Clara Zetkin: „Der Messias kommt mit Schwerterklang“

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 26, 24. Dezember 1895, S. 201 f.]

Würziger Tannenduft flattert um Häuser und Hütten; fröhlicher Lichterschein leuchtet durch hohe, glänzende Spiegelscheiben und kleine, halbblinde Fensterchen; mit ehernen Kehlen singen die Weihnachtsglocken in die sternenfunkelnde Winternacht hinaus: „Euch ist heute der Heiland geboren, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Weihnachtsjubel auf Tausenden von Kinderlippen, Weihnachtsfreude in Tausenden von Herzen, Weihnachtsahnen weit über die Kreise der Glücklichen hinaus, denen Geben seliger sein kann, als Nehmen.

O du schöne, sehnsuchtsbewegte, hoffnungsfreudige Weihnachtszeit! Die Enterbten grüßen dich! Nicht weil auch sie vielleicht in diesen Tagen die trockene Kruste ihrer Existenz flüchtig in den Wein der Freude tauchen, und noch weniger, weil hier und da für sie die Brosamen von „Liebestaten“ von der Reichen Tische fallen. Sie grüßen dich als Symbol des Gedankens, der dich geboren, als lebendigen Ausdruck des ewig jungen Erlösungsglaubens, der nimmer welkenden Hoffnung, die nicht zu Schanden werden lässt, des mächtigen Sehnens aller Darbenden, Gefesselten, Zertretenen nach einem freien Vorwärts und Aufwärts. Tausende und Tausende von Jahren harrt sie der Erlösung entgegen, die Welt der Kleinen, die Welt der Ungenannten. Und jede Heilsbotschaft, die im Laufe der Geschichte in ihre dunklen Kreise tönte, stumpfsinnige Ergebung in stürmisches Hoffen wandelte, scheue Verzweiflung zu trotzigem Kampfesmut wach peitschte, sie hat die Armen genarrt. An Stelle der griechisch-römischen trat die christliche Kultur, aber das Himmelreich auf Erden, das sie den Mühseligen und Beladenen verheißen, das Reich der Freiheit für Alle vermochte auch sie nicht zu zimmern. Die Macht der wirtschaftlichen Verhältnisse erwies sich stärker als der demokratisch-revolutionäre Zug des Urchristentums. Der in dumpfem Groll gegen den Feudalherrn robotende Hörige löste den Sklaven ab, der „freie Arbeiter“, mit dem die Kräfte des kapitalistischen Wirtschaftslebens kalt ihr Spiel treiben, folgte auf den Leibeigenen, und Elend und Unfreiheit blieben das Erbteil Derer, die dank der Klassenspaltung in Reich und Arm nicht Hammer sein können, sondern Amboss sein müssen.

Aber wenngleich der Entwicklungsgang der Masse bezeichnet ist durch unerfüllte Hoffnungen und nicht eingelöste Verheißungen, so sprießte die Wunderblume vertrauensfreudigen Hoffens wieder und wieder aus dem Boden des Elends empor. Und gerade unsere Tage neuen geschichtlichen Knospens und Werdens lassen neues Menschheitssehnen die Herzen der Enterbten ahnungsvoll erzittern, in freudiger Erwartung des Kommenden voll stolzen Kampfesmutes höher schlagen. Eine neue Heilsbotschaft tönt ihnen, den Vielen, die entbehrend abseits von dem reich gedeckten Tische des Lebens stehen, an dem Wenige bis zur Sättigung und Übersättigung tafeln. Nicht lautet sie: „Duldet und entsagt, es wird Euch im Himmel wohl belohnt werden“, vielmehr: „Wisset und kämpft, und Ihr könnt hienieden genießen“. Kein vertrauensseliger Glaube ist es, den die neue Heilsbotschaft von der leidenden Masse fordert, ein überzeugtes Wissen bietet sie ihr. Nicht von dem Himmel herab das Heil zu holen, raunt sie den Hoffenden zu, auch nicht, ihre Ziele auf die Herzen der Menschen zu gründen. Klar, eindringlich kündet sie ihnen, dass nur die von der technischen Entwicklung revolutionierten Wirtschaftsverhältnisse die granitenen Felsen sind, welche den stolzen Bau des Himmelreichs auf Erden zu tragen vermögen: die Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das Proletariat ist sein eigener Heiland, nicht die Liebe, der Kampf, der nimmer rastende Kampf der Weg zur Erlösung, so lässt sie die Geschichte lebendig den Frondenden und Unfreien reden.

Nicht der Stimme des Predigers in der Wüste gleich verhallt die Heilswahrheit des Sozialismus. Die ausgesogene, in den Staub getretene Masse hat sie vernommen, sie bewegt sie in ihrem Herzen, sie setzt sie willensstark in Taten um. Die Gegenwartssklaven beginnen sich als Zukunftsfreie zu fühlen: getrieben von seiner Klassennot ist das Proletariat als bewusster Kämpfer auf die Bühne der Geschichte getreten, sich nicht mehr von den Herrschenden schieben lassend, sondern durch sein Klassenringen diese schiebend, so mächtig sie sich auch dünken. Neues geschichtliches Leben windet sich unter schmerzhaften Wehen aus dem Schoße der alten Gesellschaft. Aus jeder wirtschaftstechnischen Erfindung weht der Hauch der Revolution, welche den Nichtbesitzenden die Freiheit bringt; jede Vervollkommnung des Produktionsverfahrens bedeutet einen Schritt ihr entgegen. Die Revolution der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hämmern und schmieden die Millionen eiserner und stählerner Arme des modernen Maschinengetriebes. Die Revolution ruft der Triumph des Großkapitals, das auf der ganzen Linie des Wirtschaftslebens die klein- und mittelkapitalistischen Existenzen mit starkem Fuß zermalmt und unbarmherzig die Herrenpeitsche schwingt über die Habenichtse von Geburts Ungnaden und die durch den revolutionären Wirbel der wirtschaftlichen Kräfte Enteigneten; über das Proletariat der Kopf- und der Handarbeit; über die Lohnsklaven in Stadt und Land. Die vergesellschaftete Erzeugungsweise der Güter rebelliert gegen ihre kapitalistische Aneignungsweise, gegen den Widersinn der kapitalistischen Produktion in Krisen, welche, der schwarze Tod des modernen Wirtschaftslebens, Verderben säend durch die Kulturländer schreiten und den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung beschleunigen.

So zittert der Boden der kapitalistischen Gesellschaft unter den Stößen der blind wühlenden wirtschaftlichen Kräfte und gleichzeitig erdröhnt er von den Tritten des Heeres der Arbeit, das fest zusammengeschmiedet durch der Klasse Not, zielklar durch die Logik der Tatsachen, Sturm läuft gegen den Klassenstaat. Kein Wohltaten Erflehender, ein sein Recht Heischender; nicht länger ein gefügiger Sklave, ein trotziger Rebell; kein entsagender Dulder, ein begehrender Kämpfer: so steht das Proletariat unserer Tage der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber. Und diese hat sich gerüstet, dem Ansturm zu widerstehen. Alle Machtmittel des Klassenstaats bietet sie gegen die proletarischen Kämpfer auf, von dem Messen mit zweierlei Maß und dem Verkehren ihres eigenen Rechts in Unrecht, bis zu den Kruppkanonen. In gewaltigem geschichtlichem Ringen prallen die alte und die neue Welt aneinander. „Hie Kapital und seine Übermacht“, „Hie Arbeit und ihr gutes Recht!“, das Feldgeschrei der Schlacht, wo ein Hüben und Drüben nur gilt, hallt aus Tagesereignissen und Festesjubel wieder. Schwerterklang und Flintengeknatter, Todesschrei und Siegesfrohlocken, Chamade und Fanfare des Klassenkampfes klingen in krausem Tongewirr zusammen bis unter den weihnachtlichen Tannenbaum, mischen sich mit den feierlichen Klängen des Christmettgeläuts.

Als Fest der Liebe und des Friedens mögen der Klassengesellschaft Schoßkinder ihre Weihnacht feiern. Ihr Bethlehem liegt hinter ihnen, sie sind im Besitz und im Genuss, und Kampfesgetöse muss sie schrecken. Nicht so des sozialen Lebens Bürdenträger. Mit Sturmglockenton braust das Weihnachtsgeläut über ihr Elend dahin, mahnt sie mit mächtiger Zunge an kraftvoll sprossende, der Erfüllung entgegen reifende Hoffnungen, ruft sie unwiderstehlich zum Kampfe. Schwachherzige Sentimentalität, welche Berge von Ungerechtigkeit mit gut gemeinten Tränen wegwaschen zu können wähnt, mag es bejammern, dass die Armut in Kriegsstimmung, gewappnet und gerüstet, zum Weihnachtsbaum tritt. Das Proletariat dagegen weiß, dass der Klassenhass die bittere Vorfrucht der Menschheitsverbrüderung ist, dass der Klassenkampf den Weltfrieden gebiert. Nicht in dem Säuseln überschwänglicher Gefühlsseligkeit steigt das Heil zu den Menschen herab, „der Messias kommt mit Schwerterklang.


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