[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 1, 3. Januar 1900, S 2 f.]
Aufgewacht, Proletarierin! Dem Kampfe entgegen! Der Freiheit entgegen! so ruft der Tatsachen Fülle an der Jahrhundertwende der hart frondenden und darbenden Lohnsklavin zu, so predigt sie der Arbeiterfrau, die unter schweren Sorgen mit dem kümmerlichen Verdienst des Mannes haushalten muss. Ein reiches Erbe an materiellen Gütern, an kulturellen Errungenschaften lässt das zur Rüste gegangene Jahrhundert zurück. Dank der glänzenden Fortschritte der Wissenschaft und Technik hat sich die Herrschaft des Menschen über die Natur erweitert und befestigt, wie noch in keinem anderen Zeitabschnitt. Kräfte, vor deren blinden Walten der „Staubgeborene“ früher zitterte, sie sind ihm jetzt untertan und dienen seinen Bedürfnissen. In schier märchenhaftem Überfluss erzeugt und verschafft unser Wirtschaftsleben alles, was der Mensch zu seines „Leibes Nahrung und Notdurft“ bedarf, was sein Dasein müheloser, behaglicher, schöner, reichhaltiger gestaltet. Die Vorratshäuser und Läden vermögen die Masse der Güter kaum zu bergen: in fremden, fernen Ländern suchen die Eigentümer einen Abfluss für das Viel-zu-Viel ihrer Waren. Und „der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Auch was er zur Befriedigung, zur Entwicklung seines geistig-sittlichen Wesens benötigt, hat das neunzehnte Jahrhundert reichlich geboten. Auf allen Gebieten des geistigen Lebens und Schaffens funkeln kostbare Schätze.
Was ist Dir, Proletarierin, von all diesen Gütern der materiellen und geistigen Kultur zugefallen? Eine sozial Enterbte trittst Du in das neue Jahrhundert, wie Deine Eltern und Voreltern als sozial Enterbte, als Bürdenträger des gesellschaftlichen Lebens in das verflossene Jahrhundert getreten sind.
Wunderbare Werkzeug- und Kraftmaschinen, sinnreiche Produktionsverfahren, welche als Triumph des verflossenen Jahrhunderts gepriesen werden, leichtern die Lasten der Arbeit und verkürzen die Zeit, die zur Herstellung der Bedarfsgegenstände erforderlich ist. Was spürst Du, Lohnarbeiterin, von diesem Segen? Ob Du in der Fabrik frondest, ob Du als Heimarbeiterin dem kärglichen Verdienst nachgehst oder hinter dem Ladentisch, im Kontor Dich mühst: ganz gleich, die Berufsarbeit spannt Deine Kräfte über die Gebühr an, bis zur Erschöpfung, bis zum vorzeitigen Zusammenbruch. Sie lässt Dir nicht Muße für Bildung und edlen Lebensgenuss, sie lässt Dir nicht einmal Zeit für die Erfüllung Deiner Familienpflichten: derweilen Du für ein paar armselige Pfennige lange Stunden Dich plagst, verwahrlost Dein Heim, wachsen Deine Kinder ungepflegt, unbetreut auf, tausenderlei Gefahren für ihr körperliches und sittliches Wohl ausgesetzt.
Die mechanischen Arbeitsmittel, die Du bedienst, steigern die Ergiebigkeit Deiner Arbeit. In Stunden entsteht unter Deinen flinken Fingern, wozu in früheren Zeiten Dutzende von Arbeitskräften Tage benötigt hätten. Was erntest Du von den Früchten Deines Mühens? Bettelgroschen, zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. In der Folge eine freudlose, sorgenbelastete Existenz, voller Härten und Entbehrungen; kein Leben, ein Vegetieren, ein ewiges Hin und Her an der Grenze des Verhungerns, oft die Not in ihrer düstersten Gestalt. Als Zugabe vielleicht ungesunde Arbeitsbedingungen, eine unwürdige Behandlung, Rohheiten, gegen welche sich das Gefühl Deiner menschlichen Würde empört, „Liebenswürdigkeiten,“ die Dein Weibtum schlimmer verletzen, als die ärgsten Grobheiten.
Von all den Bildungsmitteln für Geist, Charakter und Sinne, von all den Herrlichkeiten, welche Kunst und Wissenschaft geschaffen, fallen Dir, Proletarierin, nur die dürftigen Brosamen zu, welche die Armen- und Volksschule Dir zuwirft. Eine Fortentwicklung Deiner geistigen Kultur über den Rahmen der guten Untertanen-und Lohnsklavinnenbildung hinaus ist Dir erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Woher sollst Du, die Geplagteste der Geplagten, Lohnsklavin und Haussklavin zugleich, die Zeit nehmen, die Frische und Kraft, um Dich an all den Bildungsquellen zu laben, welche das neunzehnte Jahrhundert erschlossen?
Die wichtigsten staatsbürgerlichen Rechte sind Dir noch immer vorenthalten und damit unentbehrliche Waffen, Deine Interessen gegen Deine Ausbeuter zu verteidigen. Im politischen Leben stehst Du auf einer Stufe mit Unmündigen und Ehrlosen. Nur auf einem Gebiet wird Dir Dein Teil reichlich gemessen: auf dem der gesellschaftlichen Lasten. Die Gemeinde, die Kirche, der Staat, sie alle, die Dich nicht kennen, wenn es das Wahlrecht gilt, wenn es sich um Einfluss, um Entscheidungen handelt, sie wissen Dich zu finden, sobald die Zahlpflicht in Frage kommt.
Das neue Bürgerliche Gesetzbuch bringt Dir zwar mehr als eine anerkennenswerte Verbesserung Deiner privatrechtlichen Stellung. Aber es beglückt Dich auch mit manchen Verböserungen, es hält vor allem für Deine Stellung im Familienrecht noch immer den Grundsatz aufrecht: Der Mann soll Dein Herr sein. Als Angehörige eines sozial unfreien Geschlechts, als Angehörige einer ausgebeuteten und sozial unfreien Klasse, den Nacken gebeugt unter das Doppeljoch der Geschlechtssklaverei und der Klassensklaverei, stehst Du, Proletarierin, an der Jahrhundertwende.
Aber trotz allem hat das neunzehnte Jahrhundert Dir eine köstliche Gabe hinterlassen: Die Erkenntnis Deiner zwiefachen Unfreiheit, das Wollen Deiner vollen sozialen Freiheit und der Kampf für dieses hehre Ziel. Welchen Ruhmestitel auch immer das verflossene Jahrhundert beanspruchen darf im Hinblick auf die gewaltigen Fortschritte der Wissenschaften und Technik, sie werden überstrahlt von der weltgeschichtlichen Bedeutung, welche ihm zukommt als Jahrhundert, in welchem der bewusste Befreiungskampf der Arbeiterklasse einsetzte und sich kraftvoll entfaltete. Die Kleinen und Enterbten in der bürgerlichen Gesellschaft sind erwacht, sie haben sich auf ihr Menschentum besonnen, sie haben begonnen, ihre Freiheit zu denken, zu wollen, zu erkämpfen.
Nicht länger soll mittelst des toten Besitzes der Mensch den Menschen ausbeuten und knechten. Mit der Befreiung der Arbeit vom Joche des Kapitals werden die Ketten fallen, welche die Proletarierin als Mitglied der wirtschaftlich abhängigen, ausgebeuteten Klasse trägt, müssen aber auch die letzten Fesseln zerreißen, die sie als Frau in Unterbürtigkeit und Botmäßigkeit vom Manne halten. Die armselige Lohnsklavin, die in düsterem Elend, in Unwissenheit und Knechtschaft ihre Tage dahinschleppt, soll zur freien Arbeiterin werden, die alle Kulturmöglichkeiten zu nützen, alles Kulturwerk zu fördern vermag. Die sozial unterbürtige Frau soll der freien, gleichberechtigten Gesellschaftsbürgerin weichen, die unbehindert durch soziale Schranken ihre Eigenart entfalten, auf allen Gebieten des Lebens wirken kann. Das ist die Botschaft, welche der Proletarierin aus dem Tosen und Klirren des Klassenkampfs ertönt.
Wie eines starken Lenzsturms Wehen hat das Denken und Wollen der Befreiung Millionen Ausgebeuteter und Beherrschter ergriffen. In allen Kulturländern kämpfen Proletarier für ihr Recht. In Reih und Glied dieser Kämpfenden ist Dein Platz, Proletarierin, die Du sehnsüchtig nach freiem, vollem Menschentum verlangst. Wo und für welche Forderungen auch immer Proletarier gegen die Kapitalistenklasse, gegen den Kapitalistenstaat ringen, es sind auch Deine Interessen, die sie vertreten; jeden Fortschritt, den sie erreichen, er kommt auch Dir zu Gute. Aus dieser Erkenntnis erwachse Dir nicht bloß stärkende Hoffnung, die Dich über das Gegenwartsleid erhebt, sondern auch klares Bewusstsein Deiner Kampfespflichten, das Dich Zukunftssiegen entgegenführt. Hinein in die Gewerkschaft, hinein in die politische Bewegung! Die kapitalistische Ausbeutung raubt Dir manche Stunde Deiner Sklavenrast, verringert Deinen knappen Lohn, steigert Deine Entbehrungen. Um Deiner Befreiung willen opfere und trage freiwillig, was zu opfern und zu tragen das Kapital Dich zwingt. Ohne Opfer und Gefahren kein Kampf und ohne Kampf kein Sieg. Damit das zwanzigste Jahrhundert vollende, was das neunzehnte Jahrhundert begonnen, damit Deinem Geschlecht und Deiner Klasse die Weltwende tage: Vorwärts, dem Kampfe entgegen, der Freiheit entgegen! Brot, Bildung und Freiheit winken nicht der Sklavin, die sich widerstandslos ihrem Geschick fügt, sie sind der Preis der Kämpferin, die rebellenkühn für eine Ordnung streitet, in der sie „eine Welt zu erobern hat und nichts zu verlieren, als ihre Ketten.“
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