Clara Zetkin: Der Krieg gegen die Teuerung

[Nach „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, 26. Jahrgang Nr. 5, 26. November 1915, S. 33-35]

Während draußen an den Grenzen und im fremden Lande die Söhne des Volkes ihr Blut vergießen, frisst daheim die Teuerung an dem Marke der arbeitenden, unbemittelten Schichten. Kaum ein Nahrungsmittel, kaum ein Gebrauchsgegenstand, der nicht um die Hälfte, um das Doppelte, ja Dreifache im Preise gestiegen ist. Reichte sonst das Einkommen der Arbeiterfamilie eben hin, um sich notdürftig durchs Leben zu schlagen, so ist heute die Unterernährung von Millionen, zumal der heranwachsenden Arbeiterkinder eine offenkundige Tatsache. Keine noch so reaktionäre Zeitung, keine Behörde von Verantwortlichkeitsgefühl, keine öffentliche Körperschaft bringt es über sich, sie zu verkleinern, geschweige denn wegzuleugnen.

Die Teuerung ist nur zum Teil eine Folge des Wirtschaftskrieges, der von allen miteinander ringenden Staaten nach Maßgabe ihrer Kräfte und Möglichkeiten gleich rücksichtslos geführt wird. Gewiss hat der Krieg ungeheure Mengen Lebensmittel, Rohstoffe und Fabrikate jeder Art vernichtet, verderben lassen oder von unseren Grenzen ferngehalten. Er hat auch die Herstellungskosten des Bedarfs gesteigert, indem er den ganzen Prozess der Gütererzeugung schwieriger und umständlicher gestaltete. Trotzdem hat sich die Organisation der heutigen Wirtschaft dauerhafter und leistungsfähiger erwiesen, als selbst Fachleute zu prophezeien wagten. Wenn heute in Deutschland – wie in den anderen kriegführenden Staaten und auch in den neutralen Ländern – eine unerträgliche Teuerung herrscht und die Volksmassen tief aufwühlt, so ist daran kein absoluter Mangel an Lebensmitteln schuld. Was bei uns vorhanden ist, reicht zur Ernährung auch des letzten Säuglings, vorausgesetzt, dass die Vorräte nach den vorhandenen Bedürfnissen räumlich verteilt und der Konsum pro Kopf geregelt wird. Die einheitliche Reichsgetreideversorgung beweist das trotz aller ihr anhaftenden Mängel. Bei Kartoffeln und Zucker, die Deutschland zur Genüge erzeugt, wäre dieselbe Maßnahme möglich gewesen. Fleisch, Milch und Fette wurden früher nur in verhältnismäßig geringer Menge vom Ausland eingeführt, auch hier hätte also ein rasches, fachmännisches und energisches Eingreifen der Zentralregierung eine befriedigende Lösung finden können.

Schritt für Schritt sieht sich der Bundesrat jetzt gezwungen, Maßnahmen anzuordnen, die, vor einem Jahre getroffen, imstande gewesen wären, die Teuerung wenigstens in erträglichen Schranken zu halten. Beschlagnahme aller wichtigen Lebensmittel und mäßige Höchstpreise hatten Sozialdemokratie und Gewerkschaften gleich zu Anfang des Krieges von der Reichsregierung gefordert. Die Preise standen schon vor den Kriege wahrlich hoch genug. Selbst angesichts der gesteigerten Produktionskosten wären Erzeuger, verarbeitende Industrie und Händler in ihrem Profit nicht zu kurz gekommen. Man konnte ja mit Recht von dem Patriotismus dieser Bevölkerungsgruppen erwarten, dass er sich während dieser Notzeit mit geringeren Dividenden und mäßigen Gewinnen zufrieden geben würde. Auch die Regierung war dieser Ansicht und appellierte an die Vaterlandsliebe und an das soziale Verantwortlichkeitsgefühl der Kapitalisten.

Sie wagte nicht, die Grundlage der bürgerlichen Wirtschaft anzutasten, die freie Konkurrenz und die freie Verfügung über das Privateigentum. Sie wusste freilich aus tausend geschichtlichen Beispielen, dass mit dem Augenblick des Kriegsausbruchs, mit dem Aufhören der ausländischen Einfuhr mit dem Stocken des Verkehrs, mit der steigenden Nervosität des kaufenden Publikums, bei dem rücksichtslosen Egoismus vieler Besitzenden ein Steigen der Preise unfehlbar eintreten müsse. Der freie Markt, der schon in Friedenszeiten eine planlos schwankende Größe ist, musste unvermeidlich in Unordnung geraten. Die Regierung wusste auch, dass diese Unordnung, dass die Stockungen, Verwirrungen der Produktion an allen Orten zu Preistreibereien ausgenutzt werden würden. Mit der Sicherheit eines Naturgesetzes! Und zwar nicht allein von den sogenannten „Wucherern“! Der „Wucherer“ treibt bloß im Großen, mit frecher Gewissenlosigkeit, was Tausende andere, an die mit Recht und Gesetzesparagrafen nicht heranzukommen ist, im kleinen, vorsichtig, oft gegen ihr besseres Wollen getrieben haben und treiben. Nachdem einmal die Preise gestiegen sind, müsste der Fabrikant, der Händler, der Landwirt kein Geschäftsmann sein, wenn er nicht auch jene Vorräte teuer absetzte, die er noch zu den alten Bedingungen erzeugt oder eingekauft hat. Er hält damit nur die allgemeine kaufmännische Gepflogenheit fest. Es fällt auch niemand ein, dem kapitalistisch Wirtschaftenden daraus einen Strick zu drehen. Er muss ja mit der Konkurrenz Schritt halten, und zumal der kleinere Produzent oder Krämer handelt hierbei unter wirtschaftlichem Zwang. Es ist also gut und billig, wenn man heute mit aller Schärfe gegen den ausgemachten „Wucherer“ einschreitet. Wer aber wirklich helfen will, muss tiefer greifen.

Beschlagnahme der wichtigsten Lebensmittel, mäßige Höchstpreise und einheitliche Regelung des Verbrauchs im ganzen Reiche wären gleich zu Anfang des Krieges die gegebenen Maßnahmen gewesen. Das waren durchaus keine sozialistischen, ja nicht einmal besondere „Arbeiterforderungen“. Die Maßnahmen lagen ganz allgemein im Interesse von mindestens 80 Prozent der deutschen Bevölkerung, aller jener Personen, die weder Eigentümer ausreichender Produktionsmittel sind, noch als Inhaber von Aktien, Hypotheken und sonstigen Wertpapieren an dem steigenden Kapitalprofit beteiligt sind. Warum ist die Regierung nur so zögernd und so halbherzig an diese Aufgaben herangegangen? Warum muss die wachsende Not sie zu jedem kleinen Schritt gleichsam vorwärts peitschen? Die Antwort liegt klar zutage. Höchstpreise, Beschlagnahme, Regelung des Verbrauchs sind Eingriffe in die freie Konkurrenz, in die Freiheit des Privateigentums. Darauf ist aber die bürgerliche Gesellschaft aufgebaut, damit ist das Wesen kapitalistischer Wirtschaft, zumal auf ihrer kleinbürgerlichen Stufe eng verquickt. Ein Zögern war also, geschichtlich betrachtet, nur verständlich.

Allein die Not war mächtiger als das Beharrungsvermögen. Alle Versuche von Gemeinden, selbst von einzelnen Bundesstaaten, von sich aus durch Höchstpreise regelnd zu wirken, mussten fehlschlagen, weil den Produzenten ja immer die Möglichkeit blieb, ihre Vorräte zurückzuhalten oder nach auswärts zu verkaufen. Falsche Maßnahmen der Reichsregierung, wie die massenhafte Abschlachtung von Schweinen, der monatliche Zuschlag zu den Höchstpreisen für Kartoffeln, die Versuche, Höchstpreise ohne Beschlagnahme festzusetzen, verschlimmerten die Teuerung, statt sie zu lindern. Um der Beschlagnahme aus dem Wege zu gehen und den freien Markt nicht antasten zu müssen, suchte man Hilfe bei allerhand Surrogaten. Die Gemeinden sollten durch Einkauf und Verkauf von Gefrierfleisch, Salzfleisch, Kartoffeln, Kraut, Milch usw. den Preistreibereien entgegentreten. Bei aller Anerkennung des guten Willens konnte man von Anfang an diesen kommunalen Unternehmungen nur mit Misstrauen gegenüberstehen. Die Gemeinden kauften viel zu teuer ein, als dass sie ohne großen Verlust hätten billig abgeben können. Verteuernd wirkte auch der Umstand, dass viele Gemeinden, um die eingesessenen Händler, Fleischer usw. zu schonen, diesen den Verkauf in die Hand gaben. Es kam sogar vor, dass beträchtliche Vorräte da und dort überhaupt nicht abgesetzt wurden und verdarben. Kurzum, die kommunalen Anstrengungen haben auf die Teuerung fast gar keinen lindernden Einfluss ausgeübt. Zum Teil liegt das an den lokalen und gesetzlichen Schranken, die dem Vorgehen der Gemeindeverwaltungen gezogen sind, zum Teil daran, dass die Gemeindebehörden vor allzu tiefen Eingriffen in den lokalen Markt und in die Interessen der eingesessenen Kapitalisten zurückschrecken. Immer aber bleibt es den Produzenten der ländlichen Umgegend frei, städtische Maßnahmen mit offenem oder heimlichem Boykott zu beantworten.

Auch die Zwangseinführung von fleisch- und fettlosen Tagen durch den Bundesrat ist nur ein Ersatzmittel und dazu ein Fehlgriff, wie die Praxis schon jetzt beweist. Wer Fleisch und Fett kaufen kann und kaufen will, kommt zu seinem Quantum trotz aller fleisch- und fettlosen Tage. Eine Kontrolle in den Privathaushaltungen lässt sich nicht durchführen. Einzig die öffentlichen Speisehäuser müssen sich fügen. Auch handelt es sich hier weniger um die Verbilligung – dazu sind die Höchstpreise viel zu hoch – als um die Beschränkung und Regelung des Verbrauchs. Diese ist aber nur zu erreichen durch Fleisch- und Fettmarken nach Art der Brot- und Mehlmarken.

Das Problem der Verbrauchsbeschränkung, des Fleisch-und Fettersatzes ist eine Folge des Krieges und hat in erster Linie militärpolitische Bedeutung. Von ihr betroffen wird eigentlich nur die besitzende Bevölkerung, denn die Unbemittelten fasten sowieso. Das Problem der Verbilligung ist es, was der Arbeiterklasse auf den Nägeln brennt. Wir haben glücklich eine ganze Reihe von Höchstpreisen, aber sie sind zu spät gekommen und darum Teuerungspreise. Gewiss sind kleine Herabsetzungen eingetreten. Schweinefleisch, Butter, Schmalz standen vor den Verordnungen noch höher. Den gutsituierten Bevölkerungsschichten mag diese Herabsetzung genügen. Sie können vorübergehende hohe Preise zur Not ertragen, sind ja auch teilweise selber an den erhöhten Profiten beteiligt. Anders das werktätige Volk, die kleinen Leute. Für die Arbeitermutter bleibt die Butter um 2 Mark so unerschwinglich wie die Butter um 2,80 Mark und ebenso das Schweinefleisch zu den festgesetzten Höchstpreisen. Für die Arbeiterfamilie ist es von grundlegender Bedeutung, ob der Zentner Kartoffeln 3,50 Mark oder 4,50 Mark kostet. Auch „mäßige Höchstpreise“ können heute wenig mehr helfen, wo sämtliche Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände im Preise zum Teil über 100, ja 200 Prozent gestiegen sind. Heute sind bereits die Forderungen überholt, die am Anfang der Kriegsnot der Regierung noch zu radikal, dem Spießer gar „sozialistisch“ erschienen. Eine gut bürgerliche Zeitung. das „Berliner Tageblatt“, schrieb neulich, wenn auch die neuesten Bestimmungen des Bundesrats sich als unzulänglich erweisen, dann werde nichts mehr übrigbleiben als das zu tun, was die sozialdemokratische Partei und die freien Gewerkschaften schon vor einem Jahre gefordert hätten. Aber nein! Auch das kann heute nicht mehr genügen. Ist es heute nicht mehr möglich, die Preise auf jenes Maß zurückzuführen, das vor dem Kriege den Armen schwer genug belastete, so bleibt nichts anderes als dieses übrig – jene von Partei und Gewerkschaften einst geforderten Maßnahmen zu ergänzen durch ein schärferes Heranziehen des Besitzes zugunsten der minderbemittelten Volksklassen. Die erhöhten Preise der Lebensmittel, des Lebensbedarfs müssen ausgeglichen werden durch gesetzliche Einführung von angemessenen Mindestlöhnen, ausreichenden Teuerungszulagen, durch den Ausbau der Arbeitslosenfürsorge, durch die der Notlage entsprechende Erhöhung der Krankengelder, Invaliden- und Altersrenten, der Unterstützungen für Kriegerfamilien und Kriegsbeschädigte, überhaupt aller Notleidenden. Und zwar muss das durchgreifend, sofort und auf reichsgesetzlichem Wege einheitlich geschehen, nicht darf das Notwendige einzelnen Gemeinden, privater Wohltätigkeit oder gar dem „patriotischen Gewissen“ der Unternehmer überlassen bleiben. Die Zeit duldet keine tastenden Versuche und keine halben Maßnahmen mehr. Die verwaltungstechnischen und organisatorischen Vorbedingungen sind vorhanden, sie brauchen nur ausgebaut und vervollkommnet zu werden. So ist es möglich, die Kaufkraft der breiten Massen einigermaßen in Einklang zu bringen mit den gesteigerten Preisen. Beachtenswert ist auch der Versuch zur Staffelung der Preise je nach der Steuerklasse der Käufer, wie sie bereits einzelne Gemeinden zum Beispiel für Milch in Anwendung gebracht haben. Den Minderbemittelten wird unter dem Normalpreis, den Gutbemittelten mit entsprechendem Aufschlag verkauft.

Täuschen wir uns jedoch nicht: alle diese erwähnten Maßnahmen bedeuten noch lange keine endgültige Lösung der Teuerungsfrage. Solange die privatwirtschaftliche Produktion von staatlichen Eingriffen frei bleibt, wird niemand zum Beispiel einen Landwirt hindern können, anstatt Weizens die zurzeit sich besser rentierenden Ölfrüchte zu bauen oder die nicht-beschlagnahmten Kartoffeln zur Viehfütterung zu verwenden, mit der Milch die jungen Schweine zu mästen. Das wäre in der bürgerlichen Ordnung ein sonderbarer Produzent, der nicht versuchen würde, die Güter zu erzeugen, von denen er sich den größten Gewinn verspricht.

Besondere Aufmerksamkeit ist auch der Nahrungsmittelindustrie zuzuwenden. Nicht nur die nachweisbare und strafbare Nahrungsmittelfälschung ist ins Kraut geschossen. Schlimmer noch wirkt die in der Bezeichnung der Sorten und Qualitäten eingerissene Anarchie. Auch hier blüht eine an Wucher grenzende Übervorteilung des kaufenden Publikums. Gerade hier aber wird es den Behörden schwer fallen, irgendwelche Besserung zu erzielen, wenn nicht die Produktion selbst unter staatliche Kontrolle gestellt wird.

Die Teuerung der Lebensmittel ist es nicht allein, die am Mark des arbeitenden Volkes zehrt. Auch die steigende Teuerung aller anderen Gebrauchsgegenstände und ihre zunehmende Minderwertigkeit bedürfen genauer Berücksichtigung. Gerade hier, wo Deutschland mehr als bei den Nahrungsmitteln auf den Import von Rohstoffen angewiesen ist, zeigen sich unhaltbare Zustände. Kleider und Schuhe sind nicht nur teuer, sie sind obendrein schlecht. Auch die Bekleidung des arbeitenden Volkes, zumal jetzt bei hereinbrechendem Winter, müsste sichergestellt werden. Schutz vor Übervorteilung, vor Wucherpreisen tut hier ebenfalls bitter not. Man darf die Gefahren nicht unterschätzen, die für die Gesundheit, zumal der Kinder, entstehen, wenn zu der ungenügenden Ernährung noch ungenügende Bekleidung und Beschuhung tritt. Der Krieg fordert wahrlich sowieso schon genug Einbuße an blühender Volkskraft. Es ist nur ein Akt der Selbsterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft, wenn endlich der Teuerung mit energischen und umfassenden Maßnahmen zu Leibe gerückt würde. Mit der Lösung der sozialen Frage, mit dem Sozialismus haben solche Maßnahmen gar nichts zu tun. Es sind Maßnahmen des Kriegskapitalismus, der die bürgerliche Ordnung erhalten will, und nicht des Sozialismus, der die Welt verändern muss.


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