August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 838, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 36, 27. August 1887, S. 6 f.]

Aus Nord-Deutschland, 23. August. Seit dem großen Freiberger Sozialistenprozess, der vor jetzt einem Jahr seinen Abschluss fand, sind die deutsche Polizei und die deutschen Staatsanwälte unermüdlich auf der Suche nach Geheimbundsprozessen und nach der Ausfindigmachung von Verbindungen, zu deren Zwecken oder Beschäftigungen gehört, Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern, ihre Teilnehmer der richterlichen Verurteilung zu überliefern. Die deutsche Sozialdemokratie ist damit in eine neue Prozessära eingetreten, in eine Prozessära, die mit dem Sozialistengesetz in inniger Beziehung steht; ohne dieses wären jene Prozesse nicht möglich. so haben seit dem Freiberger Prozess, welcher den Reigen eröffnete und durch welchen sozusagen der Boden für die neue Prozessära präpariert wurde, Massenprozesse in München, Frankfurt a. M., Altona, Magdeburg, Leipzig, Danzig mit den obligaten Verurteilungen stattgefunden und es sind im Augenblick weiter Massenprozesse in Aussicht in Hamburg, Altona, Berlin, Breslau, Mainz, Halle a. S. In letzterem ist auch der Reichstags-Abg. Hasenclever*) verwickelt. Nach weiteren Prozessen befindet sich die Polizei eifrig auf der Suche. Die Sozialdemokratie ist ein Edelwild, das sie mit ungleich größerem Feuereifer verfolgt als Diebe, Betrüger, Schwindler und ähnliches gemeines Volk, dessen Erlangung ihr keine besondere Aufmerksamkeit und Belohnung von Oben einbringt. Werden alle diese anhängigen Prozesse im Laufe dieses Jahres mit dem gewöhnlichen Ausgang derselben, der Verurteilung der Angeklagten, zu Ende geführt, so haben in diesem einen Jahr an 400 Sozialisten in Deutschland mit den Gefängnissen Bekanntschaft gemacht, eine ganz hübsche Zahl, die bald rechtfertigt, dass man ein besonderes Gefängnis für sie, eine Art Zwing-Uri, errichtete. Wer aber glaubt, das diese Prozesse und sonstigen Verfolgungen, wie Haussuchungen ohne Zahl, Ausweisungen, Auflösung von Vereinen, Verbote von Versammlungen, Unterdrückung unbequem gewordener Arbeiterblätter und Schriften von irgend welchem merkbar hemmenden Einfluss auf die Bewegung seien, der irrt sich. Die kolossalen Opfer, welche alle diese Verfolgungen, Ausweisungen und Verurteilungen erforderten, sind bisher, man könnte fast sagen spielend aufgebracht worden und wo heute ein Mann in der Bresche fällt, stehen im nächsten Augenblick zwei Andere, um seine Stelle auszufüllen. Die Sozialdemokratie erscheint unserer Polizei als die leibhaftige Hydra der Mythe, der für jeden abgehauenen Kopf sofort zwei neue wuchsen. Die ältesten und erfahrensten Parteigenossen können sich oft nicht der Be- und Verwunderung enthalten, über die Promptheit und freudige Opferwilligkeit, womit jeder Schlag von Oben durch die Massen von Unten pariert wird.

Die Berliner Polizei, welche kürzlich durch die Verhaftung einer Anzahl Personen beim Ausgang aus einer Privatwohnung die sog. geheime Zentralleitung der Berliner Sozialisten glaubte gepackt zu haben, scheint nicht in geringer Verlegenheit zu sein. Wie verlautet, bestreiten die Verhafteten hartnäckig, die ihnen zugemutete Rolle gespielt zu haben. Trotz der sorgfältigsten Durchsuchung der Personen und ihrer Wohnungen hat man nichts Gravierendes gefunden und nun stehen Staatsanwalt, Untersuchungsrichter und Polizei ratlos da und wissen nicht was sie anfangen sollen. In ihrer Verzweiflung, entscheidendes Beweismaterial zu finden, lässt sich die im Ganzen ziemlich gewitzigte Berliner Geheimpolizei zu allerlei Dummheiten verleiten. so verhaftete sie vor einigen Tagen um Mitternacht beim Ausgang aus dem Königstädtischen Kasino einen Kommunallehrer und vier seiner Freunde als „zur Führerschaft und zu den Häuptern der Berliner Sozialdemokratie“ gehörig. Alles Protestieren der Herren half nichts, sie mussten zur Polizeiwache folgen und mussten sich dort einem scharfen Verhör und einer genauen Durchsuchung ihrer Person unterziehen, um nach einer Stunde als vollständig harmlose Bürger entlassen zu werden. Dieser Vorgang hat unter den Berliner Sozialisten große Heiterkeit, unter den antisozialistischen Parteien starkes Kopfschütteln erregt. Kann nicht jeder brave loyale Bürger in den Verdacht kommen, eins der gefürchteten sozialistischen Häupter zu sein, wenn die Polizei nur blind zugreift?

Aus dem Zuchthaus zu Waldheim in Sachsen, berüchtigt geworden durch die barbarische Behandlung, welche die sogenannten Maigefangenen aus dem Jahre 1849 unter dem Regierungssystem des Herrn von Beust dort zu erdulden hatten, kommt die Nachricht, das einer der vor einem Jahr zu vier Jahren Zuchthaus verurteilten Leipziger Sozialisten gestorben ist. Der Mann kam schon brustkrank ins Zuchthaus, er konnte infolge dessen das ihm auferlegte Arbeitspensum nicht leisten, was ihm harte Strafen, wie Entziehung der wollenen Decke für das Nachtlager, Entziehung der warmen Kost auf mehrere Tage, eingebracht haben soll, Strafen, die notwendig den kranken Menschen rasch zu Grunde richten mussten. Besonders böses Blut macht noch die Nachricht, das man die Frau des Verstorbenen so spät von dessen Tode unterrichtete, dass, als sie die Nachricht erfuhr, der Leichnam bereits an die Leipziger Anatomie abgeliefert war, woselbst man der Frau das Sehen desselben verweigerte, vermutlich war er bereits dem Seziermesser verfallen. Die Angelegenheit wird höchst wahrscheinlich durch die im sächsischen Landtag sitzenden sozialdemokratischen Vertreter zur Sprache gebracht werden.

Auch kommt noch eine andere Nachricht aus Sachsen, die selbst das Kopfschütteln der regierungsfreundlichen Presse hervorgerufen hat. In Chemnitz besteht seit mehreren Wochen ein sozialistisches Zentral-Wahlkomitee aus drei Personen, das die Agitation für die im nächsten Monat in Sachsen stattfindenden Ergänzungswahlen zum Landtag in die Hand nehmen soll. Diesem Komitee ging jetzt seitens der Chemnitzer Polizei die Aufforderung zu, seine Statuten einzureichen, da es laut § 19 des sächsischen Vereinsgesetzes als Verein angesehen werde. Ein solcher Vorgang ist in den 36 Jahren, die das Gesetz besteht, nicht dagewesen und gehört zu den polizeilichen Naivitäten, wie sie unter der Ära des Sozialistengesetzes in Deutschland sich entwickelten Das Komitee hat die Entscheidung der höheren Instanzen angerufen.

Zu den staatserrettenden Faktoren, welche die Gesellschaft gegen die bösen Sozialisten schützen sollen, gehören seit längerer Zeit im Deutschen Reich auch die Studenten. Dieser junge Nachwuchs unserer Bourgeoisie und Aristokratie ist durch ein serviles und streberisches Professorentum seit anderthalb Jahrzehnten in dem kriechendsten Servilismus und Loyalismus erzogen worden und fiel diese Aufgabe um so leichter, als durch ihre gesellschaftliche Stellung diese jungen Männer größtenteils schon von Haus aus mit den entsprechenden Vorurteilen durchtränkt auf die Universitäten kommen. Handelte es sich in den letzten Jahren um eine antisemitische Hetz, unsere Studenten waren voran, galt es bei einer patriotischen Feier durch superpatriotische [?] Kundgebungen zu glänzen, an der Spitze standen wiederum unsere Studenten, und entsprechend diesen Tatsachen zeigt [?] sich ein großer Teil unseres jungen Beamtentums als charakterloser Ausbund und gemeines Strebertum Keinem Denkenden konnte verborgen bleiben, dass hier ein Fäulnisprozess sich offenbarte, der auf das ganze wissenschaftliche Studium, die Freiheit des Denkens und die Unabhängigkeit der Charaktere von übelstem Einfluss sein musste. Und in der Tat, die Folgen sind bereits so markante, das sie die begeistertsten Anhänger des herrschenden Systems erschrecken. Ebnet die Wege zu Stellung und Avancement, das Maß von kriechender Gefügigkeit und Schweigsamkeit der Gesinnung, das der Einzelne nach Oben zur Schau trägt, so muss dies notwendig auf den Ernst des Studiums und den Eifer der Arbeit abkühlend wirken. Wer wird sich mühseliger Tätigkeit noch unterziehen, wenn er sein Ziel auf andere Weise leichter und vor allen Dingen sicherer erreichen kann!

Nachdem voriges Jahr bereits Prof. Schmoller über die zunehmende Faulheit und Liederlichkeit der akademischen Jugend ein Klagelied anstimmte, hat in dieser Tugend weit kräftiger und durch seine Stellung wirkungsvoller dasselbe Klagelied der Direktor im Reichsamt des Innern, Geheimer Regierungsrat Basse, gesungen. Helfen werden diese Klagen nichts. Das Übel sitzt so tief, dass es durch die eindringlichsten Moralpredigten sich nicht beseitigen lässt, es wurzelt in dem ganzen sozialen und politischen Zustand unserer Gesellschaft. Unsere herrschenden Klassen denken nur noch daran, die von ihnen besetzte Position mit allen Mitteln zu erhalten, der letzte Rest von Idealismus ist ihnen abhanden gekommen. Durch die anstürmenden Massen in ihrer Vorrechtsstellung bedroht, kämpfen sie mit allen Kräften für die Erhaltung ihrer Stellung und sie können in diesem Kampfe nur willenlose Werkzeuge, fügsame und schmiegsame Charaktere gebrauchen, die für den gut gefüllten Futterkorb sich zu jedem, wenn auch noch so entehrenden Geschäft, wenn es die Erhaltung von Staat und Gesellschaft erfordert, hergeben. Für das Übrige sorgt die mit jedem Jahre steigende Konkurrenz in den sogenannten gelehrten Berufen. Die Zahl der Schüler unserer Universitäten und höheren Bildungsanstalten steigt ganz unverhältnismäßig zu der Zahl der Bevölkerung und zu der Anzahl der für diese Studien zugänglichen Stellen und Ämter. Ein großer Teil der Eltern dieser jungen Leute hat für die Studien ihrer Söhne den letzten verfügbaren Groschen, oft den letzten Rest des Kredits in Anspruch genommen, hoffend, das nach absolviertem Examen der junge Mann sich selber weiter helfen könne, indem er zu einer entsprechenden Stellung gelangt. Diese Hoffnung wird durch die große Zahl der Bewerber sehr getäuscht. Das Wettrennen um die Posten beginnt und gar zu oft bleibt nicht der Tüchtigste, sondern der Servilste Sieger, ein Wink für die Nachkommenden, wie sie es anzufangen haben, um zum ersehnten Ziele zu gelangen. Da müssen die Resultate notwendig sein wie sie sind.

Der geistige und moralische Verfall unserer studierenden Jugend ist nur eines der Symptome unseres allgemeinen gesellschaftlichen Verfalles, eines von den zahlreichen Zeichen der Zeit, das die bürgerliche Welt abgewirtschaftet hat und rapid ihrem Untergang entgegeneilt und von diesem Standpunkt betrachtet ist das so traurige Bild, das unsere akademische Jugend in der großen Mehrzahl dem Beobachter zeigt, ein erfreuliches Zeichen für alle Jene, die mit der Bibel der Meinung sind, das man nicht neuen Wein in alte Schläuche füllen dürfe.

– Es streiken nach den Nachrichten der „Berl. Volkstribüne“ in dieser Woche: Die Weber der Leipziger Baumwollweberei-Aktiengesellschaft in Wolkenburg in Sachsen, die Weißgerber in Haynau in Schlesien, die Metallschläger in Fürth, die Maurer in Göttingen, die Maurer und Abfuhrarbeiter in Thorn, die Schmiede in Braunschweig. Der Hutmacherstreik in Ebingen ist beigelegt. Dagegen droht in der Schuhfabrik von Schönhof und Söhne in Offenbach ein Streik auszubrechen, so dass Zuzug fernzuhalten ist. Der Streik der Zimmerer Leipzigs dauert fort. Zuzug ist fernzuhalten. Briefe und Sendungen sind zu richten an M. Friedrich in Reudnitz bei Leipzig, Kuchengarterstr. 20. Der Streik in der Geschäftsbücherfabrik von Eilers in Bielefeld ist zu Ungunsten der Arbeiter beendet.

*) Soeben erhalten wir die Nachricht von der Verhaftung des Gen. Hasenclever in Halle a. S.


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