Lynn Walsh: China: Auf dem Weg zum Kapitalismus?

(eigene Übersetzung des englischen Textes in Militant Nr. 820, 24. Oktober 1986, S. 10)

Beschwören die aktuellen Reformen das Gespenst der kapitalistischen Restauration herauf? Selbst Reagan bezeichnet Dengs Gruppe jetzt als „sogenannte Kommunisten“, vielleicht in dem Glauben, dass sie das Licht gesehen haben.

Diejenigen, die dies behaupten, ob eifrige Kapitalist*innen oder besorgte Sozialist*innen, übertreiben die Tragweite der Reformen sehr. Sie lassen die grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen außer Acht, die durch die Revolution geschaffen wurden und die nicht über Nacht durch oberflächliche Reformen verändert werden können.

Die Hindernisse für eine Rückkehr zum Kapitalismus können unter vier Überschriften zusammengefasst werden.

(1) Die Produktionsmittel werden immer noch von verstaatlichtem Eigentum, das vom Staat kontrolliert wird, dominiert.

Auf dem Land wird zwar der größte Teil der landwirtschaftlichen und sonstigen Produktion von Haushalten betrieben, doch das Landeigentum ist nach wie vor ein staatliches Monopol: Das Regime hat nach wie vor die ultimative Macht, die produktive Tätigkeit umzulenken.

Hybrid

In der Industrie beherrschen die großen Staatsunternehmen weiterhin alle Schlüsselsektoren und unterliegen nach wie vor den zentralen Planungsbehörden. Marktwirtschaftliche Merkmale wurden zwar in den staatlichen Sektor eingeführt und privaten Firmen wird mehr Spielraum eingeräumt, aber die Wirtschaft steht weiterhin unter der Kontrolle und Leitung des zentralen Apparats.

(2) Versuche, dem zentral geplanten System Marktelemente aufzupfropfen, führen, wie die Erfahrungen in Russland und Osteuropa gezeigt haben, zu einer verzerrten Hybrid. Es mag anfangs gedeihen, aber später trägt es saure Früchte. Auf ähnliche Weise geraten Dezentralisierungsschritte unweigerlich in Konflikt mit dem grundlegenden zentralistischen Mechanismus der Wirtschaft.

Rasche Investitionen, die sich aus den einbehaltenen Profiten staatlicher Unternehmen und Bankkrediten speisen, haben die Konsumgüterindustrie angeregt. Dies führte jedoch fast sofort zu einer „Überhitzung“, d. h. zu einem Mangel an Materialien und qualifizierten Arbeitskräften, zu verschwenderischen Doppelprojekten und zu einer übermäßigen Absorption von Löhnen und Ersparnissen durch „Luxusgüter“.

Die „flexible“ Preisgestaltung hat den Schwarzmarkt angekurbelt. Das schwerwiegendste Symptom ist das Erscheinen von Inflation, die auf dem Lande auf etwa sieben Prozent und in den Städten auf 14 Prozent gestiegen ist, ein für die jüngsten Standards hohes Niveau.

Dengs Reformen waren bereits von einem Bremsen-Beschleunigen-Rhythmus durchzogen. In den Jahren 1980-81, nach der Anfangsphase trat die Führung auf die Bremse und bremste abenteuerliche Investitionen und Preiserhöhungen. Deng sah sich auch gezwungen, gegen „Wirtschaftsverbrechen“, Korruption, Schwarzmarkthandel und Spekulationen vorzugehen.

Ein führender chinesischer Wirtschaftswissenschaftler, Jiang Yiwei , brachte das Problem 1980 in „Social Sciences in China“ auf den Punkt: „Zentralismus führt zu Starrheit, Starrheit führt zu Beschwerden, Beschwerden führen zu Dezentralisierung, Dezentralisierung führt zu Unordnung, und Unordnung führt zurück zur Zentralisierung“.

Im Jahr 1983 machte die Führung wieder Schritte vorwärts und führte neue Reformen durch. Doch dann wurde 1986 zum „Jahr der Konsolidierung“ erklärt.

In diesem Sommer erklärte der in Shanghai ansässige „World Economic Herald“, dass „die Macht, die (1984) auf die Unternehmen übertragen wurde, tatsächlich zurückgenommen wurde.“ Die Zeitschrift behauptet, dass das Regime nun faktisch seine Reformpolitik aufgegeben habe, indem es eine Einsparungspolitik anwende, die mit den alten Verwaltungskontrollen identisch sei.

Massiver Umschwung

Weit davon entfernt, den „kapitalistischen Weg“ zu öffnen, werden die jüngsten Maßnahmen früher oder später zu einem massiven Umschwung in die andere Richtung führen. Es gibt bereits Anzeichen dafür.

(3) Die Wirtschaftsreformen stoßen unweigerlich mit den sozialen Interessen der herrschenden Bürokratie zusammen. Die meisten Partei- und Staatsbosse begrüßten zweifellos die Maßnahmen zur Belebung der stagnierenden Wirtschaft. Sie haben sicherlich nichts gegen die höheren Bezüge einzuwenden, die mit einer stärkeren Betonung von „Anreizen“ einhergehen. Wenn jedoch die Dezentralisierung und die Initiative der Manager*innen zu weit gehen, wird die Autorität der Bürokratie untergraben. Wenn marktwirtschaftliche Methoden Verwerfungen erzeugen und die Unzufriedenheit der Bevölkerung schüren, unternehmen die Bürokrat*innen unweigerlich Schritte, ihren Zugriff auf die Hebel der Macht zu verstärken.

Dengs Reformprogramm, berichtete das „Wall Street Journal“ (9. September), werde von „politischen und wirtschaftlichen Verlierern und kommunistischen Ideologen“ unterlaufen. Ein Hauptproblem, kommentierte das Journal (3. September), „ist, dass Beamte der mittleren und unteren Ränge wirtschaftliche Reformbemühungen blockieren, aus Angst, Macht und Privilegien zu verlieren.“ Die entstehenden Probleme haben den Widerstand in einem Teil der Bürokratie verstärkt. Chinesische Kinder trinken amerikanische Cola, aber das System der privaten Unternehmen kann nicht zurückkehren.

(4) Die enormen Errungenschaften der Revolution von 1949 sind in der Erfahrung von vielen Millionen Arbeiter*innen und Bäuer*innen eingebettet, die ein Klassenbollwerk gegen die Restauration der kapitalistischen Ausbeuter*innen darstellen. Das Leben ist für die meisten Menschen immer noch recht karg, und die Unzufriedenheit mit der Marktpolitik des „Reichwerdens“ wird neue Forderungen nach sozialistischen Maßnahmen wecken. Große Erwartungen wurden durch Dengs Reformen geweckt: Jeder begrüßt die Aussicht auf einen besseren Lebensstandard. Aber die Landarmut und viele Arbeiter*innen und Jugendliche in den Städten fühlen nun einige der negativen Auswirkungen.

Auf dem Lande, wo eine Minderheit dazu ermutigt wurde, „zu führen, indem man reich wird“, sind die Einkommen stark polarisiert. Das Pro-Kopf-Einkommen der reichen Regionen ist schätzungsweise 20 Mal höher als das Pro-Kopf-Einkommen der ärmsten Bäuer*innengemeinden. Aber auch innerhalb der Gemeinden gibt es Unterschiede, und reiche Bäuer*innen-Unternehmer*innen in einem wohlhabenden Gebiet können über ein 100mal höheres Einkommen verfügen als ein armer Bäuer*innenhaushalt in einer armen Region. Mit dem Aufschwung der kommerziellen Landwirtschaft werden viele Millionen Menschen auf der Strecke bleiben. Doch die Aussichten, dass sie in den Städten Arbeit finden, sind äußerst gering.

Die Bedingungen der meisten städtischen Arbeiter*innen haben sich seit 1978 verbessert, aber viele fühlen sich jetzt durch Schritte bedroht, die „eiserne Reisschüssel“, das System der Arbeitsplatzsicherheit und des garantierten Einkommens, abzuschaffen. Es gibt großen Unmut über die phänomenale Zunahme von Vergünstigungen für Fabrikmanager*innen, Spitzenfunktionär*innen und neureiche Unternehmer*innen. Ein Ende der angemessenen Versorgung mit preisgünstigen Grundnahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern, früher die große Stärke der chinesischen Wirtschaft, wird Massenunzufriedenheit besonders anheizen.

Aus all diesen Gründen ist das Gerede von einer Rückkehr zum Kapitalismus überspannt. Abgesehen von den sozialen Schranken, die in den Klassenverhältnissen Chinas wurzeln, zeugen die weltweiten Wirtschaftskrisen und politischen Umwälzungen von der Unfähigkeit des Kapitalismus, die Produktivkräfte der unterentwickelten Länder zu entwickeln. (Der scheinbare Erfolg des Kapitalismus in Japan, Südkorea, Taiwan und ähnlichen Staaten wird diese Länder in der kommenden Periode nicht vor explosiven sozialen Krisen bewahren). Nur auf der Basis der durch die Entwicklung der Landwirtschaft und vor allem der Schwerindustrie nach 1949 im Rahmen der verstaatlichten Planwirtschaft geschaffen Grundlagen können die westlichen Banken und multinationalen Konzerne jetzt eingreifen und Segmente der modernen Technologie und Produktion einführen.

Neue Phase

Bislang war die Bürokratie in China relativ sicher und hat selbst die explosiven Umwälzungen der Kulturrevolution relativ unbeschadet überstanden. Obwohl sie als repressive politische Verwalterin einer bis dahin schwachen und isolierten Arbeiter*innenklasse handelte, spielte die Bürokratie eine relativ fortschrittliche Rolle bei der Entwicklung der chinesischen Produktivkräfte.

Die Wirtschaft ist nun jedoch in eine neue Phase eingetreten. Dengs Programm zeigt, dass die Bürokratie nicht länger eine Politik der nationalen Selbstgenügsamkeit, der Konzentration auf die Schwerindustrie und des groben Zwangs gegen die Belegschaften verfolgen kann. Diese Linie stieß an ihre Grenzen und erzeugte chronische Stagnation, weshalb die oberste Führung eine andere Lösung versuchen musste.

Wie in den anderen stalinistischen Staaten besteht die einzige wirkliche Lösung darin, dass die Arbeiter*innenklasse die demokratische Kontrolle und Leitung der Produktion und des Staates übernimmt. Dies ist die einzige Herangehensweise, die die parasitäre Bürokratie niemals übernehmen wird, und deshalb ist sie gezwungen, sich an den kapitalistischen Westen um Hilfe zu wenden. Dies ist an sich schon eine Erinnerung daran, dass ihre fortschrittliche Rolle bei weitem nicht unbegrenzt ist. Inzwischen kann jede Entwicklung, die durch die Reformen angeregt wird, nur die Arbeiter*innenklasse stärken – die Kraft, die schließlich die Zukunft in die Hand nehmen wird.

Kasten: Deng Reformen

Ab 1978 führte die Deng-Führung eine Reihe von Wirtschaftsreformen ein. Diese belebten die stagnierende Wirtschaft und führten zunächst zu deutlichen – wenn auch ungleichmäßigen – Erfolgen bei der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion.

Nach einer Abschwächung führte eine erneute Reform im Jahre 1984 zu einer jährlichen Wachstumsrate von über 20% in der ersten Hälfte des Jahres 1985. Aber die neue Politik hat zu Engpässen, Inflation und Unzufriedenheit unter denjenigen geführt, die nicht am neuen Wohlstand teil hatten.

In der Landwirtschaft, die immer noch etwa zwei Drittel der Arbeitskräfte und ein Drittel des Bruttosozialprodukts ausmacht, steigerte die Regierung die Produktion, indem sie die „Beschaffungspreise“ anhob – die Höhe der Zahlungen für die obligatorischen staatlichen Käufe von Grundnahrungsmitteln.

Nach 1983 gab die Regierung dem massiven Druck von unten nach, die Landwirtschaft zu entkollektivieren. Der Staat behält das Eigentum an allem Land, erlaubt aber nun die Verpachtung von Grundstücken an Haushalte. Unter dem „Verantwortungssystems“, das einen Vertrag über den Verkauf einer Quote an den Staat beinhaltet, können die Bäuer*innen Getreide und andere Feldfrüchte auf dem Markt verkaufen. „Spezialisierte“ Haushalte dürfen Produktions- und Dienstleistungsunternehmen betreiben, die Arbeitskräfte beschäftigen.

In der Industrie waren die Reformen komplizierter, und Probleme zwangen die Führung, Änderungen zu machen. Die „Kommandohöhen“ bleiben unter zentraler Kontrolle, aber die staatlichen Unternehmen dürfen einen Teil ihrer Produktion zu „flexiblen Preisen“ handeln. Nach Abzug der Steuern dürfen die staatlichen Unternehmen ihre Profite behalten, um sie in ihre eigenen Projekte zu investieren. Sowohl „kollektive“ als auch private Unternehmen durften Kapital beschaffen und Waren und Dienstleistungen auf Marktbasis verkaufen. Die Verwaltungskontrollen wurden gelockert und den lokalen Manager*innen wurde viel mehr Initiative zugestanden. Der Schwerpunkt verlagerte sich von „Roten“ zu „Expert*innen“, mit Versuchen (nicht ganz erfolgreich), individuelle Anreize und Arbeitsflexibilität einzuführen.

In den Außenwirtschaftsbeziehungen gab es eine scharfe Abkehr von der maoistischen Autarkie. Ab 1978 war das Wachstum mit der Einfuhr moderner Technologien und Investitionsgüter aus dem Westen verbunden. Der Staat genehmigte die Aufnahme umfangreicher Kredite bei ausländischen Banken und Agenturen. Nach 1979 wurde eine Reihe von Sonderwirtschaftszonen rund um die Küstenstädte eingerichtet, und die Steuer- und Zollbestimmungen für ausländische Investor*innen wurden gelockert.

Die „offene Tür“ ist ein wesentlicher Bestandteil des Reformprogramms, hat aber zu einem massiven Haushaltsdefizit und dem Anstieg der Inflation beigetragen.


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