Clara Zetkin: Die internationalen Tagungen zu Kopenhagen

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 20. Jahrgang, Nr. 24, 29. August 1910, S. 369-371]

Seit Marxens geniale Erkenntnis von der notwendigen Internationalität des proletarischen Klassenkampfes begonnen hat, zur bewussten Tat der Massen zu werden, ist es das dreizehnte Mal, dass das kämpfende Weltproletariat seine Vertreter zu einer gemeinsamen Tagung entsendet. Nach Kopenhagen, in ein Land, das zwar für die kapitalistische Entwicklung keine bahnbrechende Rolle gespielt hat, das aber nichtsdestoweniger bereits in solchem Umfang in die moderne Weltwirtschaft eingegliedert ist, dass auch inmitten seiner alten kleinbäuerlich-kleinbürgerlichen Idylle der Abgrund der Klassengegensätze sich aufgetan hat. Als lebendiger Protest des Menschentums, das er verschlingt, ist eine blühende sozialistische Arbeiterbewegung entstanden. Mehr als einmal haben sich die festgefügten dänischen Gewerkschaften mit den organisierten Unternehmern ihres Landes messen müssen, nicht bloß, um dem kapitalistischen Raubbau am Menschen Halt zu gebieten, sondern um ihre eigene Existenz gegen die Zerschmetterungsgelüste der Herren zu verteidigen. Die Sozialdemokratie hat im politischen Blachfelde unermüdlich den Kampf gegen den Militarismus, für Arbeiterschutz, Volksbildung und eine konsequente Demokratie geführt, die weder vor der Armut noch vor dem Geschlecht abdankt. Mit der unermüdlichen Gegenwartsarbeit hat sie den ausdauernden Kampf für das sozialdemokratische Endziel zu verbinden gewusst und mit jedem Jahre neue Kämpfer dafür um ihre Fahne geschart. So ist es ein wackeres und angesehenes Bataillon, das das dänische Proletariat zur Internationale stellt.

Die Spanne Zeit, die seit den letzten internationalen Beratungen verstrichen ist, scheint äußerlich unbewegt, eine Periode der Stagnation, und ist doch inhaltsreich genug. Sie charakterisiert sich vor allem durch soziale Erscheinungen, welche die unaufhaltsam fortschreitende Zersetzung der kapitalistischen Ordnung künden. Die drei letzten Jahre standen zum größten Teil im Zeichen einer schweren Krise, die das Wirtschaftsleben aller Kulturländer mit mehr oder minder starker Wucht erschüttert hat. Sie steigerte und vermehrte die Leiden, welche des Proletariats Erbteil auch sonst schon sind, und der Schrei von Millionen Arbeitsloser, Brot- und Heimheischender lenkte zusammen mit den Flüchen zertretener kleiner und mittlerer wirtschaftlich selbständiger Existenzen, zusammen mit der Vernichtung riesiger Werte und der Stillsetzung menschlicher und sachlicher Produktivkräfte die Aufmerksamkeit auf die Gegensätze, die auf dem Grunde der heutigen Wirtschaftsordnung liegen und ihren geschichtlichen Ausdruck in dem Gegensatz zwischen Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse finden. Der Wahnsinn, aber auch die Unhaltbarkeit der herrschenden Gesellschaftszustände sprang förmlich in die Augen. Jedoch die Krise könnte nicht durch die kapitalistische Welt schreiten, ohne die dieser innewohnende Tendenz zur Zuspitzung der Klassengegensätze zu verstärken und zu beschleunigen. Eine Verschärfung der Klassenkämpfe musste daher in ihrem Gefolge einhergehen. Zu großen, langwierigen Gewerkschaftskämpfen in England, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern noch hat sich der gewaltige vorjährige Klassenkampf des schwedischen Proletariats gesellt und der Bauarbeiterkampf in Deutschland, um nur diese zwei zu nennen.

Auf politischem Gebiet zeitigte diese Situation in allen großen kapitalistischen Ländern den Verfall des Liberalismus und die wachsende Unfruchtbarkeit des bürgerlichen Parlamentarismus. In England kapituliert der Liberalismus immer mehr vor Imperialismus und Oberhaus und bringt keine großzügige Sozialpolitik zustande. Siehe den Bankrott der Arbeitslosenversicherung. Niederknüttelung der Arbeiter mit allen Mitteln einer brutalen Polizei, einer käuflichen Verwaltung und Justiz ist in den Vereinigten Staaten Trumpf. Die kleinbürgerliche Demokratie, welche die französische Republik regiert, ist trotz der Unterstützung durch den „sozialistischen Ministerialismus“ nicht einmal fähig, eine notwendige Wahlrechtsreform durchzuführen, Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung anerkennenswert zu fördern. Sie taumelt von den Skandalen der großen Spitzbuben, die man laufen lässt, zu der Niedertracht von Arbeitermetzeleien. Wir brauchen nicht erst von Preußen-Deutschland zu reden, wo der Liberalismus in dem größten Bundesstaat das Dreiklassenwahlrecht nur „reformieren“ will, wenn er dafür ein Pluralwahlrecht und andere politische Stärkungen des Besitzes eintauscht und ebenso fürstenfromm als dividendenbegeistert für Militarismus, Marinismus und Kolonialpolitik schwärmt: Von Preußen-Deutschland, wo der Parlamentarismus demütig wie ein geprügelter Hund vor dem persönlichen Regiment kuscht und seine Mühlen leer klappern lässt, wenn die Gesetzgebung die kapitalistische Ausbeutungswut zügeln, die Wunden lindern sollte, die diese den Werktätigen schlägt!

Wir verhehlen es nicht: angesichts der Situation, die in allen großen Kulturländern das Proletariat vor immer ernstere, verwickeltere Probleme stellt, wachsende Anforderungen an seine Einsicht und seinen Willen zur Tat erhebt, hätten wir eine andere Tagesordnung des heurigen Internationalen Kongresses erwartet. Uns bedünkt, das Gebot der Stunde wäre für das klassenbewusste Proletariat aller Länder gewesen, seine Waffen und Kampfesmethoden zu prüfen. Das konnte nicht geschehen, ohne sich mit dem Parlamentarismus auseinanderzusetzen und die Grenzlinie zu ziehen, wo seine große, unbestrittene Bedeutung für den proletarischen Klassenkampf in Überschätzung umschlägt. Das war unmöglich, ohne die Aufmerksamkeit der Massen stärker als bisher darauf zu lenken, dass es unter bestimmten Umständen nur die eine, ungeteilte, revolutionäre Arbeiterbewegung geben darf, die zur Waffe des Massenstreiks greifen muss. Seitdem die Internationale zu Amsterdam darüber verhandelt hat, ist ein weltgeschichtliches Ereignis eingetreten, das zur teilweisen Revision der damaligen Auffassung zwingt. Die Gluten der russischen Revolution haben Helles Licht über das Wesen des Massenstreiks ergossen. Die dadurch empfangenen Lehren gilt es dem Bewusstsein der Werktätigen näher zu bringen. Je umstrittener diese Lehren zum Teil noch sind, um so notwendiger wäre eine Klärung gewesen.

Was die Tagesordnung des Kongresses anbelangt, so spiegelt sich auch in ihr die oben flüchtig umrissene Lage der Dinge. Zur Arbeitslosenfrage und zur Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung kann es sich kaum noch um Auseinandersetzungen über die zu erhebenden Forderungen handeln. Sie sind wieder und wieder von Parlamenten des kämpfenden Proletariats beraten und festgelegt worden. Worauf es ankommt, ist, dass angesichts der Verschleppung der Arbeitslosenfürsorge in England, Deutschland, Österreich, Frankreich usw. und des Stockens der Arbeiterschutzgesetzgebung überall eine wuchtige Stoßkraft des Proletariats hinter die Forderungen zu stellen ist.

Die nämliche Erkenntnis, welche in dieser Beziehung die Arbeiterklasse zu einer gesteigerten Aktion drängt, treibt sie auch auf dem Gebiet des Genossenschaftswesens vorwärts. Es ist die Erkenntnis zwischen dem inneren Zusammenhang zwischen dem großen geschichtlichen Endziel des proletarischen Klassenkampfes und seinen kleinen Alltagseroberungen, jenes Zusammenhanges, der Reformarbeit und revolutionären Kampf verbindet, die unscheinbare Werktagsarbeit im Dienste des Proletariats adelt und dem Ringen für die freie Zukunft heiß pulsierende Lebensfrische verleiht. Allerdings hat das Vorwärts in dieser Richtung eine Voraussetzung: das Umlernen seitens mancher Sozialisten, sowohl seitens derer, welche in der Genossenschaft ein Allheilmittel erblicken, an dessen Maßstäben alle anderen Lebensäußerungen der Arbeiterklasse zu messen wären, wie der anderen, welche die Bedeutung dieses Teiles proletarischer Aufwärtsbewegung nicht werten. Die Kopenhagener Verhandlungen über die Genossenschaftsfrage werden klärend die Auseinandersetzungen des Magdeburger Parteitags darüber vorbereiten.

Zwei Beratungsgegenstände des Internationalen Kongresses lassen den Gegensatz zwischen der verfallenden bürgerlichen Gesellschaft und der aufsteigenden Welt des Proletariats plastisch in die Erscheinung treten: Das Schiedsgericht und dieAbrüstung und die Organisation einer internationalen Kundgebung gegen die Todesstrafe. Eine Frage so allgemein kultureller, humanitärer Natur wie die Abschaffung der Todesstrafe ruft in unseren Tagen das kämpfende Proletariat zur Aktion – und von allen Klassen ausgerechnet dieses allein – und erhält damit politische Bedeutung. Dieser Tatbestand redet ganze Bände, wie tief der Liberalismus gesunken ist, der zur Zeit des bürgerlichen Emanzipationsringens mit seinen Königshinrichtungen und Attentaten über die Barbarei der Todesstrafe sich entrüstete, um sie in den Tagen der Aufklärung über den sozialen und biologischen Untergrund des Verbrechens als ein unentbehrliches Zucht- und Erziehungsmittel der bürgerlichen Gesellschaft krampfhaft festzuhalten. Aber freilich: diese Aufklärung fällt zeitlich mit dem proletarischen Befreiungskampf zusammen, und darum ist der juristisch geheiligte Mord „gerechtfertigt“, von der Abwürgung eines halb vertierten Schächers an bis zur Abschlachtung von Hunderten und Tausenden der edelsten Freiheitskämpfer. Kaum ist der Segen verhallt, den die Leuchten der Wissenschaft und Kunst, die Haeckel und Genossen über die Todesstrafe gesprochen haben. Wesensverwandt liegen die Dinge für den Mord größten Stils, den Krieg, nur dass diese Frage von der weitest zielenden politischen Tragweite ist. Wer die organische Verknüpfung zwischen der kapitalistischen Ordnung und Militarismus, Marinismus und Kolonialpolitik erfasst hat, der wird sich auch keinen Illusionen über den Erfolg der Bestrebungen hingeben, dem Kriege durch Schiedsgerichte und Abrüstungen zu begegnen. Die nationalen Gegensätze haben ihre feste Wurzel in den Klassengegensätzen innerhalb jeder Nation, und der Krieg und das Rüsten zum Kriege ist in dem erreichten Stadium der geschichtlichen Entwicklung eine Lebensnotwendigkeit des bürgerlichen Regimes. Solange die ausbeutenden Klassen noch die ungeschmälerte Herrschaft im Staate haben, werden sie nur Lappalien von Streitfällen dem internationalen Schiedsgericht zur Regelung überweisen, die großen nationalen Gegensätze werden sie einem blutigen Austrag entgegentreiben. Die Interessen der Panzerplattenkönige und Werftgewaltigen sind stärker als die sanften Weisen der vereinzelten bürgerlichen Friedensschwärmer. So legt auch der Hinblick auf die Verwirklichung dieser Reformen die Frage nahe: durch welche zwingenden Machtmittel das Proletariat seine Forderungen unterstützen kann und unterstützen will. Der Kopenhagener Kongress muss in dieser Beziehung noch nachdrücklicher und stärker sagen, was sein Vorgänger zu Stuttgart erklärt und zum Teil nur angedeutet hat.

Die eingangs hervorgehobene Verschärfung und Ausdehnung der Klassenkämpfe macht es der Kopenhagener Tagung zur Pflicht, eine wirksamere Betätigung der internationalenSolidarität anzuregen, ebenso aber auch die raschere Durchführung der Beschlüsse der internationalen Kongresse. Die sich vertiefende Einsicht in das Wesen der gesellschaftlichen Zustände und der hingebungsvolle, opferbereite Idealismus werden mit der kühl wägenden praktischen Zweckmäßigkeit zusammen nach den entsprechenden Mitteln ausschauen, unter denen eine bessere Organisation des Internationalen Sekretariats und die Herbeiführung einer lebendigeren Fühlung seinerseits mit den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in den einzelnen Ländern nicht an letzter Stelle stehen darf.

In Anschluss an den Internationalen Sozialistischen Kongress werden in Kopenhagen zahlreiche internationale Gewerkschaftskongresse stattfinden, treten die sozialistischen Jugendorganisationen und die Genossinnen zu internationalen Beratungen zusammen. Die Erste Internationale Sozialistische Frauenkonferenz war „ein tastender Versuch“, die Genossinnen aller Länder in der Erkenntnis des gemeinsamen Ziels international in eine Kampfesfront zu stellen. Dieser Versuch hat den Boden für ein Weiterschreiten geebnet. Nicht bloß die Anmeldungen zu der Konferenz, auch die eingeschickten Berichte bezeugen die erwachte Fühlung, welche die Genossinnen aller Länder miteinander zu gewinnen anfangen, die mancherlei Anregungen, die sie ihr verdanken. Leider werden bei der Kopenhagener Tagung die Genossinnen der romanischen Länder so gut wie unvertreten sein. Die Ansätze zu einer gefestigten sozialistischen Frauenbewegung sind dort noch schwach und zusammenhangslos. Doch wir erwarten in dieser Beziehung für die Zukunft Gutes von der ernsthaften Behandlung der Frauenfrage auf dem diesjährigen italienischen Parteitag, Gutes auch von den Verhandlungen der Konferenz. Wir hoffen, dass diese außerdem zum Ausgangspunkt festerer Beziehungen mit den Genossinnen der skandinavischen Länder werden, die bisher der jungen sozialistischen Fraueninternationale fernstanden. Was zur Kräftigung der Verbindung zwischen den Genossinnen aller Länder über die bisherigen bescheidenen Anfänge hinaus geschehen kann, das wird die Konferenz zu prüfen haben. In der Frage der sozialen Fürsorge für Mutterund Kind muss es sich darum handeln, das weibliche Proletariat überall in der Richtung der Forderungen vorwärts zu treiben, welche die deutschen Genossinnen im Verein mit Partei und Gewerkschaften vertreten. Sie sind unseren Leserinnen bekannt. Der Arbeit und dem Kampfe für das Frauenwahlrecht ist die Konferenz zu Stuttgart grundsätzlich wegweisend gewesen. Nun müssen Mittel und Wege erörtert werden, mehr Tat hinter die Forderung zu setzen, und das unter steter Berücksichtigung der allgemeinen proletarischen Klasseninteressen. Wir fassen dabei unter anderem besonders auch die Nutzbarmachung der Maifeier ins Auge – wie sie unsere österreichischen Schwestern mit prächtigem Erfolg durchführen –, ferner die Einrichtung eines alljährlichen besonderen „Frauentags“, nach dem guten Beispiel der amerikanischen Genossinnen.

Wir preisen die internationalen Tagungen zu Kopenhagen als Lebensäußerungen jener Berge und Täler versetzenden geschichtlichen Kraft, die der Dichter Jacobi also feierte:

„Es weht ein gewaltiger Geisteshauch über die Erde,

Dergleichen auf Erden noch nie ist gespürt worden.

Er wühlet die Wellen aus vom Grunde:

Dem Amboss hat es einer gesagt,

Dass er aus dem gleichen Stoff wie der Hammer gemacht sei.

Und siehe: er will nicht länger Amboss sein!


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