[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 20. Jahrgang, Nr. 25, 12. September 1910, S. 385 f.]
Mit leidenschaftlichem Interesse sieht das klassenbewusste Proletariat in Deutschland, ja in allen Ländern dem kommenden Parteitag der Sozialdemokratie entgegen. Im Vordergrund seiner Verhandlungen stehen zwei Gegenstande, die von außerordentlicher Tragweite für unser weiteres Parteileben sind: die Frage der badischen Budgetbewilligung und die Frage des preußischen Wahlrechtskampfes.
Theoretisch ist die Frage der Budgetbewilligung für die Sozialdemokratie bereits gelost. Drei Parteitage haben sich bereits mit ihr befasst. Seit 16 Jahren hat die Partei Zeit gehabt, sich das Problem reiflich und allseitig zu überlegen. Die prinzipielle, die politische Bedeutung der Budgetabstimmung, ihr Zusammenhang mit der allgemeinen Politik der Sozialdemokratie, als der Partei des revolutionären proletarischen Klassenkampfes ist zur Genüge geklärt und der ungeheuren Mehrzahl der Genossen ins Bewusstsein geschrieben worden. Die Auseinandersetzung mit den badischen Genossen anlässlich ihrer jüngsten Budgetbewilligung hat auch nicht ein einziges neues Moment zutage gefordert, das über die früheren Erörterungen in unserer Presse und auf den Parteitagen hinausgehen wurde. Die ganze Situation widerspricht daher der Auffassung, als ob der Streich unserer badischen Landtagsfraktion als eine neue oder nicht endgültig gelöste Frage der sozialdemokratischen Taktik erörtert werden musste. Notwendig ist dagegen, sie unter dem doppelten Gesichtspunkt zu behandeln: einmal als die Frage der Aufrechterhaltung der inneren Einheit und der Disziplin in unseren Reihen, dann aber als eine Teilerscheinung jener fortlaufenden Vorstöße gegen Grundsatze und Taktik der Sozialdemokratie, welche sich seit einem Dutzend Jahren Glied an Glied fügen, um unsere Bewegung langsam, aber unvermeidlich ins Fahrwasser eines kleinbürgerlichen Opportunismus zu bringen. Die Vertretung der Sozialdemokratie hat demgemäß in Magdeburg nicht zum soundsovielten Male in ausgedehnten Debatten den Wert oder Unwert der Budgetbewilligung zu erörtern. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, klipp und klar die Frage zu beantworten, ob die Partei gewillt ist, trotz aller bisherigen Abdrängungsversuche des Revisionismus zu bleiben was sie war und ist: eine geschlossene, straff disziplinierte, einheitlich handelnde Armee von proletarischen Klassenkämpfern. Es kann kein Zweifel obwalten, wie die Antwort auf diese Frage ausfallen muss. Hat aber die enorme Mehrheit des Parteitags gesprochen, dann wird es an den badischen Parlamentariern sein, die Konsequenzen des Spruches zu ziehen. Der Parteitag ist berufen, ihnen klar zu machen, das im Rahmen der deutschen Sozialdemokratie kein Raum für Großblockillusionen, für Budgetbewilligung, für monarchische Kundgebungen und vor allem für partikularistische Eigenbrötelei vorhanden ist. An den badischen Parlamentariern ist es dann, sich zu besinnen, ob sie sich dem fügen wollen oder nicht, was eine Bedingung zur Zugehörigkeit der Partei ist.
Für die Partei als Ganzes erwächst aber aus dem badischen Streit eine andere wichtige Aufgabe. Mit einer noch so scharf gefassten Resolution über das Verhalten unserer Landtagsfraktion in Baden kann dort der Revisionismus nicht aus der Welt geschafft werden, dessen reifste Frucht die Budgetbewilligung war. Damit der Wiederholung ähnlicher Vorkommnisse in der Zukunft vorgebeugt wird, muss die Partei nach Mitteln und Wegen suchen, um in Baden unter den proletarischen Massen wirkliche Aufklärung im Sinne einer konsequenten Klassenpolitik zu verbreiten. An die proletarischen Interessen der Massen in Baden, an ihren gesunden Klasseninstinkt müssen wir appellieren, um im Bewusstsein dieser Massen selbst das sicherste Bollwerk gegen revisionistische Gefahren zu errichten. Der Magdeburger Parteitag wird die Frage einer entsprechenden systematischen mündlichen wie schriftlichen Agitation in Baden, die im Sinne und Geiste der Gesamtpartei geführt wird, ernstlich prüfen und dem Parteivorstand einschlägige Anregungen geben müssen.
Von der höchsten weittragenden allgemeinen Bedeutung ist die Frage des preußischen Wahlrechtskampfes. Seit einigen Monaten ist in unserem Feldzug für die Demokratisierung des Wahlrechts in Preußen eine Pause eingetreten. Kein Zweifel jedoch, das der Kampf bald von neuem entbrennen muss. Die Massen werden wieder auf dem Plane erscheinen, die Sozialdemokratie steht vor einer langen und schweren Kampagne, die zum Abbruch des mittelalterlichen Augiasstalls des preußischen Landtags führen muss. Der preußische Wahlrechtskampf ist jedoch nur äußerlich und oberflächlich betrachtet eine Angelegenheit der Sozialdemokratie Preußens In Wirklichkeit ist er der Knotenpunkt unseres ganzen politischen Lebens in Deutschland. In unauflösbarem Knäuel gruppiert sich um ihn ein ganzer Komplex von hoch bedeutsamen politischen Problemen: Der Kampf um die gründliche Wahlrechtsreform in anderen Einzelstaaten Deutschlands; der Kampf gegen das Zweikammersystem, das heißt für die Beseitigung der Herrenhäuser, diese herausfordernden Zitadellen der Reaktion, die als Gegengewicht gegen die gesetzgebenden Körperschaften aus Volkswahlen dienen. In erster Linie aber ist mit dem Kampfe um das preußische Wahlrecht die Sicherung des Reichstagswahlrechts, die Sicherung des Reichstags selbst gegen das persönliche Regiment unmittelbar verbunden. In entscheidender Weise greift mithin der preußische Wahlrechtskampf in unser allgemeines politisches Leben hinein. Auf Jahre hinaus dürfte sich die politische Aktion der Partei um diese Achse drehen. Den bevorstehenden Verhandlungen zu Magdeburg über den preußischen Wahlrechtskampf kommt also eine außerordentliche Bedeutung zu. Ihre Aufgabe wird es sein, alle großen Zusammenhange, die ganze Tragweite und Kompliziertheit der Frage ins schärfste Licht zu rücken. Damit muss natürlich eine eingehende Prüfung der Mittel und Wege des weiteren Wahlrechtskampfes verbunden sein. Die bisherigen Erfahrungen und erzielten Resultate liefern uns hierfür ein lehrreiches Material. Die diesjährige Frühlingskampagne der Partei hat klar und deutlich bewiesen, wie sehr der letzte preußische Parteitag mit seiner einstimmig bekundeten Auffassung im Rechte war, dass der Wahlrechtskampf in Preußen nur als eine große Volksbewegung zum Siege geführt werden kann, und zwar als eine Massenbewegung, in der alle dem Proletariat zu Gebote stehenden Kampfmittel zur Anwendung gelangen müssen. Der Versuch, eine Volksbewegung großen Stils in Fluss zu bringen, die Massen auf den Plan zu rufen, ist glänzend gelungen. Die preußischen Straßendemonstrationen des vergangenen Frühlings bilden eine Epoche in der Parteigeschichte. Wenn die Wahlrechtsbewegung wieder in Fluss kommen wird, so gilt selbstverständlich nur eins: sie weiter vorwärtszutreiben, ihre Stoßkraft, ihre Wirkung zu steigern.
Die daraus sich ergebende Aufgabe des Parteitags zu Magdeburg ist mit Händen zu greifen. In klarer Würdigung der Situation und der unvermeidlichen weiteren Aussichten des Wahlrechtskampfes hat er die Genossen und Genossinnen ausdrücklich auf die Notwendigkeit zu verweisen, durch systematische Agitation unter den breitesten Schichten des Proletariats das Bewusstsein ihrer eigenen Macht als politisch kämpfender Klasse zu wecken und zu starken, sie reif zu machen für die Situation, in der sie diese ihre Macht in der Form der Arbeitsverweigerung in den Dienst ihrer Erkenntnis und ihres Willens stellen müssen. Der preußische Parteitag hat auch in dieser Beziehung bereits Licht auf das fallen lassen, was als Gebot der Stunde auftritt. Dem Parteitag zu Magdeburg bleibt es vorbehalten, die einschlägigen Richtlinien auf Grund der seither gesammelten Erfahrungen mit dem erforderlichen Nachdruck hervorzuheben und zugleich den preußischen Wahlrechtskampf in seinen Zusammenhängen mit dem gesamten politischen Leben der Partei auf das höchste Niveau zu stellen.
Hoffentlich kommt trotz der Inanspruchnahme von Zeit und Kraft des Parteitags durch die beiden Hauptfragen die wichtige Materie des Genossenschaftswesens zu ihrem Recht. Auch mit ihr haben sich sozialdemokratische Parteitage wiederholt, doch nie erschöpfend befasst Die Praxis ist unterdes der Theorie weit vorausgeeilt und zwingt zu einer gründlichen Erörterung der Frage. Dem, was wir bereits in unserer letzten Nummer dazu gesagt haben, möchten wir kurz einiges hinzufügen. Unserer Auffassung nach kann und darf das Genossenschaftswesen nicht als Mittel angesehen werden, die kapitalistische Ordnung zu überwinden. Sie legt die Axt nicht an deren Wurzel: die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Sphäre der Produktion, die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen. Die Genossenschaftsbewegung kann daher keine Waffe, keine Trägerin des proletarischen Klassenkampfes sein. Jedoch wir würdigen sie hoch als ein Mittel, das Proletariat als Konsumenten gegen Ausplünderung zu schützen, seine materielle Lage zu heben, geistige und sittliche Kräfte in seinem Schoße, Entwicklungs- und Betätigungsmöglichkeiten zu sichern, es zur Praxis von Bürgertugenden zu erziehen, deren die kämpfende Gesamtheit bedarf. So erscheinen uns die Genossenschaften, die vom Geiste der modernen Arbeiterbewegung erfüllt sind, als ein Teil der Aufwärtsbewegung des Proletariats, so erachten wir sie als ein wertvolles Mittel, dessen Kampfestüchtigkeit zu steigern und zu erhöhen Die Sozialdemokratie hat daher unseres Dafürhaltens allen Grund, solchen Genossenschaften mit herzlichem Wohlwollen und tatkräftiger Forderung zu begegnen. Ganz besonders aber halten wir es für eine Pflicht der Genossinnen, in diesem Sinne zu wirken.
Die Frage der Reichsversicherungsordnung dürfte nach den Verhandlungen des Leipziger Parteitags und des außerordentlichen Gewerkschaftskongresses kaum zu erheblicher Debatte Anlass geben. Worauf es hier ankommt, ist die abermalige energische Bekundung des Willens, die Macht der Sozialdemokratie geschlossen hinter die Interessen der Arbeiterklasse zu stellen und die Wucht des bereits eingeleiteten Kampfes dafür zu erhöhen. Was die übrigen Beratungsgegenstande der Tagesordnung anbelangt – die Maifeier eingeschlossen –, so werden sie in der Zeit der sich verschärfenden Klassengegensatze und Klassenkämpfe in dem Bewusstsein erörtert werden, das es sich auf der ganzen Linie für die Sozialdemokratie um ein stärkeres Aufrüsten handeln muss. Je ausgesprochener der Parteitag zu Magdeburg den Charakter eines großen Rüsttags tragt, um so tiefer wird seine Wirkung auf die Massen sein. Alle Anzeichen deuten auf Sturm, und von den großen Kämpfen, denen die Sozialdemokratie entgegengeht, gilt Heines Wort: „Die Menge tut es.“
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