(August 1914)
[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 28. August 1914, unter Zensurbedingungen geschrieben]
Ehe noch der Weltkrieg mit erzenen Sohlen Fluren und Menschen zerstampfte, ist dem Nationalitätenhass in Paris ein Mann zum Opfer gefallen, der bis zum letzten Atemzug dem Frieden und der Völkerverbrüderung gedient hat. Jean Jaurès wurde durch die Kugel eines Meuchelmörders getötet, dessen Hand blindwütender Fanatismus lenkte, der in dem Vorkämpfer des internationalen Sozialismus einen Verräter am französischen Vaterland erblickte. Der Schrei des Schmerzes, der Empörung, den das Verbrechen aus dem werktätigen Volke Frankreichs emporsteigen ließ, fand ein Echo in der Arbeiterklasse aller Länder. Denn nicht bloß das französische Proletariat hat mit Jaurès seinen einflussreichsten und geliebtesten Führer verloren. Der große Bruderbund der mit Hand und Hirn Schaffenden aller Länder ist eines Voranschreitenden beraubt worden, der mit durchdringendem Blicke die bewegenden Kräfte der Menschheitsgeschichte zu erfassen trachtete, um mit leidenschaftlichem Herzen und starker Hand die Zukunft erfüllter Ideale in der Gegenwart vorzubereiten. Hier wie in der französischen Arbeiterbewegung sah man ihn besonnen im Rat und kühn zur Tat, gleich mild zu verstehen, wie unermüdlich zu wirken und vorwärts zu treiben.
Jaurès‘ sozialistische Überzeugung ist nicht auf dem rauen Boden proletarischer Not und harter Lebenskämpfe erwachsen. Sie reifte allmählich als die Frucht eines warm und tief empfindenden Herzens an der Sonne umfassender Studien, einer ausgedehnten Allgemeinbildung. Das klassische Altertum, die große französische Revolution waren es namentlich, die Jaurès seine ersten Ideale schenkten und lebenslänglich seine Erkenntnis, seinen Willen nährten. Jedoch auch die Geschichte und Literatur, die gesamte Geisteskultur der anderen europäischen Länder, ja der ganzen Welt war diesem allzeit regen, fragenden Geist ein nie versiegender Quell der Förderung. So entwickelte sich in Jaurès die Eigenart seiner Rasse nicht hinter den engen Gitterstäben nationaler Vorurteile, sondern in der freien Luft weltbürgerlichen Wesens, das die Vorzüge des Blutes reicher entfalten, nur um so heller leuchten ließ. So kam es aber auch, dass Jaurès über das enge Reich der Gegenwart und der bürgerlichen Ordnung hinausstrebte, seinen Blick der stolzesten Zukunftshoffnung, den hehrsten Menschheitsidealen zugewandt.
Eine Natur wie die seine, so ganz auf Erkennen und Handeln gestellt, musste sich früh dem politischen Leben zuwenden. Wessen Blick in die Tiefe des geschichtlichen Geschehens dringt und das Allgemeinwohl sucht, dem ist die Politik etwas anderes als das oft recht unangenehme, ja wüste Gezänk der Parteien: ein Handwerkszeug, um den gesellschaftlichen Boden von dem Schutt der Zeiten zu säubern und ihn freizulegen für den gewaltigen Bau einer Ordnung, in dem eine freie und glückliche Menschheit wohnen wird. Und für Jaurès ist die Politik stets ein Mittel zu diesem Zwecke gewesen. Er begann seine politische Laufbahn als bürgerlicher Demokrat und Reformer und musste sie in Harmonie mit sich und seinen Idealen als Sozialist beschließen. Die Worte Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren für sein Herz und seinen Geist nicht tönender Schall und blutleere Begriffe: Zeichen und Ziele des Aufstieges unseres Geschlechtes aus dumpfer Tierheit zu bewusster Menschlichkeit. Sie verkörperten für ihn die Qualen und Wonnen, in denen Millionen um ihre Erhebung, ihre wahre Menschwerdung gerungen haben und noch ringen. Deshalb blieben sie für Jaurès die großen Maße, an denen er wieder und wieder die Dinge und Menschen um sich wertete. Deshalb lernte er in der heutigen Ordnung nur eine Entwicklungsstufe sehen, aber kein Endziel, so hoch er sie auch als Fortschritt über die feudale Gesellschaft hinaus schätzte. Jaurès besaß die Kühnheit des Geistes und den moralischen Mut, die Gedanken der Reform und der Demokratie konsequent zu Ende zu denken. Er fand damit den Weg vom bürgerlichen Republikanismus zum Sozialismus.
Jaurès kam zu den Armen und Kleinen, eine bereits einflussreiche politische Persönlichkeit, umstrahlt vom Glanze seiner unvergleichlichen Rednergabe, angesehen und stark im politischen Leben durch das Wissen und den Elan, mit dem er sich stets für seine Überzeugung einsetzte. Aber erst das Ringen der Armen und Kleinen um eine freie Zukunft gab ihm die Heimat und Werkstatt, in der er wirkend ganz er selbst zu werden vermochte. Die bürgerliche Welt war zu eng, zu sehr mit dem Hauche des Welkens und Verfallens erfüllt, als dass er in ihr die Lebensluft gefunden hätte, deren sein vorwärts stürmender schöpferischer Geist, sein glühendes Herz bedurfte. Erst als er sich mit Leib und Seele für die höchsten Menschheitsideale einsetzte, gelangten seine überragenden Talente zur vollen Blüte.
Es begreift sich, dass Jaurès‘ sozialistische Überzeugungen die Muttermale seines ideologischen Entwicklungsganges trugen. In der Folge kam er in den Anfängen seiner Betätigung als Sozialist in Gegensatz zu den alten Parteiführern, die wie Guesde, Lafargue und Vaillant ein Menschenalter und ein Lebenswerk daran gegeben haben, die französischen Proletarier auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus zu sammeln, wie er von Marx-Engels begründet worden ist. Allein die Gegensätze milderten sich bald. Wenn auch Jaurès ‚ Anschauungen bis zuletzt das Gepräge seiner festumrissenen Eigenart behielten, haben sie sich doch immer mehr im Sinne des historischen Materialismus geklärt. Es war der verzehrende Drang zu handeln, nicht bloß Geschichte verstehend zu erleben, sondern bewusst eingreifend zu gestalten, der Jaurès immer wieder aus den gesellschaftlichen Theorien und namentlich aus den gesellschaftlichen Dingen und Ereignissen lernen ließ. Denn was ihm den Beruf zum Führer verlieh, war neben der hinreißenden Redegewalt, Massen zu erwecken, zu überzeugen, zu sammeln und zusammenzuhalten, die Fähigkeit zur Initiative, die Massen selbst aktiv werden zu lassen. Der unbezähmbare Wille, Taten zu sehen, zwang ihn stets aufs Neue, alte Auffassungen zu überprüfen, durch neue Erkenntnisse zu revidieren, und führte ihn in Arbeit und Kampf immer näher an den„orthodoxen“ Flügel der französischen Sozialisten heran. Sollte das Proletariat Frankreichs die in ihm ruhende Macht zur Geltung bringen, so bedurfte es der Geschlossenheit, zu deren Voraussetzungen auch die Überwindung des Fraktionshaders, die Einigung der Sozialisten gehörte.
Dieser Zusammenhang der Dinge und Jaurès‘ Bedeutung als Kämpfer und Führer traten zuerst bei der Dreyfus-Affäre voll ins Licht. Der Triumph der Wahrheit und Gerechtigkeit in diesem politischen Handel war ihm eine Lebensbedingung für die Republik , die Republik ihrerseits eine Notwendigkeit für den Aufstieg, die Kraftentfaltung des werktätigen Volkes. Daher setzte Jaurès für die Republik , gegen den militaristisch-klerikalen Verschwörerklüngel entschlossen die ganze politische Macht des französischen Proletariats ein, trug aber gleichzeitig im Gewühle des Fraktionsstreits mit zäher Leidenschaft die Losung der sozialistischen Einigung voran. Diese Einigung konnte nur Wirklichkeit werden, Gestalt und Leben gewinnen, weil Jaurès selbst sich mit wundervoller Selbstzucht und ohne persönliche Empfindlichkeit dem Beschluss des Internationalen Kongresses zu Amsterdam fügte, der gegen seine Auffassung entschied. Die Einigung mit den Brüdern war ihm um den Preis dieser Niederlage nicht zu teuer erkauft.
Und wahrhaftig, er hat dadurch nichts verloren, wohl aber viel gewonnen. Als ein Führer der geeinten sozialistischen Partei Frankreichs wurde Jaurès ein starker Machtfaktor im politischen Leben seines Landes, insbesondere aber im Parlament, wo er als Talent und Charakter die leitenden Männer der bürgerlichen Parteien um Haupteslänge überragte, ein Saul unter den Philistern, von der Gegner Furcht, Hass und Bewunderung umringt. Kein wichtiges Ereignis, keine Krise, die an dem Staatsgefüge Frankreichs rüttelte, ohne dass Minister und bürgerliche Politiker fragen: wie werden sich die Sozialisten entscheiden, und wie wird Jaurès ihre Stellungnahme begründen? Seine funkelnde Beweisführung und der stürmische Herzschlag seiner Beredsamkeit wirkten weit über das Parlament hinaus, die Gewissen wach peitschend und die Massen sammelnd.
Auch in der sozialistischen Internationale übte Jaurès‘ mächtige Persönlichkeit einen weitreichenden, oft entscheidenden Einfluss aus. Die Aktionsfähigkeit des werktätigen Volkes in allen Ländern zu steigern durch die Vereinigung aller Bewegungen im Proletariat zu einem gewaltigen Strom: das war hier seine stete Sorge. Für diesen Meister des Wortes blieb die Tat der Anfang und das Ende. So finden wir Jaurès unter den Ersten und Unermüdlichsten der neuen Internationale, die das Proletariat zu dem aufriefen, was ihm schon Marxens Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation gepredigt hatte. Nämlich die Auslandspolitik der Staaten nicht passiv zuschauend gehen zu lassen, wie es dem Himmel gefällt, vielmehr darauf bedacht zu sein, sie in seinem Interesse, also zum Wohle der großen Menschheitsgemeinschaft zu lenken.
Jaurès betonte immer nachdrücklicher, leidenschaftlicher, dass es eine der vornehmsten geschichtlichen Aufgaben der Arbeiter aller kapitalistischen Länder sei, die Auslandspolitik zu einer Friedens- und Kulturpolitik zu gestalten. Was verschlug es ihm, dass ihn die Gegner als„vaterlandslosen Gesellen“ schmähten und verfolgten? Mit der Kraft seines Talents und dem Ungestüm seines Temperaments warf er sich den Gelüsten nach einem Revanchekrieg entgegen, nahm er den Kampf gegen das Wettrüsten, gegen die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit auf. Seine glänzende Feder und seine machtvolle Stimme wurden nicht müde, in Hinblick auf das kulturelle Menschheitserbe die Notwendigkeit des Friedens und der Völkerverbrüderung nachzuweisen.
Im Mittelpunkt seines gewaltigen Friedenswerkes stand aber ein beherrschender Gedanke. Die französische Republik aus dem Bündnis mit dem russischen Zarismus zu lösen, Frankreich , Deutschland und England in einem Friedens- und Freundschaftsbund zusammenzuschließen, der als Bahnbrecher einer freiheitlichen Entwicklung und höheren Kultur auf dem ganzen Erdball wirke. Seiner ganzen Auffassung entsprechend, pflanzte Jaurès am Grabe noch die Hoffnung auf, ein demokratisches Bürgertum müsse sich in Selbstbesinnung mit dem Proletariat vereint für die Bewahrung des Friedens einsetzen. Wie gläubig war nicht sein Vertrauen auf den kriegbannenden Einfluss der Verständigungskonferenzen deutscher und französischer Parlamentarier! Wenn im französischen Volke jahrelang der Gedanke an einen Revanchekrieg langsam zurückgedämmt worden und das Verständnis für eine Annäherung an Deutschland gewachsen ist: wenn die Regierung der Republik mit einem gewissen Zögern den Krieg des bluttriefenden Zarismus zur unheilvollen Sache Frankreichs gemacht hat, weil die breitesten Massen keine Begeisterung dafür zeigten und die Besten und Entschlossensten sich dem Beginnen entgegenstemmten: so hat niemand mehr als Jaurès für diesen Geist des Friedens und der Völkerverbrüderung getan. Und nie ist er ein besserer Franzose gewesen, nie hat er in glühender Vaterlandsliebe seiner Heimat einen größeren Dienst erwiesen, denn da er im aufrechten Bekennermut sich als internationaler Sozialist bis zum letzten Hauch für die Völkerverbrüderung eingesetzt hat.
Bis zum letzten Hauch, im buchstäblichen Sinne des Wortes! Jaurès‘ letztes Leben und Weben hat sich in den Anstrengungen verzehrt, den Frieden zu schützen. Das war das erhabene Ziel, das ihn nach Brüssel zur Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros führte, das ihn in der vieltausendköpfigen Demonstrationsversammlung der Arbeiter dort wie mit feurigen Zungen von der brüderlichen Solidarität des Proletariats reden ließ und ihm den Schwur auf die Lippen legte, diesem Ideal treu bis in den Tod zu dienen. Wenn Zeitungsnachrichten zutreffen, so war dem großen Friedens- und Freiheitsapostel schon damals die mörderische Kugel zugedacht. In der kurzen Lebensfrist. die ihm der Zufall noch vergönnte, hat er mit der ganzen Kraft seines Wesens darum gerungen, sein Volk von dem Abgrund des Weltkriegs zurück zu reißen. Er ist als das erste Opfer der ungeheuren Katastrophe gefallen, die die Völker der europäischen Staaten gegeneinander stellt.
Brennend steigt der Schmerz über den Tod des großen Kämpfers in der Seele empor. Aber in diesen entsetzensvollen Stunden, wo des Weltkriegs eiserne Würfel über die Völker rollen, vermögen die Gedanken nicht an einem Einzelschicksal zu halten, und wäre es das eines Jaurès. Unsere Trauer, dass Mörderhand dies reiche, schöpferische Leben vorzeitig auslöschte, flieht fast beschämt vor dem größeren Jammer, dass im blutigen Ringen der Nationen miteinander materielle und geistige Werte vernichtet und Ideale zertreten werden, die ungezählte Geschlechter der Menschheit in Arbeit und Sehnsucht international geschaffen haben. Jaurès‘ Los ist beneidenswert. In ihm hat sich erfüllt, weshalb Goethe den griechischen Dichter Anakreon glücklich pries. Der geniale Sozialistenführer hat Frühling, Sommer und Herbst des Daseins genossen: in strotzender Kraft, auf der Höhe seines Schaffens wurde er von hinnen genommen Ihm blieb der traurige Winter des Sichselbstüberlebens erspart, da die müde Greisenhaftigkeit nur zu oft an den besten Taten der Mannheit abbröckelt. Und vor Tragischerem noch„hat ihn endlich der Hügel geschützt“. Jaurès ist treu sich selbst und seiner Überzeugung im Kampfe gegen die Kräfte des Kapitalismus gefallen, die die Staaten zum Ringen um Weltherrschaft zwingen.
Der Blutdampf der Schlachtfelder und der Rauch eingeäscherter Wohnstätten mögen für den Augenblick den strahlenden Glanz dieses Lebenswerkes verschleiern, mögen den Schein erwecken, als sei es für immer verklungen und versunken. Wir hören es anders aus dem Raunen und Rauschen der Geschichte des ewig flutenden Lebens. Wenn die Völker erst wieder das Schwert mit dem Pflug vertauscht haben werden, wenn aufs Neue die Zeit für die Aussaat des Friedens- und Brüderlichkeitsgedankens gekommen ist, wird Jaurès‘ Name und Werk in lebendiger Kraft und Schönheit leuchten. Für diese Zeit uns bereit zu halten – unerschütterlich in der Liebe zu allem, was Menschenantlitz trägt; mutig in der Hoffnung auf Geschlechter, die unsere Ideale kühn vorantragen; stark im Glauben an den völkerverbindenden Sozialismus; das sei unsere Pflicht, das der Schwur unserer stillen Totenfeier für Jean Jaurès.
Klara Zetkin
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