Clara Zetkin: Um die Demokratie

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 21. Jahrgang, Nr. 5, 5. Dezember 1910, S. 65 f.]

Um die Demokratie ist gekämpft worden. Im deutschen Reichstag. Das bloße Wo schon besagt, dass die Forderung der Demokratie einer geschlossenen Mehrheit von Feinden begegnet ist. Das Um und Auf der Redeschlacht hat es noch eindringlichst bestätigt. Die Sozialdemokratie allein war es, die durch ihre Interpellation über das kaiserliche Bekenntnis zum Gottesgnadentum eines persönlichen Regimentes die Fahne der Demokratie vorantrug, und hinter ihr hat sich nur das Fähnlein der Fortschrittlichen Volkspartei gehalten. Das aber ist bekanntlich nicht aus lauter prinzipienfesten Mannen zusammengesetzt und umfasst auf alle Fälle nur die letzten Trümmer des deutschen Liberalismus, dessen geschichtliche politische Aufgabe es gewesen wäre, das selbstherrliche Gottesgnadentum durch den demokratischen Parlamentarismus zu ersetzen. Der Verfall dieses Liberalismus oder richtiger seine Abkehr von der schimmernden Jugendideologie der Bourgeoisie zu den realen Geschäften der Massenausplünderung und Massenknebelung herrschender Klassen trat in der Haltung der Nationalliberalen und noch mehr in der des Zentrums unzweideutig zutage. So konnte ein Bethmann Hollweg das Recht und die Würde des deutschen Reichstags ohrfeigen, indem er die Königsberger Proklamation der Theorie von dem auserwählten Instrument des Himmels bekräftigte. Es gehörte dazu, dass er nebenbei die Bedeutung der Erklärungen leugnete, die sein Vorgänger im Dienste im November 1908 der Volksvertretung über die künftige Zurückhaltung persönlicher Regiererei gegeben hatte. Herr Bethmann Hollweg ist nicht nur „dank kaiserlicher Gnade“ Reichskanzler, er ist auch der Herr der parlamentarischen Situation. Durch ihn herrscht jene Paarung von modernem Kapital und feudalem Agrariertum, welche er in seiner Person so trefflich repräsentiert, dass ihm die staatsmännische Unfähigkeit eines Gemisches von langweiligem Schulmeister und eng geistigem Bürokraten gern vergeben wird.

Mit diesem Ausgang der Verhandlungen hat die Mehrheit des Reichstags wieder einmal bekundet, dass sie die Demokratie, den Parlamentarismus nicht will. Das kann freilich nur eine Enttäuschung für jene Bettler und hoffnungsvolle Toren des politischen Lebens sein, die den journalistischen und parlamentarischen Theaterdonner gegen das persönliche Regiment ernst genommen haben, der im November 1908 durch die Welt der herrschenden Klassen gerollt ist. Denn wer die Geschichte dieser Klassen zurückverfolgt, die zugleich die Geschichte des modernen Preußen-Deutschlands ist, der begegnet schon an der Schwelle der politischen Emanzipation unserer Bourgeoisie 1843 dem Kompromiss mit Gottesgnaden- und Junkertum, statt ihrer Überwindung. Das Verhalten des Liberalismus zur Wahlrechtsfrage in Preußen, Sachsen usw. zur durchgreifenden Demokratisierung des staatlichen und kommunalen Lebens in anderen „engeren Vaterländern“ hat diesen Pakt stets aufs Neue besiegelt. Und der Ring der rückläufigen Bewegung hat sich damit geschlossen, dass auch in dem geeinten Deutschen Reiche die bürgerlichen Klassen von Anfang an darauf verzichteten, Demokratie und Parlamentarismus gleich einem rocher de bronze zu errichten, vielmehr Gottesgnadentum und junkerliche Bürokratie nebst Militarismus in den Sattel setzten. So ist es nur konsequent, dass die bürgerliche Mehrheit des Reichstags wieder und wieder den Kürassierstiefel des persönlichen Regiments leckt, der gelegentlich auch einmal unsänftiglich nach ihr und nach den Interessen besitzender Schichten der bürgerlichen Gesellschaft tritt. Man erinnere sich der Verlängerung der Legislaturperioden von drei auf fünf Jahre, der Bindung des Budgetrechts des Reichstags in den Marineausgaben; der Indemnität für den grotesk-blutigen, kostspieligen und gefährlichen Hunnenfeldzug nach China, der ohne die vorherige verfassungsmäßige Zustimmung des Reichstags unternommen wurde; die Zertrümmerung der Geschäftsordnung des deutschen Parlaments während der Kämpfe um den Zollwucher; die Weigerung der Majorität, konstitutionelle Bürgschaften, wie Kanzler- und Ministerverantwortlichkeit, ja auch nur eine leidlich demokratische parlamentarische Geschäftsordnung zu schaffen, die das Recht der Minderheit wahren würde. Ist nicht erst im vorigen Jahre ein Reichskanzlerwechsel gekommen, wie der Dieb in der Nacht, das aber in einer ernsten Situation und während die Volksvertreter wie ungezogene Buben nach Hause geschickt worden waren.

Das unaufhaltsame Vorwärtsdrängen des klassenbewussten Proletariats gegen die Fronfeste der kapitalistischen Ordnung hat in den besitzenden Klassen das Bedürfnis nach einem Gottesgnadentum ausgelöst, als eines Instrumentes ihres eigenen sehr wirklichen Himmels der Profitmacherei. In diesem geschichtlichen Zusammenhang der Dinge und nicht in den persönlichen Neigungen und Auffassungen des kaiserlichen Redners liegt der letzte und festeste Widerstand gegen den Parlamentarismus, die Demokratie. Wie wenig die kronentragende Beredsamkeit der Zeiten Lauf zu hemmen vermag, das lehrt gerade die Geschichte des Königtums „aus eigenem Rechte“ in Preußen. Als die Geburtswehen der bürgerlichen Gesellschaft den feudalen Staat schüttelten, hatte Gottes Gnade die Krone einem Manne verliehen, den Marx [Engels] in „Revolution und Konterrevolution“ also charakterisiert: „In dilettantischer Weise hatte er sich mit den Elementen der meisten Wissenschaften bekannt gemacht und hielt sich für kenntnisreich genug sein Urteil in jeder Sache für entscheidend anzusehen. Er war überzeugt, er sei ein Redner ersten Ranges, und es gab sicher keinen Handlungsreisenden in Berlin, der ihn an Fülle vermeintlichen Witzes oder an Geläufigkeit im Sprechen übertreffen konnte.“ 1840 äußerte Friedrich Wilhelm IV. bei einem Geburtsfest, dass er seine „Krone von Gott allein habe“, und dass es ihm daher „wohl anstehe“, zu erklären: „Wehe dem, der daran rührt.“ Zwei Jahre später sprach er beim Empfang der Provinziallandstände mit zorniger Verachtung von denen, die nach ihm nur Vertreter „des Windes, der Meinung und der Tageslehren“ waren. Eine kurze Spanne, und dieser Mann musste sich vor den Repräsentanten des „Windes, der Meinung, der Tageslehren“, ja der Straße beugen; er musste es dulden, dass die blutigen Hände der Barrikadenkämpfer seine Krone von Gottes Gnaden allein gegen die bescheidenere von Volkes Gnade auswechselten.

Wenn diese geschichtlichen Erinnerungen den Blick dafür schärfen, wo heute der zäheste Widerstand gegen die Demokratie zu suchen ist, so lenkt er auch die Aufmerksamkeit zwingend auf die Macht, die allein kraftvoll genug ist, diesen Widerstand zu brechen. Diese Macht liegt in den Massen und ihrer Bereitschaft, ihren Willen in die Tat umzusetzen. Bei der Sammlung dieser Massen aber zum Kampfe für die Demokratie dürfen wir Frauen nicht fehlen. Wir wissen, dass wir in ihm Ketten zu verlieren und eine Waffe zu gewinnen haben, die uns hilft, eine Welt zu erobern.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert