[18. April 1934, eigene Übersetzung des französischen Textes in Leo Trotzki, Œuvres 3, November 1933 – April 1934, verglichen mit der englischen Übersetzung in Writings of Leon Trotsky, Band 14, dort unter dem Titel „Why I am being expelled from France“, „Warum ich aus Frankreich ausgewiesen werde“]
Die Presse gibt aus quasi-offizieller Quelle die Erklärung für den Regierungserlass, der mir das Aufenthaltsrecht in Frankreich entzieht. Diese Erklärung ist falsch, ebenso wie die Erklärung, die die Presse dem Herrn Innenminister zuschreibt.
1) Es ist richtig, dass ich in Briefen an Privatpersonen, die sich für mein Visum interessierten, deutlich erklärt hatte, dass ich die feste Absicht habe, mich jeder politischen Aktivität im eigentlichen Sinne des Wortes1 zu enthalten, d. h. auf einer Tribüne zu erscheinen, an öffentlichen Demonstrationen teilzunehmen, Flugblätter2 zu verfassen oder Mitglied irgendeiner Kampforganisation zu sein. Wer behauptet, ich hätte gegen diese Erklärung verstoßen, die ich übrigens aus eigener Initiative abgegeben und die nie jemand verlangt hatte, sagt die Unwahrheit.
2) Was die französischen Behörden betrifft, so hatte mir keine von ihnen besondere Beschränkungen auferlegt. Im Gegenteil: Bei meiner Ankunft in Frankreich hatte ich eine Mitteilung unterschrieben, dass ich zu denselben Bedingungen wie jeder andere Ausländer in Frankreich zugelassen sei. Ich kenne kein Gesetz, das es einem Ausländer verbietet, seine Meinung in Form von Büchern oder Artikeln zu äußern. Niemand wies mich darauf hin, dass meine während meines Aufenthalts in Frankreich veröffentlichten Schriften den Rahmen der Legalität überschritten.
3) Die Presse zitiert die Ligue Communiste und ihr Organ „La Vérité“. Man vergisst dabei, hinzuzufügen, dass sowohl die Liga als auch „La Vérité“ seit fast fünf Jahren bestehen. In etwa zwanzig Ländern gibt es entsprechende Organisationen und Organe, d.h. solche, die sich auf die Ideen berufen, die ich auch in meinen Schriften vertrete. Die Ligue existierte bereits vor meiner Ankunft in Frankreich und veröffentlichte meine Artikel und Broschüren, von denen sich viele auf die politische Lage in Frankreich bezogen. Gerade seit meiner Einreise nach Frankreich habe ich darauf verzichtet, mich in der Presse zu Fragen der französischen Politik zu äußern. Die Artikel, die während der neun Monate meines Aufenthalts in Frankreich in „La Vérité“ erschienen, waren alle von der Redaktion aus eigener Initiative aus dem Russischen oder Deutschen übersetzt worden und betrafen externe3 Fragen.
So sieht die Sachlage aus: Der quasi offizielle Grund für die Ausweisung ist nicht stichhaltig. Die wahren Gründe sind ganz andere. Es gibt zwei:
Der Bankrott des französischen Radikalismus ist der erste und unmittelbarste. Es war eine radikale Regierung, die mir in den Flitterwochen ihrer Herrschaft die Genehmigung erteilt hatte. Es gab keinen Grund zu hoffen, dass das Asylrecht für einen Revolutionär nach dem völligen Versagen des Radikalismus angesichts der Welle der Reaktion respektiert werden würde. Es gibt andere Rechte, die die arbeitenden Massen des französischen Volkes selbst unmittelbarer betreffen, die bedroht sind.
Der zweite Grund ist die Idee der Vierten Internationale. Es ist kein Zufall, dass fast die gesamte Ordnungspresse mir bei meinem Gespräch mit den Magistraten von Melun eine unzusammenhängende Erklärung über die Vierte Internationale unterschob. In Wirklichkeit hatte ich keine Gelegenheit, mich vor dem Staatsanwalt der Republik und dem Untersuchungsrichter zu den brennenden Fragen der internationalen revolutionären Bewegung zu äußern. Aber es ist richtig – ich habe keinen Grund, dies zu verbergen, im Gegenteil, ich habe alles Interesse daran, es lautstark zu verkünden -, dass ich ein entschiedener Befürworter der Schaffung der Vierten Internationale auf den Grundlagen von Marx und Lenin bin. Es ist gleichermaßen richtig, dass die Kommunistische Liga Frankreichs wie etwa zwanzig andere Organisationen im gleichen Geist arbeiten. Das offiziöse Kommuniqué betonte die Schwäche der Liga und behauptete sogar, dass die Auflage von „La Vérité“ nicht mehr als 500 Exemplare betrage. Aufgrund meines zurückgezogenen Lebens hatte ich nicht die Möglichkeit, am Leben der Liga und ihres Organs teilzunehmen. Ich bin mir absolut sicher, dass man die genannte Zahl mit 20 oder 30 multiplizieren müsste, um der Realität näher zu kommen. Das ist nicht viel. Ich sehe keine Notwendigkeit, die Schwäche der Gruppierungen der Vierten Internationale zu verbergen oder zu verschleiern: Revolutionäre Politik hat nichts mit Bluff gemein. Aber gerade die Tatsache, dass trotz dieser offiziös übertriebenen Schwäche und des Mangels an gültigen Anklagen, die man mir anlasten könnte, die Regierung es für notwendig befand, eine Maßnahme gegen mich zu ergreifen, zeigt, dass die Idee der Vierten Internationale zu einer Kraft geworden ist, 4die man fürchtet.
Und das mit gutem Grund! Was den Arbeiterklassen in Deutschland, in Österreich während der entscheidenden Kämpfe fehlte, war die klare und richtige Linie, eine feste und flexible Führung, das wahre Banner der Weltrevolution. Die Dritte Internationale hat sich nach der Zweiten nun endgültig kompromittiert. Der konservativen stalinistischen Bürokratie unterworfen, bemüht sie sich, die Leere ihrer Ideen und Methoden mit Lügen und extravaganten Verleumdungen zu stopfen. Nur die Vierte kann national wie international die revolutionären Kader zusammenbringen, um dem Faschismus den Weg zu versperren und das Proletariat zur Eroberung der Macht und zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu führen.
Die kleine Episode, die meine Ausweisung darstellt, fällt in diesen politischen Rahmen. Ich wurde als Anhänger der Vierten Internationale, also der Ideen von Marx und Lenin, vertrieben: Das ist die Wahrheit, die nicht durch irgendwelche unehrlichen oder böswilligen Kommentare verdunkelt oder verzerrt werden darf.
1In der englischen Fassung fehlt: „im eigentlichen Sinne des Wortes“
2In der englischen Fassung: „Broschüren“
3In der englischen Fassung: „ausländischen“
4In der englischen Fassung: „mit der man rechnen muss“
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