Clara Zetkin: Zum Breslauer Parteitag

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 5. Jahrgang, Nr. 20, 2. Oktober 1895, S. 153 f.]

Eine ereignisreiche Zeit, eine Zeit heißer Kämpfe, pflichttreuen kräftigen Arbeitens und Strebens liegt für Deutschlands klassenbewusste Proletarier zwischen dem letzten und dem diesjährigen Parteitag der Sozialdemokratie.

Die Frankfurter Beratungen fielen in die Zeit, wo unter Hurrah und Hussah der Umsturzrummel heran tobte. Lange Monate hindurch stand die Sozialdemokratie im Vordertreffen der Kämpfe, welche sich aufrollten um Sein oder Nichtsein jener dürftigen Ansätze politischer Freiheiten, deren das deutsche Volk sich erfreut. Eine Unsumme von Zeit, Kraft und Mitteln, von feuriger Energie und kühler Besonnenheit hat sie in diesen Kämpfen betätigt. Und – welche Partei könnte sich an kräftigem Leben mit der Sozialdemokratie messen – kaum dass in ihrem Ringen mit der Reaktion eine relative Pause eingetreten, ging sie arbeitsfreudig aus Werk, um sich über die Taktik klar zu werden, welche ihren Eroberungszug aufs platte Land leiten soll. Die von dem Frankfurter Parteitag erwählte Agrarkommission veröffentlichte ihren Programmentwurf, der Gegenstand eingehendster Erörterung in der sozialdemokratischen Presse und in den sozialdemokratischen Organisationen wurde. Regstes geistiges Leben und durchaus gesundes, klassenbewusstes Leben betätigte die Partei in der Kritik des Entwurfs, einer Kritik, welche mit geradezu überwältigender Einmütigkeit die gemachten Vorschläge zurückweist.

Die wichtigste Aufgabe des Breslauer Parteitags ist es, die im Vorjahr in Frankfurt a. M. angeschnittene Frage zu entscheiden. Soll die Sozialdemokratie dem Programmentwurf der Agrarkommission entsprechend auf ihre Fahne einen Bauernschutz schreiben, der im Gegensatz steht zu der Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung und im Gegensatz zu dem Charakter der Partei des proletarischen Klassenkampfes? Soll sie den Staatssozialismus, den sie auf dem Parteitag zu Berlin für die allgemeine Haltung der Partei zum großen Tore hinausgeworfen hat, jetzt durch das Seitenpförtchen der Agrarfrage höflich herein komplimentieren? Soll sie gar, der Tendenz der Forderungen sich anbequemend, welche der süddeutsche Unterausschuss der Agrarkommission formulierte, die Taktik des Bauernschutzes bis zu einer durchaus antisozialistischen Taktik des Bauernfangs zuspitzen? Oder heischt es nicht vielmehr das Interesse der sozialdemokratischen Partei, das Interesse des deutschen Proletariats auch der Landbevölkerung gegenüber an der bisher bewährten revolutionären Taktik festzuhalten, welche auf leichtere und bequemere Augenblickserfolge verzichtet, wenn sie nur durch eine Preisgabe des Charakters der Partei erkauft werden können? Auf sie verzichtet, nicht aus verbohrter „orthodoxer“ Prinzipienreiterei, sondern aus der praktisch-nüchternen Erwägung heraus, dass das grundsätzlich Irrtümliche sich mit der Zeit stets als das praktisch Schädliche erweist.

Das Festhalten an der bis jetzt befolgten Taktik der Sozialdemokratie ist doch keineswegs gleichbedeutend mit dem freiwilligen Verzicht auf die Gewinnung der ländlichen Bevölkerung oder eine Verzettelung der Parteikraft in fruchtlosen Bemühungen. Die Erfahrung zeigt allenthalben, dass die Sozialdemokratie recht beachtenswerte Erfolge auf dem Lande erzielt hat, auch ohne dass sie unter dem Schutzheiligentum eines besonderen Agrarprogramms reaktionärer Bauernschutzforderungen zum Ansturm marschierte.

Betonen, dass die Genossen, welche in der Beziehung anderer Ansicht sind, dass insbesondere die Väter des Programmentwurfs von den besten Absichten geleitet eine Taktik fordern, welche die Partei bisher als schädlich verwarf, hieße beleidigen. Aber nicht das gute Herz und die guten Nieren der Befürworter einer neuen Taktik hat der Breslauer Parteitag zu prüfen. Er hat ihre Vorschläge zu messen an unseren Prinzipien, er muss sie wägen bezüglich ihrer Einwirkung auf den proletarischen Klassenkampf, er hat ihre Konsequenzen zu ziehen nicht im luftigen Raume frommer Wünsche, sondern mit Berücksichtigung der bestehenden, sehr wirklichen sozialen und politischen Machtverhältnisse im Deutschen Reich. Heiß werden jedenfalls manchmal die Geister im Für und Wider aufeinander platzen. Aber es charakterisiert die innerliche Kraft und Gesundheit der deutschen Sozialdemokratie, dass sie innerhalb ihrer Reihen vorhandene Gegensätze rückhaltlos zum Austrag bringen kann, während sich die bürgerlichen Parteien um solche in scheuer Furcht wie die Katze um den heißen Brei herumdrücken müssen.

In klarer, ernster Würdigung ihrer verantwortungsreichen Aufgabe werden die Vertreter der sozialdemokratischen Partei in Breslau die strittige Frage entscheiden. Entscheiden und nicht bloß vertagen, wie dies verschiedentlich verlangt wurde, und zwar gerade von Seiten, wo man bereits im vorigen Jahre die Frage für spruchreif hielt. Erschien die deutsche Parteigenossenschaft damals für wissend und geklärt genug, um ohne vorausgegangene eingehende Erörterung, in Anschluss an zwei Referate, fast debattelos in Sachen der Agrarfrage zu beschließen, die Taktik der Partei festzulegen, so ist sie nach der stattgehabten sehr gründlichen Erörterung der Frage gewiss mindestens ebenso kompetent für eine Entscheidung als im Vorjahre. Die gegenwärtige politische Situation aber macht die Entscheidung zu dringender Notwendigkeit. Auch der Parteitag zu Breslau wird umhallt von dem Gekläff der Reaktionsmeute, welche zu frisch-fröhlicher Hatz anstürmt gegen die Rotte von Menschen mit dem bekannten langen Namen. Voraussichtlich geht die Sozialdemokratie einer Zeit schwerer, erbitterter Kämpfe entgegen, während deren sie kaum die Möglichkeit zu theoretischer Klärung finden dürfte. Außerdem wird für diese Kämpfe selbst die Waffentüchtigkeit der Partei wesentlich erhöht, wenn innerhalb ihrer Reihen nicht vertuschte oder verkleisterte Gegensätze vorhanden sind, sondern Einmütigkeit, feste Geschlossenheit, volle Klarheit nicht bloß über das Ziel, sondern auch über den Weg, der zu diesem führt.

Die übrigen Arbeiten, welche dem nächsten Parteitage obliegen, sind zwar keineswegs bedeutungslos, können sich aber an Wichtigkeit nicht mit der Agrarfrage messen. Die Berichte über die Geschäftsführung der Partei, über ihre Presse, über die parlamentarische Tätigkeit der Fraktion werden wie jedes Jahr Anlass geben zu berechtigter und unberechtigter Kritik, zu fruchtbarer und unfruchtbarer Anregung. Bezüglich der Stellungnahme der Partei zum nächsten internationalen Kongress zu London und der Maifeier dürften große Meinungsverschiedenheiten kaum zu Tage treten. Das Gleiche gilt betreffs der Frage „Hausindustrie, Schwitzsystem und Arbeiterschutz“. Ihr gegenüber handelt es sich schon längst nicht mehr um eine Klärung der Auffassung innerhalb der Sozialdemokratie, sondern um die Umsetzung einer klaren Auffassung in eine mit aller Energie geführte Aktion. Eine solche liegt u. A. ganz besonders im Interesse des weiblichen Proletariats. Viele Zehntausende proletarischer Frauen, Mädchen und Kinder zartesten Alters gehen durch die schamlose hausindustrielle Ausbeutung der Gesundheit und Lebenskraft verlustig, vegetieren in kulturunwürdigen Jammerverhältnissen, werden mit dem Elend der Schande überliefert. Die diesbezüglichen Erörterungen können deshalb der regsten Aufmerksamkeit der Genossinnen sicher sein, die zur Frage gefassten Beschlüsse ihrer gewissenhaften und energischen Unterstützung. In ernster Zeit und zu ernster Arbeit finden sich die Vertreter der klassenbewussten Proletarier und Proletarierinnen in Breslau zusammen. Glück auf zu ihrem Raten und Taten!


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