Clara Zetkin: Zum sozialdemokratischen Parteitag

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 19, 20. September 1905, S. 109]

Die deutsche Sozialdemokratie tritt in Jena in ungewöhnlich ernster, großer Zeit zusammen. Sie tagt im Zeichen einer der gewaltigsten welthistorischen Ereignisse: der russischen Revolution, die – welches Auf und Ab auch immer der Zusammenprall der miteinander ringenden geschichtlichen Mächte bringen mag – unaufhaltsam, mit elementarer Gewalt vorwärts flutet. Bürgerlich ist ihr Charakter, ihr Ziel, nichtsdestoweniger steht sie als erste an der Schwelle künftiger proletarischer Revolutionen. Denn unbeschadet der Vielheit der in ihr wirkenden Faktoren, unbeschadet insbesondere der glänzenden, heldenkühnen und opferreichen Kämpferrolle der „Intelligenz“ ist das junge Industrieproletariat Russlands ihre mächtigste treibende Kraft.

Abgesehen von der Bedeutung, den weit spannenden Folgen, welche dem Sturze des russischen Absolutismus zukommen, ist es aber dieser Umstand, der heute schon belebend, kräftigend auf den proletarischen Befreiungskampf in allen Ländern zurückwirkt. Die Vorgänge in Russland wecken und stärken das Bewusstsein des Proletariats von seiner revolutionären Macht; sie schärfen seinen Blick dafür, dass die Revolution ein unvermeidliches Moment der geschichtlichen Entwicklung ist und nicht eine beliebig zu wählende oder zu verwerfende Methode des Kampfes; sie lenken seine Aufmerksamkeit auf das Kampfesmittel des politischen Massenstreiks; sie erhöhen seinen Idealismus durch das unvergängliche Beispiel der geübten Kampfestugenden.

Ungeduldiger als in den letzten Jahren drängen die Massen unter dem Flammenhauch der russischen Revolution vorwärts. Und seine Wirkung wird verstärkt durch den stachelnden Sporn bösartiger reaktionärer Tat- und Unterlassungssünden, welche die Zuspitzung der Klassengegensätze, die Verschärfung der Klassenkämpfe bekunden; durch die konfliktschwüle Entwicklung der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Verhältnisse, die besonders im russisch – japanischen Kriege greifbar deutlich zum Ausdruck gelangt ist, die sich aber auch in hunderterlei Zeichen unseres öffentlichen Lebens widerspiegelt. In allen Ländern, in denen der Kapitalismus herrscht, wetterleuchtet es von einer gewalttätigen, beutegierigen Weltmachtspolitik, die in ursächlichen Verknüpfungen als Gegenstück einer offen oder verhüllten arbeiterfeindlichen, reaktionären Heimatpolitik auftritt.

Das Proletariat geht sehr ernsten Zeiten entgegen, Zeiten, welche die höchsten Anforderungen an seine Einsicht, Reife, Energie und Hingabe stellen. Und die Sozialdemokratie, als Führerin und Vorkämpferin des Proletariats, muss auf Sturm und Wogendrang vorbereitet sein. Dieser Verpflichtung gemäß wird ihr bevorstehender Parteitag vor allem einer Musterung und Vervollständigung ihres Rüstzeugs gelten und einer sorgfältigen Prüfung der Kampfeswaffen, welche das Proletariat anwenden kann und unter bestimmten Umständen anwenden muss. Wie die Dinge gelagert sind, kann der Parteitag dieser Aufgabe nur genügen, indem er die gesamte innerpolitische und außerpolitische Situation aufrollt, ihre Untergründe, ihre Triebkräfte bloßlegt, von der Warte der sozialistischen Auffassung aus Einblicke und Ausblicke gibt und die Verpflichtungen der Stunde mit jener Einsicht und jenem Idealismus würdigt, welche starke Wurzeln seiner Kraft sind. In der Folge werden die Wünsche hinfällig, welche betreffs einer Erweiterung der provisorischen Tagesordnung geäußert worden sind, und die Verhandlungen erlangen bei aller im Vordergrund stehenden Bedeutung für das geistige und praktische Leben der Partei eine starke werbende Kraft den breiten Massen gegenüber.

Den Beratungen über das Organisationsstatut und den politischen Massenstreik kommt unter den gekennzeichneten Gesichtspunkten besondere Wichtigkeit zu.

Ein wahrer Berg von Anträgen zu dem ausgearbeiteten Entwurf eines Organisationsstatuts bezeugt, wie tief und allgemein das Bedürfnis nach einer gut ausgebauten Parteiorganisation empfunden wird, die einheitlich und stramm zusammengefasst und doch elastisch genug ist, den einzelnen Teilen den nötigen Spielraum der Kräfte zu sichern. Nach drei Richtungen gehen in der Hauptsache die Anregungen. Es wird eine straffere Zentralisation der Partei gefordert, ein Verlangen, dessen konsequente Umsetzung in die Praxis auf Gegentendenzen stößt, die nicht nur durch die vereinsgesetzlichen Missstände im Reiche ausgelöst werden, vielmehr auch durch den Hinblick auf die geschichtlich gewordenen Organisationsformen und Organisationsgebilde in verschiedenen Einzelstaaten. Der Charakter der Partei, als einer Partei der Massen, soll, dem steigenden demokratischen Bewusstsein der Genossen entsprechend, durch die Zusammensetzung der Parteitage, das Recht der Delegierung zu ihm usw., scharf zum Ausdruck kommen. Man möchte die Aktionsfähigkeit der Partei erhöhen, ihre Erziehungsarbeit an den Massen vertiefen, indem man den Aufgabenkreis des Vorstandes erweitert und diesen aus einer vor allem verwaltenden mehr zu einer politisch und geistig leitenden Körperschaft verwandelt. Zur Stellung der Frauen innerhalb der Partei liegen mehrere Anträge vor, die sich gegen die einschlägigen Bestimmungen des Entwurfs wenden. Wir haben die strittige Frage bereits in Nr. 16 eingehend erörtert, so dass sich heute ein nochmaliges Eingehen auf sie erübrigt.

Zum Problem des politischen Massenstreiks brachte die letzte Nummer der „Gleichheit“ einen ausführlichen Artikel. Wie nötig es geworden, dass der Parteitag sich mit der Materie beschäftigt, das ist neuerdings durch die Gründung des anarcho-sozialistischen Verbandes wieder bestätigt worden. Man mag die theoretische Konfusion und die praktische Verschrobenheit und Unfruchtbarkeit der neuen Richtung noch so nachdrücklich ablehnen: bedeutsam ist und bleibt die Tatsache, dass einige tausend Berliner Proletarier, von denen die meisten am geschichtlichen Leben ihrer Klasse teilnehmen, begeistert den krausen Ideengängen des Genossen Friedeberg zustimmten. Sie ist ein nicht umzudeutelndes Symptom der Stimmungen und Bedürfnisse, welche sich im Proletariat unter dem wuchtenden Drucke der eingangs charakterisierten Entwicklung naturgemäß regen. Diese Stimmungen und Bedürfnisse aus dem Stadium verworrener, instinktiver Gärung zu dem einer klaren geschichtlichen Erkenntnis und eines zielsicheren Arbeits- und Kampfeswillens emporzuheben, ist eine fruchtbare Aufgabe für den Parteitag.

Die Diskussion über die Maifeier wird infolge der allgemein bekannten Tatsachen dieses Jahr an Umfang und vor allem an Bedeutung weit über den Rahmen der alljährlichen Behandlung hinausreichen. Sie kann aber keine sachlich gründliche sein, ohne dass das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften in ihren Kreis gezogen wird. Geschieht das – und zwar mit der Erkenntnis von dem inneren Wesenszusammenhang des wirtschaftlichen und politischen Klassenkampfes und bei aller Schärfe des Zusammenstoßes der Meinungen mit der brüderlichen Gesinnung, welche aus dieser Erkenntnis quillt –, so kann die Auseinandersetzung nun und nimmer zu dem von Feinden und zweideutigen „Gönnern“ der Arbeiterklasse ersehnten „Keil“ zwischen Partei und Gewerkschaften werden, so muss sie vielmehr beide in immer festerem, innigerem Zusammenwirken zusammenführen. Die Maifeier selbst aber wird dabei als eine Willenskundgebung des einen revolutionären Proletariats an Kraft und Tiefe gewinnen.

Die Berichte des Parteivorstands, der Reichstagsfraktion und der Vertrauensperson der Genossinnen, Anträge verschiedener Natur geben Anlass, das Leben, die Arbeit und die Waffen der Partei – darunter insbesondere auch die Presse – unter der Forderung des Bereitseins, der Leistungstüchtigkeit sorgfältig zu prüfen, zu verbessern und zu vervollständigen. Manch scharfe Gegensätze werden dabei, wie bei den übrigen Debatten auch, heiß miteinander streiten, manch leidenschaftliches Wort und Argument hin und her fliegen. Die Partei hat das nicht zu fürchten. Eine festgewurzelte, mit voller Hingabe der Persönlichkeit verfochtene Überzeugung ist ein starker, eifriger Gott, der gelegentlich mit Donner und Blitz drein fährt, und nicht ein süßlicher Schwächlich, der mit gespitzten Lippen nach rechts und links schmatzt. Die Heftigkeit der geistigen Kämpfe, mit der die Sozialdemokratie noch stets um Klarheit und um neue Erkenntnisse gerungen hat, strömt aus der Quelle ihrer Kraft. Der Parteitag zu Jena wird unstreitig zu den Tagungen der Sozialdemokratie gehören, welche in ihrer Geschichte besonders zählen. Die kampfreiche Situation, der die Sozialdemokratie entgegengeht, darf kein kleines Geschlecht finden.


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