbeit auf den Organismus der Frau einwirkt, je rücksichtsloser die kapitalistische Profitmühle ihre Muskeln und Nerven zermürbt: um so furchtbarer verschärft treten die gesundheitlichen, geistigen und sittlichen Schäden, die wirtschaftlichen und sozialen Übel in Erscheinung, welche das verhängnisvolle Erbteil der kapitalistisch ausgebeuteten Frauenarbeit sind.
Nichtsdestoweniger peitscht in Deutschland die Tyrannei des Grubenkapitals mit Hilfe der Not und der Einsichtslosigkeit Frauen und Kinder zu der unheilvollen Arbeit. Dafür erbrachten die Referate von Hué und Krolik, die Diskussionsreden von Dölle, Sosinski und Adameck unanfechtbare Beweise.
Zwar verbietet das Gesetz, Kinder unter 16 Jahren bei unterirdischer Grubenarbeit zu beschäftigen. Jedoch ein Ministerialerlass von 1856, der 1879 erneuert wurde, hat der reichen Gesellschaft „Mansfelder Bergbau“ ermöglicht, in puncto Kinderausbeutung ein „deutsches Sizilien“ zu schaffen. Sie verwendet Kinder unter 16, ja unter 14 Jahren! Ohne Hemd, nur mit einer Hose bekleidet, bei drückender Schwüle, in Schächten, die günstigsten Falles 35 Zentimeter hoch sind, müssen die Unglücklichen kriechend die erzgefüllten Hunde an Stricken zur Förderstelle ziehen. Kinder unter 14 Jahren sind Unfallrentner geworden, sind auf dem Schlachtfeld der Arbeit, richtiger der kapitalistischen Ausbeutung gefallen, weil ihnen ein Tagesverdienst von höchstens 1,30 Mark winkt! Dies aber ist charakteristisch dafür, mit welch tiefer Berechtigung Karl Marx den Kapitalisten das Wort in den Mund legte: „Dem Ding, das wir repräsentieren, schlägt kein Herz in der Brust“: die Zahl der Kleinen steigt, die Pein und Unfall preisgegeben sind. 1902 waren im preußischen Bergbau nur 40 Knaben unter 14 Jahren beschäftigt, 1903 schon 71.
Und wie sieht es betreffs der weiblichen Gruben- und Hüttenarbeit in einem Reiche aus, wo Regierungen und ausschlaggebende Parteien die Frau grundsätzlich auf das Heim als auf die Welt ihres Seins und Tuns verweisen, ihr unter Berufung auf Natur und Pflicht freie Beschäftigung und Gleichberechtigung im sozialen Leben versagen? Zurzeit sind in der deutschen Montanindustrie gegen 14.000 weibliche Personen tätig. Preußische Bergwerke, Salinen, Kokereien, Brikettfabriken und Aufbereitungsanstalten verschiedener Art beschäftigten 1902 nicht weniger als 9093 Arbeiterinnen, von denen 4093 im Alter von 16 bis 21 Jahren standen, die übrigen über 21 Jahre alt waren. In Oberschlesien allein beuten Zechengewaltige 7916 Frauen und Mädchen aus. Nach der Zeitschrift des Berg- und Hüttenmännischen Vereins frondeten in den Steinkohlenwerken 452, in den Eisenerzgruben 839, in den Zink- und Bleierzgruben 2673 Frauen. In Mitteldeutschland, in der Gegend von Halle, Weißenfels, Zeitz usw., spottet das Grubenkapital ebenfalls jeder Rücksicht auf die „zarte Weiblichkeit“ und den „Naturberuf“ der Proletarierinnen. Dass der Bergbau der Frauenarbeit sehr wohl entraten kann, ist durch die fiskalischen Betriebe erwiesen, die auf sie verzichten. Trotzdem steigt die Zahl der in Bergwerken und ihren Nebenbetrieben tätigen Frauen, während diejenige der daselbst schaffenden Männer vielfach sinkt. Aus Beuthen, Görlitz und anderen Bezirken noch vermelden dies die Bergrevierbeamten. Von 1902 bis 1903 haben zum Beispiel im Revier Beuthen die Bergarbeiter um 412 abgenommen, die Arbeiterinnen nahmen um 26 zu.
Fast durchweg ist es auch im Bergbau der Hinblick auf die niedrige Entlohnung der Frau, auf ihre geringere Widerstandskraft gegen das ausbeutende und knechtende Unternehmertum, ist es der kapitalistische Goldhunger, der zur Ausdehnung der weiblichen Arbeit führt. Ausnahmebewilligungen machen den armseligen Schutz illusorisch, den das deutsche Gesetz den Lohnsklavinnen der Großbetriebe zubilligt. Auf oberschlesischen Gruben müssen die Frauen zum Beispiel oft dreizehn Stunden täglich schanzen. „Halbnackt, schmutzüberdeckt, Männerarbeit leistend, schwere Wagen schiebend“, bei den härtesten und ungesündesten Verrichtungen trifft man Arbeiterinnen in den Gruben und Nebenbetrieben an. Unzählig sind die Schliche und Pfiffe, mittels welcher den Ärmsten der schmale Lohn gekürzt, mittels welcher sie um ihre Rechtsansprüche als Kranke und Verunglückte betrogen werden. Rasches Welken und Altern, große Kränklichkeit der Frauen; hohe Sterblichkeit, körperliche Schwäche und Gebrechen, Stumpfsinn und sittliche Verwilderung der Kinder; Verlotterung und Zerfall des Familienlebens bezeugen die verwüstenden Wirkungen der Frauenarbeit im Bergbau. Zu den angedeuteten Übeln gesellt sich oft genug die Schmach. Vorgesetzte, Grubenbeamte – bis hoch hinauf – vermeinen, mit der Lohnsklavin auch die Lustsklavin gekauft zu haben.
Das aber verdient besonders mit Flammenschrift an den Pranger geschlagen zu werden: nicht bloß „liberale Freigeister“ treten um des Profits willen das Weib, den Menschen in der Proletarierin mit Füßen. Fromme Katholiken, glänzende Leuchten des Zentrums tun desgleichen. Viele der oberschlesischen Bergbaubetriebe, in denen Frauen unter den empörendsten Bedingungen ausgebeutet werden, befinden sich in dem Besitz waschechter Zentrumsführer, welche wie Ballestrem und andere Grafen und Fürsten den deutschen Reichstag, das preußische Abgeordneten- und Herrenhaus zieren. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, die ebenso verlogenen Arbeiterfreunde wie Maulgläubigen!
Mit allem Nachdruck hat der Delegiertentag gefordert, dass die Gesetzgebung Frauen und Kinder der Ausbeutungsmacht des Grubenkapitals entziehe. Der preußischen Regierung aber fehlt offenbar – wie der Reichsregierung ja auch – das Organ für das Verständnis der erhobenen Forderung. Ihre Berggesetznovellen enthalten nicht einmal die kleinste Konzession an sie. Und dass die gesetzgebenden Körperschaften Preußens etwa nachholen würden, was die Regierung versäumte, das könnte sich nur jemand einbilden, dessen unverwüstliche Dummheit dem durch keinerlei menschliche Bedenken angekränkelten Klassenegoismus ebenbürtig wäre, der in diesen Karikaturen einer Volksvertretung herrscht. Wessen die Bergarbeiter sich von ihnen zu versehen haben, darüber sind sie genügend durch die Fingerfertigkeit belehrt, mit welcher im preußischen Landtag aristokratische und plutokratische Scharfmacher ein gepfeffertes Arbeitertrutzgericht an dem Feuer zusammenbrodeln, an welchem die Regierung die Bettelsuppe ihres Arbeiterschutzes kochen wollte. Mit wünschenswerter Deutlichkeit weist dieser Vorgang darauf hin, dass hinter dem auswuchernden und drückenden Zechenherren die dreifach gepanzerte Macht der kapitalistischen Gesellschaft steht. Die Fehde, welche der Delegiertentag der preußischen Bergarbeiter den Zechentyrannen, dem Grubenkapital angesagt hat, leitet den Kampf des deutschen Grubenproletariats gegen die lastende Tyrannei der kapitalistischen Ordnung ein. „’s ist der Geschichte ew’ges Muss“ und die fruchtbarste Folge davon, dass die Zechensklaven sich mit der Parole erheben: In Tyrannos!
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