Klerikaler Frontwechsel

Die katholische Kirche beginnt in Deutschland mit der Frauenbewegung als mit einem bedeutsamen Faktor unseres sozialen Lebens zu rechnen. Sie hat sich überzeugt, dass dieselbe mehr ist als eine „vorübergehende Erscheinung“, die mit Bibelsprüchen und Dogmen, mit Weihrauchwolken und mystischen Schauern gebannt werden könne. Und sie lässt sich in der Folge angelegen sein, auf dem Boden der kirchlichen Anschauungen verankern und leiten zu wollen, was sie nicht mehr aufhalten kann: das Streben der Frau nach Gleichberechtigung, ihre Beteiligung am vollen sozialen Leben und Kampfe unserer Tage. Das scheint uns das wichtigste Ergebnis des deutschen Katholikentags, der kürzlich in Straßburg stattgefunden hat.

Zum ersten mal beschäftigte sich eine Tagung der deutschen Katholiken – mit anderen Worten ein Zentrumskongress – mit der Frauenfrage, und das Referat, welches Pater Auracher dazu hielt, markiert den erfolgten Frontwechsel deutlich genug. Es anerkennt die geschichtliche Existenzberechtigung und Bedeutung der Frauenbewegung als eines Teiles der aufgerollten sozialen Frage. Es weist auf ihre stärksten treibenden Kräfte hin – auf den Verfall der alten Familienhauswirtschaft unter dem Anprall der modernen kapitalistischen Produktion; die sinkende Ehemöglichkeit; die wachsende Unfähigkeit der Familie, großen Frauenmassen Lebensunterhalt und Lebensinhalt zu gewähren. Es bringt grundsätzliche Zustimmung zu der Erwerbstätigkeit der Frau, als einer unvermeidlichen sozialen Erscheinung, die sich nicht ausschalten lässt, deren schlimme Begleitumstände aber dadurch gemildert werden müssen, dass die Organisation die Lohndrückerin zur ebenbürtigen Konkurrentin des Mannes erhebt. Es erklärt sich für eine Reihe anderer Forderungen, welche der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes auf dem Gebiet der Bildung und Berufstätigkeit gelten. Ja, das Referat lässt sogar eine leise Anerkennung des Rechtes der Frau auf politische Betätigung und politischen Einfluss durchblicken.

Gewiss: die Rede des Pater Auracher ist reichlich mit Ausführungen durchsetzt, welche in Widerspruch mit ihrem Grundton unklar, halb und reaktionär erscheinen, welche zumal betreffs der Stellung der Frau in der Ehe die alte kirchliche Auffassung hervorkehren. Und bei anderen Beratungsgegenständen des Katholikentags hat es nicht an scharfen Ausfällen gegen die „Frauenrechtlerinnen“ gefehlt, deren Auffassung von Ehre und Liebe zumal dem Verdammungsurteil einer engbrüstigen, dogmatisch verknöcherten Moral überliefert ward. Diese Einzelheiten können jedoch über den grundsätzlichen Frontwechsel nicht täuschen. Der deutsche Klerikalismus beginnt den prinzipiellen Standpunkt preiszugeben, den die katholischen Reformer noch 1897 auf dem Arbeiterschutzkongress zu Zürich gegenüber der sozialistischen Auffassung von der revolutionierten Stellung der Frau mit Schärfe und Leidenschaft verteidigten. Er stellt sich auf den Boden der geschichtlichen Auffassung der Dinge, die er damals allen gläubigen Geistern und empfindsamen Gemütern als ein Scheuel und Gräuel denunzierte.

„Das Rad der Geschichte lässt sich nicht aufhalten,“ dieses Leitmotiv beherrschte die Erörterung der Frauenfrage auf dem deutschen Katholikentag. Aber der Klerikalismus wäre nicht er selber, hätte er ihm nicht sofort das zweite beigesellt: ergo bemühen wir uns, das rollende Rad in die Bahn der kirchlichen Interessen zu lenken. Die Widersprüche der Ausführungen lösen sich in Harmonie in dem Drängen der Kirche, ihre soziale Machtstellung zu behaupten und ihr alle Erscheinungen und Kräfte des sozialen Lebens dienstbar zu machen. Daher birgt auch der vollzogene Frontwechsel den Keim zu weiteren Zugeständnissen an die Frauenbewegung in sich. Was die Kirche im Namen des Dogmas heute noch der Frau vorenthält, das wird sie ihr morgen im Namen der christlichen Weltanschauung gewähren, wenn sie sich überzeugt hat, dass es ohne Schaden für die klerikale Macht nicht länger versagt werden darf. Das oberste Prinzip der katholischen Kirche ist das Streben nach Macht, ihm sind alle anderen Grundsätze untergeordnet, in seiner Gluthitze werden sie, den jeweiligen realen Verhältnissen entsprechend, wie weiches Wachs modelliert oder auch – zusammengeschmolzen. Die Anpassungsfähigkeit der Kirche an die sozialen Erscheinungen ist eine der stärksten Quellen ihrer Herrschaft. Sie widersteht dem „Teufel“ des Fortschritts, solange er schwach und klein ist, sobald er bedrohlich erstarkt, reinigt sie ihn mit ein paar Tropfen Weihwasser und sucht ihn als fromm bescheidenen Küster in ihren Dienst zu nehmen.

Die grundsätzliche Schwenkung des deutschen Klerikalismus in der Frauenfrage ist eine äußerst beweiskräftige Probe aufs Exempel der sozialistischen Auffassung vom Gange der geschichtlichen Entwicklung. Sie ist das Eingeständnis, dass die kapitalistische Ordnung Stellung, Denken und Wollen des Weibes derart revolutioniert hat, dass das starre Kredo der Kirche vor den Konsequenzen sich beugen muss. Sie ist eine Quittung über die wachsende Kraft und Bedeutung der Frauenbewegung, über die Strömungen und Kämpfe, die sie auch in der so gefestigten und geschlossenen Welt des Katholizismus auslöst. Die Kirche muss vor der Frauenbewegung kapitulieren, muss sich zur Verfechterin ihrer Forderungen machen, will sie verhindern, dass unter dem zwingenden Peitschenhieb leiblicher und geistiger Bedürfnisse katholische Frauen in hellen Haufen zu „unchristlichen“ sozialen Kampfesrichtungen übertreten.

Dem Frontwechsel kommt jedoch eine noch weiterreichende Bedeutung zu. Er ist der Ausdruck der Tatsache, dass die soziale Frage in ihrer Gesamtheit der Kirche immer drohender ins Antlitz starrt, dass die Herrschaft der Kirche – ins Politische übersetzt die Herrschaft des Zentrums – über die proletarischen Massen ernstlich erschüttert ist, dass deren Abmarsch ins Lager der Sozialdemokratie in beschleunigtem Tempo und beträchtlichem Umfang erfolgt. Die Kirche muss danach trachten, in ihrem Machtbereich den Kampf der Geschlechter möglichst einzuschränken und zu mildern, um die Besitzenden ohne Unterschied des Geschlechtes dem klassenbewusst kämpfenden Proletariat entgegenstellen zu können, auf dessen Seite Männer und Frauen als Ausgebeutete für ihre Befreiung ringen. Sie bedarf insbesondere der Mitwirkung der gebildeten Frau, um deren rebellisch werdende „ärmere Schwester“ in ihrem Banne und fern von dem sozialistischen Ideal zu halten. Und sie strebt danach, ihre Herrschaft über die proletarische Frau zu festigen, um mittels ihrer den alten Einfluss auf den Mann der werktätigen Massen zu bewahren oder aber, wo dieser Einfluss doch schwindet, in sozialen Kämpfen die rückständige Proletarierin gegen den aufgeklärten Proletarier ausspielen zu können. So muss die innere Logik der sozialen Zusammenhänge die Kirche von Konzession zu Konzession treiben bis zur Mobilisierung der Frauenmassen für den politischen Kampf, bis zur Forderung des Frauenwahlrechts als einer unentbehrlichen Waffe in diesem Kampfe.

Wir werden das auch in Deutschland erleben, und zwar um so früher, je rascher und kraftvoller die Sozialdemokratie den Turm der Zentrumsherrschaft erschüttert. Bereits vor den Wahlen von 1890 haben wir in der Berliner „Volks-Tribüne“ darauf hingewiesen, dass die Entwicklung diesen Weg gehen wird, und das Eintreten eines einflussreichen Teiles der Klerikalen in Belgien für das Frauenwahlrecht hat es bestätigt.

Wir freuen uns des Laufes der geschichtlichen Dinge, den der Frontwechsel des deutschen Klerikalismus in der Frauenfrage kündet, wir begrüßen jedoch auch diesen selbst als ein uns sehr nützliches Ereignis. Er ist geeignet, die Überlegenheit, die überzeugende Kraft der sozialistischen Auffassung für Massen zu stärken, die noch im Schlepptau der Kirche fahren. Er wirkt als Gärungsbazillus innerhalb der Herrschaftssphäre des Klerikalismus, trägt Unruhe, Bewegung, Gegensätze in sie hinein und schwächt dadurch einen unserer Hauptfeinde. Er schafft einen kräftigen Ansporn, in unseren Reihen alle Vorurteile, alle Rückständigkeiten, alle Lässigkeit zu überwinden, welche das energischste Wirken für die Einbeziehung der Frau in den Klassenkampf hindern; die klerikale „Konkurrenz“ fordert zur äußersten Anspannung der Kräfte im „Wetttennen um die arme Frau“ heraus. Die theoretische Einsicht in das Um und Auf des klerikalen Frontwechsels treibt zu praktischen Konsequenzen. Sie lauten: Verdoppelung, Verzehnfachung der Arbeit zur Revolutionierung der Köpfe der proletarischen Frauenmassen.


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