Clara Zetkin: Wilhelm Liebknecht †

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 10. Jahrgang, Nr. 17, 15. August 1900, S. 129 f.]

Ein Verlust, so schwer, so schmerzlich, dass er noch fast unfassbar erscheint, hat die deutsche Sozialdemokratie, die deutsche Arbeiterklasse, das internationale Sozialistenheer getroffen. Wilhelm Liebknecht wurde durch einen jähen, aber schmerzlosen Tod vom Kampfplatz gerissen. Ein mildes Schicksal hat ihm, dem stets Jugendfrischen und Kampfesfrohen, die Qual eines langsamen Siechtums in müder Greisenhaftigkeit erspart. In voller Rüstigkeit, Arbeitspläne entwerfend, von Kampfesstimmung beseelt schied er, der sich stolz „einen Soldaten der Revolution“ genannt, einem Krieger gleich aus dem Leben, den der Tod von der Walstatt ruft.

Ein noch so gedrängter Überblick über Liebknechts Leben und Wirken im Dienste der sozialistischen Idee geben zu wollen, hieße die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung schreiben, hieße wichtige Kapitel aus der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung aufrollen. In seiner Person verkörpert sich ein bedeutsames und glorreiches Stück des modernen proletarischen Emanzipationskampfes.

Von der bürgerlichen Revolution die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit alles Dessen hoffend, was Menschenantlitz trägt, nahm er an den revolutionären Kämpfen von 1849 tätigen Anteil. Seinen Idealismus büßte er mit langen Jahren des Exils in London, mit langen Jahren der schwärzesten Sorge. Umfassende Studien, befruchtet und vertieft durch den Verkehr mit Marx und Engels, ließen hier seine bürgerlich revolutionäre zu einer sozialistisch revolutionären Überzeugung ausreifen. Als er 1862 ins Vaterland zurückkehrte, war er von der Erkenntnis durchdrungen, dass das Proletariat seine Befreiung nicht im Kampfe mit der Bourgeoisie erringen könne, vielmehr im Kampfe gegen diese ertrotzen, dass es als selbständige politische Klassenpartei die Schlachten seines Emanzipationsringens schlagen müsse. Er gehörte zu den Begründern der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Er war ihr glänzender, unermüdlichster Agitator in Wort und Schrift. Er zählte zu ihren hervorragendsten parlamentarischen Vertretern. Er war ihr sturmerprobter Führer. In den Zeiten der inneren Gärung und Entwicklung wie in den Tagen des heißesten Kampfes mit der Reaktion hat er für die Partei gleicherweise Unschätzbares geleistet. Es gibt kein Gebiet des Parteilebens, auf dem sich der glänzende Publizist, der hinreißende Redner, der kraftvolle Politiker nicht erfolgreich betätigt hat. Was er in den Anfängen der sozialistischen Bewegung gewirkt, was er unter dem schmachvollen Ausnahmegesetz für diese gewesen, das allein würde schon hinreichen, ihm in der Geschichte der Sozialdemokratie unsterblichen Ruhm zu sichern.

Aber nicht das deutsche Proletariat allein trauert an seiner Bahre. Die Sozialisten aller Länder haben mit ihm einen der Ihrigen verloren. Er war es besonders, der die internationalen Beziehungen zwischen der sozialistischen, der Arbeiterbewegung aller Länder pflegte und förderte. Sein Wissen von dem proletarischen Klassenleben im Ausland, seine Freundschaft mit den sozialistischen Führern jeder Nationalität, seine Sprachkenntnisse befähigten ihn wie keinen Zweiten, die Bande der internationalen Solidarität im Proletariat fester und fester zu knüpfen. In Frankreich, England, Italien, den Vereinigten Staaten, überall wo sich Proletarier zum Evangelium von der Befreiung der Arbeit bekennen, wird Liebknecht als Verkörperung der deutschen Sozialdemokratie, als Verkörperung des Gedankens des internationalen Sozialismus verehrt und geliebt. Er war der internationale Sozialist par excellence, er gehörte dem Proletariat aller Länder.

Aufs Tiefste ergriffen treten die deutschen Genossinnen, die deutschen Proletarierinnen an sein Grab. Sie haben in Liebknecht nicht bloß den kühnen, begeisterten Verteidiger ihrer Klasseninteressen verloren, sondern auch den überzeugten, tatkräftigen Vorkämpfer für die Gleichberechtigung ihres Geschlechtes. Wieder und wieder hat er das hohe Lied von der sozialen Befreiung der Frau verkündet, unablässig hat er in den eigenen Reihen wie den Massen gegenüber an die Notwendigkeit gemahnt, die Frau als aufgeklärte, gleichberechtigte Mitkämpferin zum Streit, zur Arbeit für eine neue Gesellschaft zu rufen. Wann und wo immer das Vorurteil gegen das weibliche Geschlecht sein Haupt erhob, mit den wohlfeilen Geschossen platter Witze, die Frau in die alte Beschränktheit zurückzuscheuchen versuchte: da trat Liebknecht von großen geschichtlichen Gesichtspunkten aus, ein Apostel des historischen Werdens und der freien Entwicklung jeder Persönlichkeit, jeden Menschentums mit jugendlichem Feuer für die Würde und Rechte der Frauen ein. Aller Arbeitslasten ungeachtet war er jederzeit bereit, die proletarische Frauenbewegung mit Rat und Tat zu fördern, sein reiches Wissen, seine große Erfahrung, seine machtvolle Beredsamkeit in ihren Dienst zu stellen. Nie riefen die Genossinnen ihn vergebens, nie versagte er der Einzelnen von uns seinen freundschaftlichen Rat, seine freundschaftliche Hilfe, mochte es sich um Parteiangelegenheiten oder um das persönliche Leben handeln. Ein zuverlässiger, treuer Freund ist uns Allen geschieden, ein Meister und Lehrer unserer Kinder, der diesen – und das werden wir Mütter ihm nie vergessen – das Vorbild eines ganzen, reichen, selbstlosen, opferfreudigen Lebens im Dienste der höchsten Ideale gegeben. Möchte die Verehrung, welche die Genossinnen, die Proletarierinnen dem teuren Toten zollen, Derjenigen ein Trost sein, welche in bescheidener Stille mit ihm getreulich lange Jahre alle Lasten des schweren Kampfes getragen hat.

Was die Sozialdemokratie, was wir Alle an Liebknecht verlieren, bemisst sich nicht nur an Dem, was er gekonnt, was er geleistet und gewirkt. Es muss auch nach Dem bewertet werden, was er gewesen. Seine Persönlichkeit hängt aufs Innigste mit seinem Werke zusammen. Eine großzügige, unendlich vielseitige Persönlichkeit schritt er uns voran, den Blick unverwandt und unbeirrt über des Tages kleine Geschehnisse und Sorgen hinweg auf das große Ziel der geschichtlichen Entwicklung gerichtet. Der verschriene starre „Dogmatiker“ war bereit, „vierundzwanzig Mal am Tage die Politik zu ändern“, wenn die Tatsachen ihm eine andere Überzeugung aufdrängten. Der vielgeschmähte, finstere „Fanatiker“ war persönlich von fast kindlicher Weichheit und Liebenswürdigkeit. Bei Meinungsverschiedenheiten ließ auch der schärfste Waffengang mit Gesinnungsgenossen in seiner großmütigen Seele keine Spur von Groll und Erbitterung zurück. Hinterlist war ihm so fremd, wie kleinliche Empfindsamkeit. Wer ihm in persönlicher Freundschaft verbunden war, für den trat er unter allen Umständen ein, und um so lieber und nachdrücklicher, je schwieriger und opferheischender die Verteidigung der Freundesinteressen war. Ein so treu besorgter Schützer der Seinen er war, so hoch er die Freuden eines innigen, geistig harmonisch gestimmten Familienlebens bewertete: zögerte er doch nie eine Minute, die Interessen der Familie, ja deren Existenz aufs Spiel zu setzen, wenn es die heilige Überzeugung galt. Im Kampfe für seine Ideale dünkte ihm die größte Anstrengung ein Genuss, das schwerste Opfer als etwas Selbstverständliches. Der Gefahr der Schlacht, der Verfolgung spottete er ebenso, wie den Lockungen der Reaktion. Von einer unglaublichen Bedürfnislosigkeit, in seinen Lebensgewohnheiten einfach wie ein Spartaner, trug er in heiterer Zufriedenheit die Doppellast des sorgenbeschwerten Kampfes für die Existenz, des verfolgungsreichen Kampfes für seine Überzeugung. Der Reichtum seines inneren Lebens warf einen verklärenden Schimmer über die größte Dürftigkeit, über die bittersten Leiden. Was die Kultur an Geisteswerken, an Kunstschätzen geschaffen, war ihm eine Quelle tiefsten Genusses wie das, was die Natur bot, deren Schönheiten und Wunder er in den einfachsten und größten Offenbarungen leidenschaftlich bewunderte. Von unvergleichlicher Zuversicht in die Macht und den Sieg der sozialistischen Idee beseelt, konnte er Millionen zum selbständigen politischen Leben wecken. Die unbeugsame Stärke seiner Überzeugung, seines unversiegbaren Mutes war ein Granit, an dem in den tobenden Stürmen der Reaktion der Mut und die Kampfesausdauer von Zehntaufenden und Zehntausenden sicheren Halt gefunden hat. Die reichsten Geistesgaben spendete er mit fast verschwenderischer Unbekümmertheit und mit glühendem Herzen. Seine scharfe Logik überzeugte, seine flammende Begeisterung riss fort. In seinen Worten, seinen Taten lebte seine ganze große, reine Persönlichkeit und wirkte auf die sozialistischen Kämpfer, die proletarischen Massen. Er wurde nicht bloß gehört, beachtet, bewundert, gefeiert, sondern auch geliebt. Sein Tod wird von Hunderttausenden als ein persönlicher Verlust, ein persönliches Leid empfunden. Eine große, ganze Natur, deren Grundton der reinste Idealismus war, ist mit seinem Tode dem Lose aller Staubgeborenen verfallen. Wir Alle werden ihn bitter vermissen. Es wird langer Zeit bedürfen, ehe die Wunde weniger brennend schmerzt, die sein Scheiden seinen persönlichen Freunden schlägt und nicht so bald wird sich die Lücke schließen, die sein Scheiden in die Reihen der Partei reißt. In dem Herzen des deutschen Proletariats, in der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung bleibt seinem Werke und seiner Person ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz.

„Er war ein Mann, nehmt Alles nur in Allem,

Ihr werdet selten seines Gleichen sehen.“ [frei nach Shakespeare, Hamlet, 1. Akt, 2. Szene]


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