Clara Zetkin: Was wir gegenwärtig fordern

[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 2, 17. Januar 1900, S 9 f.]

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil der weibliche Organismus im Mutterschaftsfalle besondere Aufgaben zu leisten hat, gewissen gesundheitsschädigenden Einflüssen besonders leicht zugänglich ist und unter ihnen besonders schwer leidet.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil die Arbeiterin als Gattin und Mutter in der Familie Sonderpflichten erfüllen muss und in der Folge zwiefache Arbeitslast trägt.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil die Arbeiterin als Glied eines politisch rechtlosen, sozial unterbürtigen Geschlechts weniger aufgeklärt, organisiert und mit geringeren Rechten ausgerüstet ist als der Arbeiter und deshalb als Glied einer wirtschaftlich unfreien Klasse weniger widerstandskräftig und kampffähig als er, ungünstige Arbeitsbedingungen abzuwehren und vorteilhafte Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil das kapitalistische Profitbedürfnis keine Rücksicht auf die Sondernatur und die Sonderaufgaben der Arbeiterin kennt und ihre Widerstandsunfähigkeit ausnutzt, um gerade die weiblichen Arbeitskräfte der härtesten, schonungslosesten Ausbeutung zu unterwerfen.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil in Folge des gekennzeichneten Standes der Dinge die Gesundheit und Lebenskraft der Arbeiterin zerrüttet, die Ausbildung und Betätigung ihrer Fähigkeiten gehemmt oder verunmöglicht wird, die Erfüllung ihrer Aufgaben als Gattin und Mutter schweren Schaden leidet, und der kraftvollen Verteidigung ihrer Interessen als Frau, Proletarierin und Staatsbürgerin große Hindernisse entgegenstehen.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil mit der Gesundheit der Mutter das keimende Leben in ihrem Schoße gemordet oder dem Siechtum überantwortet wird; weil das verwahrlosende Heim und die mangelnde Pflege und Erziehung zum körperlichen, geistigen und sittlichen Verkommen des heranwachsenden Geschlechts führt und das unvermeidliche Ergebnis der schrankenlosen kapitalistischen Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft mithin den Ruin der Volkskraft bedeutet.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil das kapitalistische Unternehmertum die rücksichtslos ausgebeuteten, widerstandsunfähigen weiblichen Arbeitskräfte in Schmutzkonkurrenz gegen die männlichen Arbeitskräfte ausspielt und dadurch deren Arbeitsbedingungen verschlechtert.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, weil die gesamte Arbeiterklasse mit Rücksicht auf ihren Befreiungskampf das höchste Interesse daran hat, dass die Arbeiterinnen durch Schutz gegen die kapitalistische Ausbeutung wirtschaftlich, gesundheitlich, geistig und sittlich auf ein höheres Niveau gehoben und dadurch wehrtüchtigere Mitstreiterinnen werden; dass das proletarische Familienleben ein gesundes und edles sei; dass die Nachkommen in körperlicher und geistiger Kraft heranwachsen.

Wir fordern von der Gesetzgebung das absolute Verbot der Nachtarbeit der Frauen, weil ärztliche Autoritäten festgestellt, praktische Erfahrungen bestätigt haben, dass gerade die Nachtarbeit in der allerverhängnisvollsten Weise den weiblichen Organismus zerrüttet, die Gesundheit ihrer Kinder und die Interessen der Familie schädigt.

Wir fordern das gesetzliche Verbot der Verwendung von Frauen bei allen Beschäftigungsarten, welche dem weiblichen Organismus besonders schädlich sind, weil Berge wissenschaftlichen unanfechtbaren Materials dargetan haben, dass diese Beschäftigungen zahllose und schwere körperliche Leiden, sehr oft lebenslängliches Siechtum der Arbeiterinnen zur Folge haben, dass sie im Mutterschaftsfalle Schwergeburten, Fehlgeburten, Totgeburten oder Kränklichkeit und Schwächlichkeit der Kinder bedingen.

Wir fordern den gesetzlichen Achtstundentag für die Arbeiterinnen, weil ihnen die Erwerbstätigkeit Zeit lassen muss, die verausgabten Kräfte durch Schlaf, Ruhe und Erholung zu ersetzen; weil sie Kraft und Zeit bedürfen, um als ebenbürtige Gefährtinnen des Mannes, als verständige und liebevolle Pflegerinnen und Erzieherinnen der Kinder im Hause zu walten; weil ihnen Zeit und Kraft bleiben muss, um sich zu bilden, aufzuklären, zu organisieren, ihre geistigen und sittlichen Bedürfnisse zu befriedigen, um in Gemeinde und Staat, in der Gewerkschaft und im politischen Kampfe ihre volle Schuldigkeit zu tun und ihre Interessen zu verteidigen. Wir fordern den gesetzlichen Achtstundentag für die Arbeiterinnen, weil die Wissenschaft der Ärzte und Hygieniker nachgewiesen hat, dass eine längere als eine achtstündige Arbeitszeit auf Kosten der Gesundheit und Lebenskraft der Arbeitenden und auf Kosten der Güte ihrer Leistungen geht. Wir fordern den gesetzlichen Achtstundentag für die Arbeiterinnen, weil die politische Ökonomie und die Erfahrung beweist, dass durch die achtstündige Arbeitszeit die Industrie keineswegs geschädigt, vielmehr mächtig gefördert wird.

Wir fordern die gesetzlich festgelegte Freigabe des Samstagnachmittag für die Arbeiterinnen, weil erst die freie Verfügung über diesen halben Tag den lohnarbeitenden Frauen und Mädchen etwas wirkliche Sonntagsruhe sichert, den Sonntag für sie aus einem Wasch-, Scheuer- und Flicktag zu einem Feiertag verwandelt, welcher der Erholung und inneren Sammlung dient.

Wir fordern die Ausdehnung der gesetzlichen Schutzbestimmungen für Schwangere und Wöchnerinnen auf mindestens einen Monat vor und zwei Monate nach der Geburt, weil es erwiesen ist, dass die Frau in jener Zeit mit Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit und die kräftige Entwicklung des Kindes größerer Schonung bedarf, und weil es insbesondere in den ersten Monaten von großer Wichtigkeit für das Gedeihen des Kindes ist, dass ihm die mütterliche Pflege und die natürliche Nahrung erhalten bleibt. Wir fordern die Beseitigung der Ausnahmebewilligungen von den betreffenden gesetzlichen Schutzbestimmungen auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses, weil diese Ausnahmebewilligungen den Umgehungen der gesetzlichen Bestimmungen Tür und Tor öffnen! Umgehungen, die auf Seiten des Unternehmertums durch die Profitgier veranlasst werden, auf Seiten der Arbeiterinnen durch Not und Unwissenheit; Umgehungen, die stets der Frau und dem Kinde zum Schaden gereichen.

Wir fordern, dass durch eine entsprechende Umgestaltung der Krankenversicherung und unter Heranziehung des Staats, beziehungsweise der Gemeinde zu den entstehenden Lasten, Schwangere und Wöchnerinnen für den Ausfall an Lohn während der vorgesehenen Schutzzeit entschädigt werden, weil die Ausgaben der proletarischen Familie in Folge des Wochenbetts und der Pflege von Mutter und Kind steigen; weil ohne die festgesetzte Entschädigung die Not die Arbeiterin zu früh zur Erwerbstätigkeit zurücktreibt; und weil die Sorge für Mutter und Kind ganz wesentlich im Interesse der Allgemeinheit liegt.

Wir fordern einen wirksamen gesetzlichen Schutz für alle Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten in der Groß- und Kleinindustrie, im Handwerk, Handel, Transport- und Verkehrswesen, weil die weiblichen Arbeitskräfte auf all diesen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens die gekennzeichnete Ausbeutung erfahren und aus den angeführten Ursachen des besonderen gesetzlichen Schutzes bedürfen. Wir fordern aus den nämlichen Gründen zu Gunsten der ländlichen Arbeiterinnen und der weiblichen Dienstboten den Erlass besonderer gesetzlichen Schutzvorschriften, welche die aufgestellten Grundsätze sinngemäß auf die einschlägigen Arbeitsverhältnisse anwenden.

Wir fordern wirksamen gesetzlichen Schutz für die verheirateten wie für die ledigen Arbeiterinnen, weil es nicht nur gilt, den ersteren für ihre Aufgaben in der Familie Gesundheit, Zeit und Kraft zu sichern, weil es sich vielmehr darum handeln muss, dafür zu sorgen, dass die junge Arbeiterin körperlich gesund und auf ihren Beruf als Gattin und Mutter vorbereitet in die Ehe tritt.

Wir fordern die Ausdehnung des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes auf die Hausindustrie, weil die Erfahrung dargetan hat. dass ohne diese Ausdehnung das profitlüsterne Kapital – um sich der lästigen gesetzlichen Fesseln zu entziehen – die in den Fabrik-und Werkstättenbetrieben geschützten Frauen, wenn immer es möglich ist, in die ungeschützte Heimindustrie abschiebt, wo sie in den ungesündesten Arbeitsräumen, bei ungemessen langer und ungeregelter Arbeitszeit gegen niedrigsten Lohn beschäftigt sind, wo mit der Steigerung der Ausbeutung die Verminderung der Verteidigungsfähigkeit gegen das Kapital Hand in Hand geht.

Wir fordern die Anstellung fachlich gebildeter, praktisch erfahrener Fabrikinspektorinnen, weil die Arbeiterinnen über gewisse gesundheitliche Schädigungen und sittliche Missstände in ihrem Arbeitsverhältnis der Geschlechtsgenossin eher Mitteilung machen werden, als dem vertrauenswürdigsten männlichen Beamten. Wir fordern die Anstellung von weiblichen Hilfsbeamten der Fabrikinspektion, die von den Arbeiterinnen selbst gewählt werden, weil solche Hilfsbeamte das besondere Vertrauen der Arbeiterinnen besitzen, in steter Fühlung mit ihnen stehen und aus Erfahrung am gründlichsten die Schliche kennen, durch welche das Unternehmertum die gesetzlichen Vorschriften zu umgehen sucht, sowie die Missstände, unter denen die Frauen und Mädchen besonders leiden.

Wir fordern für das weibliche Geschlecht das aktive und passive Wahlrecht zu den Gewerbegerichten, weil die erwerbstätigen Frauen und Mädchen die Möglichkeit besitzen müssen, durch die Wahl von Gewerberichtern ihre Interessen zu wahren, die vor den Gewerbegerichten verhandelt werden, und weil weibliche Gewerberichter mit großer Sachkenntnis in solchen Fragen zu entscheiden vermögen, die sich auf die Lohn-, Arbeits- und Dienstverhältnisse der Frauen und Mädchen beziehen.

Wir fordern für alle weiblichen Lohnarbeitenden – die ländlichen Arbeiterinnen und weiblichen Dienstboten inbegriffen – gesetzlich gesicherte volle Koalitionsfreiheit, weil die werktätigen Proletarierinnen durch die Macht der Organisation der Macht des Geldsacks bessere Arbeitsbedingungen, insbesondere auch höhere Entlohnung abringen müssen, und weil die strenge Durchführung und der weitere Ausbau der Schutzgesetzgebung ganz wesentlich durch die Macht der Organisation aller Arbeitenden bedingt wird.

Wir fordern gegenwärtig die vorstehenden Reformen zu Gunsten aller weiblichen Lohnarbeitenden, weil es gilt, das weibliche Proletariat kampftüchtiger zu machen, seine Befreiung vom Doppeljoche der Geschlechtssklaverei und Klassensklaverei zu erkämpfen und volles Menschentum zu erobern.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert