Clara Zetkin: Die neuen Forderungen des sozialdemokratischen Programms

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 16, 7. August 1895, S. 122 f.]

Im Vordergrund des Interesses von Freund und Feind stehen gegenwärtig die Forderungen, welche nach dem Entwurf der Agrarkommission dem zweiten Teil unseres Programms eingefügt werden sollen. Wir teilen dieselben an anderer Stelle mit. Die vorgeschlagenen Ergänzungen und Zusätze des Erfurter Programms beziehen sich so gut wie ausschließlich auf Reformen zu Gunsten der landwirtschaftlichen Bevölkerung. Sie sollen die Taktik bestimmen, auf Grund deren die Sozialdemokratie das platte Land erobert. Es ist offensichtlich, dass die klassenbewussten Proletarierinnen, dass die Genossinnen genau das nämliche Interesse wie die Genossen haben an einer teilweisen Veränderung des sozialdemokratischen Programms, an der Festlegung der Taktik der sozialdemokratischen Partei einer Frage gegenüber. Denn einzig und allein der Klassenkampf bringt der Masse der Frauenwelt die heiß ersehnte Erlösung. Die Taktik der Sozialdemokratie einer bestimmten Frage gegenüber beeinflusst aber den Gesamtcharakter der sozialistischen Arbeiterbewegung, und das Auf oder Ab ihrer revolutionären Kraft entscheidet mithin über die Stunde, wo die proletarische Frau die Möglichkeit eines vollen, harmonischen Auslebens erhält.

An dieser Stelle müssen wir uns damit begnügen, die neuen Programmforderungen summarisch zu kennzeichnen. Für ihre Wertung kommt unseres Erachtens zweierlei in Betracht: 1) Entsprechen die geforderten Reformen dem Charakter der sozialdemokratischen Partei? 2) Sind sie derart, dass sie tatsächlich die Masse der Landbevölkerung für den Sozialismus gewinnen? Wir verneinen die eine und die andere Frage.

Der bei weitem größte Teil der aufgestellten Forderungen geht nicht mit Notwendigkeit aus dem revolutionären Wesen der Sozialdemokratie hervor. Umgekehrt, er schwächt ihre revolutionäre Eigenart ab und verwischt sie. Gewiss, die Sozialdemokratie bekennt sich nicht zu dem kindischen Evangelium von der alleinseligmachenden revolutionären Kraft des sozialen Elends; sie ist deshalb allezeit für durchgreifende soziale Reformen eingetreten zu Gunsten der Enterbten. Aber die Gesamtheit der Maßregeln, die sie bisher von der bürgerlichen Gesellschaft forderte, verfolgte den Zweck, dem Proletariat Bewegungsfreiheit für seinen Befreiungskampf zu schaffen und zu sichern, die körperliche, geistige und sittliche Wehr-und Waffentüchtigkeit der Arbeiterklasse für den Klassenkampf zu heben und zu stärken, mithin diesen zu fördern und zu kräftigen. Sie führte nicht zum Abrüsten vor der bürgerlichen Gesellschaft, sondern zu ihrer schärferen Bekämpfung. So wurden die Reformen – für deren einzelne auch bürgerliche Parteien und Strömungen eintreten – im Gegensatz zu der Auffassung bürgerlicher Parteien und Strömungen zu revolutionären Mitteln für einen revolutionären Zweck.

Anders die neuen Programmforderungen, die, so vorsichtig sie auch bezüglich dessen gefasst sind, was wir wollen, nichtsdestoweniger die weittragendsten antirevolutionären Folgen nach sich ziehen würden. Abgesehen von den wenigen Bestimmungen, welche sich auf den Schutz des landwirtschaftlichen Proletariats oder des Proletariats überhaupt beziehen, wäre ihr Ergebnis in ihrer Gesamtheit nicht eine Wirkung in der Richtung, die revolutionäre Kampfestüchtigkeit bestimmter Bevölkerungsschichten zu heben, sie würden vielmehr in ihren Folgen eine Schicht der Bevölkerung, die der Grundbesitzer, in ihrer Eigenschaft als Privateigentümer wirtschaftlich fördern. Sie dienten nicht zum Schutz der Lohnarbeit gegen die Ausbeutung auf Grund des kapitalistischen Privateigentums, sie würden vielmehr die Förderung und Befestigung von Privatbesitz zur Folge haben und dies zum Teil auf Kosten der Steuerzahler. So tragen sie nicht bei zur Stärkung des revolutionären Kampfes gegen die bürgerliche Gesellschaft, sie gestalten vielmehr den Besitzern von Grund und Boden das Wohnen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft angenehmer.

Das vorgeschlagene taktische Kehrt der Sozialdemokratie steht im Widerspruch zu dem Charakter und den Grundsätzen der Partei, im Widerspruch zu der Taktik, welche diese bisher befolgt hat, welche sie insbesondere gegenüber dem Handwerkertum, dem Kleinbürgertum innehielt. Was aber dem Bruder Bauer recht ist an Staatskredit, Unterstützung von Genossenschaften, Fachunterricht etc., das ist ohne Zweifel dem Bruder Kleinbürger billig. Tritt die Sozialdemokratie ein für den Schutz des kleinbäuerlichen Eigentums, warum sollte sie nicht auch für die Sicherung des kleinbürgerlichen Besitzes kämpfen? Die Rücksicht auf die besondere Stellung der landwirtschaftlichen Bevölkerung, ihre Eigenart und ihre besondere politische Rückständigkeit hat offenbar die neuen Programmforderungen diktiert. Niemand wird die Sonderstellung der Frauen in der bürgerlichen! Gesellschaft leugnen, ihre Eigenart und ihre besondere politische Rückständigkeit. Und die Einbeziehung der Frauen der werktätigen Masse in das Heer der proletarischen Klassenkämpfer ist anerkanntermaßen eine dringende Notwendigkeit. Wer aber würde mit Rücksicht auf diese Umstände ein besonderes, nicht-revolutionäres Frauenprogramm befürworten, eine Taktik, bei welcher das proletarische, revolutionäre Moment hinter bürgerliche Frauenrechtelei zurücktritt?

Das Verwischen des revolutionären Charakters unserer Partei, das Antasten ihrer bewährten Taktik zeitigt unseres Erachtens nicht einmal die beabsichtigte Wirkung. Das vorgeschlagene Agrarprogramm ist ein Programm der Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten. Was mit ihm die Sozialdemokratie den Bauern verheißt, das versprechen ihnen die bürgerlichen Parteien auch und zum Teil noch ein Mehr, ein ansehnliches Mehr. Für die politisch unaufgeklärten, unreifen Bauern ist folglich die Versuchung nicht sehr groß, sich gerade auf Grund dieses Programms der Sozialdemokratie anzuschließen. Seine Verwirklichung hilft auch unseres Erachtens der Not des Kleinbauerntums nicht ab. Was helfen Musterschulen und Versuchsfelder dem armen Konz, wenn ihm die Mittel, die Voraussetzungen fehlen, sein Fleckchen Land rationell bewirtschaften zu können? Was nützt ihm die Verstaatlichung der Hypotheken, wenn die Kreditnot wächst, Hypotheken über Hypotheken das Gütchen belasten, und zuletzt doch der Wucherer als einzige Leihquelle übrig bleibt, weil die soziale Entwicklung stetig, unaufhaltsam auf die Proletarisierung des Kleinbauerntums hinwirkt? Der größte Teil der Bauern, welche den Agrarforderungen zu Liebe heute mit der Sozialdemokratie marschierten, würden sich morgen schon mit der ganzen Wut enttäuschter Hoffnungen gegen sie kehren. Die Sozialdemokratie fiele dem gleichen Hass, der gleichen Missachtung anheim, welche gegen die bürgerlichen Parteien auf Seiten der bäuerlichen Bevölkerung zu keimen beginnen. Nicht als eine Partei von Sozialreformlern, nur als revolutionäre Partei kann die Sozialdemokratie das Land erobern.

Sicherlich sind unter den neu erhobenen Forderungen zu Gunsten der landwirtschaftlichen Bevölkerung solche, deren Berechtigung oder harmlose Natur Niemand bestreiten wird. Die Sozialdemokratie kann für sie eintreten und muss eventuell sogar für sie eintreten im Reichstage. in den Landtagen, in den Gemeindevertretungen. Aber sie gehören ebenso wenig ins Programm der Partei des Klassenkampfes, als hier die Forderungen Platz haben für Gründung von Haushaltungsschulen, Volksküchen. Zentralküchen. Zentralwasch- und -plättanstalten etc. etc.

Wird das von der Agrarkommission formulierte Reformprogramm angenommen – von dessen zum Teil ungenauer Fassung wir hier absehen –. so zwingt die Logik der Tatsachen die Sozialdemokratie. der Verseichtung und Verflachung in einer Frage auch die Verseichtung und Verflachung in anderen Fragen folgen zu lassen. Der Gesamtcharakter der sozialdemokratischen Bewegung würde sich allmählich verändern. Die Mauserung der Partei des proletarischen Klassenkampfes, der Partei des zielbewussten Proletariats in eine reformlerische Volkspartei wäre da. Gewiss ist die Sozialdemokratie die einzige wahre Volkspartei der Zukunft in dem Sinne, dass sie einzig und allein die Interessen der großen werktätigen und nichtbesitzenden Masse vertritt, und dass die Interessen aller Schichten des werktätigen Volks allmählich mit denen des Proletariats zusammenfallen. Sie darf sich aber nicht zur Volkspartei in dein Sinne rückwärts entwickeln, dass sie im bunten Sammelsurium die wirtschaftlichen Interessen solcher Bevölkerungsschichten verficht, deren selbständige Existenz an das Privateigentum gebunden ist. Wenn je. so heißt es gegenüber dem erweiterten und ergänzten Reformprogramm: „principiis obsta“, dem ersten Schritt widerstehe! Denn der Entwurf in seiner Gesamtheit ist nichts Zufälliges. Er ist der charakteristische Ausfluss jener Strömung flacher Reformlerei und kurzsichtigen. utopischen Possibilismus. die sich innerhalb der sozialistischen Bewegung deutlich erkennbar abzeichnet. Und dieser Strömung gegenüber gilt es für die Partei, nicht anzubeten, was sie früher verbrannte: die kleinliche Rechnungsträgerei und praktische Erfolgmeierei, und nicht zu verbrennen, was bisher ihre Stärke ausmachte: die revolutionäre Taktik als Ausfluss des revolutionären Prinzips.


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