Leo Trotzki: Über Stenografie

[27. Oktober 1924. Eigene Übersetzung des russischen Textes, veröffentlicht in dem Buch „Fragen der Stenografie“. 1924, Nachdruck in Сочинения. Том 21. Москва-Ленинград, 1927. Проблемы культуры. Культура переходного периода {Sotschinenija, Tom 21, Moskwa-Leningrad, 1927. Problemy kul’tury. Kul’tura perechodnogo perioda, Werke, Band 21, Moskau-Leningrad 1927. Probleme der Kultur. Kultur der Übergangsperiode}]

Ich bin der Stenografie und ihren Arbeitern so sehr verpflichtet, dass es mir sogar schwer wird, womit und wie ich anfangen soll. Meine enge Verbindung mit der Arbeit von Stenografen beginnt mit der Oktoberrevolution. Bis dahin musste ich die ungewöhnlichen Vorteile dieser Kunst niemals nutzen, zumindest wenn man den Prozess des ersten Petersburger Rats der Arbeiterdeputierten (im Jahre 1906) nicht rechnet, als Stenografen die Aussagen und Reden der Beschuldigten, darunter auch meine, notierten.

Wenn ich auf diese sieben Jahre der Revolution zurückblicke, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie man sie ohne die ständige Mitarbeit von Stenografen hätten durchführten können. Ich beobachtete immer mit dankbarem Erstaunen, wie mein junger Freund Glasman, der inzwischen verstorben ist, wochen-, monate- und jahrelang bei voller Fahrt im Zug hastig diktierte Befehle, Artikel aufschrieb und Versammlungsbeschlüsse protokollierte und auf diese Weise einen gigantischen Teil der Arbeit bewerkstelligte, die ohne seine Mitwirkung niemals erledigt worden wäre. Bei voller Fahrt im Zug stenografieren – diese Arbeit ist wahrhaft heroisch. Und wenn ich aus den Händen Glasmans oder anderer seiner Kollegen Artikel für unsere Zeitung „Unterwegs“, Befehle oder Aufzeichnungen von Reden, die von den Waggontreppen aus gehalten wurden, erhielt, „segnete“ ich mir stets die prächtige Kunst der Stenografie. Alle Broschüren und Bücher, die ich seit 1917 geschrieben habe, wurden ursprünglich von mir diktiert und dann anhand des stenografischen Protokolls korrigiert. Dieses Arbeitsverfahren hat, das ist wahr, auch einige negative Züge. Wenn du selbst schreibst, dann baust du den Satz besser und präziser auf. Aber dafür wird die Aufmerksamkeit zu sehr von den Details der Ausdrücke und dem Schreibprozess selbst verschlungen und verliert leicht die Konturen des Ganzen aus den Augen. Wenn du diktierst, sind Teil-Versäumnisse unvermeidlich, aber dafür gewinnt der Gesamtaufbau außerordentlich an Schlüssigkeit und Logik. Aber Teil-Versäumnisse, Ungenauigkeiten in der Formulierung usw. kann man dann später anhand des Stenogramms verbessern. Gerade diese Methode habe ich erlernt. Jetzt kann ich mit voller Überzeugung sagen, dass ich in diesen Jahren nicht einmal ein Drittel von dem geschrieben hätte, was ich geschrieben habe, wenn ich nicht die ständige Zusammenarbeit mit den Genossen Stenografen gehabt hätte.

Zunächst empfand ich eine gewisse Schwierigkeit: Du arbeitest wie unter Aufsicht – man darf nicht zurückbleiben, denn der Mitarbeiter wartet. Aber als ich mich daran gewöhnt hatte, lebte ich mich ein und fand in diesem System eine disziplinierende Kraft. Wenn zwei Leute mit einer Handsäge Holz sägen, arbeiten sie notgedrungen rhythmisch; wenn man es gelernt hat, erleichtert es die Arbeit außerordentlich; so ist es auch mit dem Stenogramm: der Gedanke wird diszipliniert, er arbeitet rhythmischer in Zusammenarbeit mit dem Bleistift des Stenografen.

In Ihrer Zeitschrift äußern einige Ihrer Mitarbeiter die Hoffnung, dass in mehr oder weniger naher Zukunft die gewöhnliche Schreibschrift durch die Stenografie verdrängt werden wird. Ich wage nicht zu beurteilen, inwieweit dies durchführbar ist. Meine Mitarbeiter, mit denen ich mich aus diesem Anlass beriet, brachten ihre Zweifel zum Ausdruck. Je besser ein Mensch für sich selbst stenografiert, desto schwieriger ist es für andere, seine Eintragungen zu lesen, sagen sie. Ich wiederhole, ich wage nicht darüber zu beurteilen. Aber auch in ihrer jetzigen Form, in der die Stenografie ein komplexer, subtiler Fachbereich ist, der Beruf eines kleinen und vergleichsweise geringen Zahl von Personen, ist ihre gesellschaftliche Rolle unschätzbar und wird unweigerlich größer werden. In den ersten Sowjetjahren diente die Stenografie hauptsächlich der Politik. Auf diesem Gebiet wird sie auch künftig nicht weniger dienen müssen. Aber gleichzeitig wird sie immer mehr wirtschaftlichen Aufgaben, der Wissenschaft, der Kunst und allen Zweigen der sozialistischen Kultur dienen. In gewissem Sinne kann man sagen, dass der kulturelle Aufstieg unserer Gesellschaft daran zu messen sein wird, welchen Platz die Stenografie in ihr einnimmt. Die Erziehung und Vervollkommnung der jungen stenografischen Kräfte ist eine Aufgabe von vorrangiger Wichtigkeit. Ich hoffe, dass diese Aufgabe mit Erfolg gelöst werden kann. In der Zwischenzeit schließe ich diese flüchtigen Zeilen mit einem herzlichen Dank an die Adresse der Stenografie und der Stenografen.


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