Clara Zetkin: August Bebel

[eigene Übersetzung aus British Socialist, August 1913, S. 385-390]

„Viele sind tapfer, deren Schwert

nicht mit dem Blut ihrer Feinde befleckt ist“.

August Bebel! Der Name ist an sich schon ein Teil der Geschichte; der Name zeugt von dem Mann. Denn wenn wir die Blätter der Lebensgeschichte Bebels umblättern, öffnet sich uns nicht die Geschichte des kämpferischen deutschen Proletariats selbst und insbesondere der Sozialdemokratie? – eine Geschichte, deren Wellen, Kreise beschreibend, auch auf die Arbeiterbewegung anderer Länder übergegriffen haben. Es gibt kein wichtiges Kapitel dieser Geschichte, keinen entscheidenden Wendepunkt, keinen Meilenstein unwiderruflichen Fortschritts im geschichtlichen Leben des deutschen Proletariats, der nicht den festen und unauslöschlichen Stempel der schaffenden und lenkenden Hand Bebels trüge. Das ist seit fast einem halben Jahrhundert der Fall – von den ersten verwirrten und zögernden Schritten an, als das deutsche Proletariat begann, sich seiner historischen Existenz und der ihm gestellten Aufgabe bewusst zu werden; als es politisch und wirtschaftlich seinen Vormarsch als selbständige Klasse begann, bis heute, wo es aus allen Richtungen zum Sturm auf die Zitadellen der bürgerlichen Gesellschaft vorrückt. So wie Bebel einer der ersten war, die zu den Waffen riefen, so gehörte er auch nach Jahrzehnten unermüdlicher Arbeit und vielfältiger Erfahrungen zu den Unermüdlichsten der Vorhut der proletarischen Armee.

Wir finden ihn an vorderster Front unter jenen Kämpfern, denen die deutsche Sozialdemokratie ihre feste Organisation verdankt und die sich einer äußerst schwierigen Aufgabe gegenüber sahen. Es musste eine Organisation geschaffen werden, die der historischen Formation jedes einzelnen Bundesstaates Rechnung trug, die mit den unterschiedlichen politischen Lagen und Taktiken der Behörden umgehen musste und die die notwendige Einheit und Geschlossenheit mit der ebenso notwendigen Handlungsfreiheit verbinden sollte. Auch andere Erwägungen waren zu berücksichtigen. Angesichts der sich ausbreitenden und vertiefenden Tätigkeit der Sozialdemokratie war es notwendig, die Möglichkeit vorzusehen, neue Elemente in den Organismus aufzunehmen und dafür zu sorgen, dass er jederzeit in der Lage sein sollte, rasch seinen größten Schwung zu entwickeln. Und niemand hat mehr als Bebel dazu beigetragen, die Parteiorganisation mit der vollsten Auffassung des proletarischen Lebens zu erfüllen und sie für die Zwecke der Arbeiterklasse nutzbar zu machen.

Als klarsichtiger Steuermann führte er das Schiff der Sozialdemokratie durch Stürme und schwere See, zwischen den Klippen und Riffen des Sozialistengesetzes hindurch, in die Stille, die den großen Stürmen vorausgeht, und an den Untiefen des bürgerlichen Parlamentarismus vorbei. Mit dem untrüglichen Instinkt des geborenen Kämpfers und dem klaren Blick des verantwortungsbewussten Führers zog er aus den in der Wissenschaft fest verankerten Vorstellungen und Grundsätzen die richtigen Schlüsse aus dem oft scheinbar unlösbaren Durcheinander der täglichen Ereignisse. So erkannte er bei allen Stimmungen, wie notwendig die Beweglichkeit der Taktik im politischen Kampf ist, die Variabilität und Erneuerung der Methoden und Waffen. Zu einer Zeit, als die Bedeutung des Wahlrechts von bedeutenden Führern der jungen deutschen Arbeiterbewegung noch nicht erkannt wurde, als es von ganzen Bruderparteien im Ausland als ein Mittel zum Betrug an den Massen angeprangert wurde, war es Bebel, der mit starken Armen unter den „begriffsstutzigen“, „unreifen“, „unorganisierten“ Massen das von Lassalle erhobene Banner trug, geleitet von der sicheren Einsicht, dass die Geschichte ihr eigener Lehrmeister ist und dass die Massen selbst durch Übung lernen würden, in Fragen der Massenaktion zu entscheiden. Und er war auch an der Front, wenn es darum ging, in kühler Abwägung der tatsächlichen Verhältnisse, alle juristischen Formeln ruhig beiseite lassend, die gleiche historische Rechtfertigung für die illegalen wie für die legalen Mittel der Kriegsführung zu verkünden. Er blieb gleichermaßen frei einerseits von willenloser Revolutionsromantik, die den festen Boden unter den Füßen verliert, und andererseits von einem leicht befriedigten „Staatsmännertum“, das auf dem glatten Parkett des Parlamentarismus ausrutscht. Deshalb verstand er es, die parlamentarische Aktion für alle alltäglichen Bedürfnisse des leidenden und kämpfenden Proletariats zu nutzen und so die Massen an sich zu binden, sie aber auch für jene unerbittliche, prinzipielle Kritik an der kapitalistischen Ordnung einzusetzen, die die Massen zusammenschweißt und sie für den Kampf um das sozialistische Ziel schult. Schließlich war es der Einfluss Bebels, der schwer ins Gewicht fiel, als die deutsche Sozialdemokratie den Massenstreik als eine der Waffen annahm, die unter bestimmten Umständen eingesetzt werden können, ja müssen.

Die Entwicklung der sozialdemokratischen Taktik beruht in letzter Instanz auf der Theorie, die auf die praktische Erfahrung angewandt und durch sie überprüft wird. Infolgedessen findet man Bebel jedes Mal mitten im Kampf der Meinungen, sei es in Bezug auf theoretische Verallgemeinerungen oder auf den Kern der sozialistischen Konzeption und Prinzipien. Seit der Nürnberger Konferenz der Arbeitervereine, auf der das kühne Bekenntnis zu den Grundsätzen der Internationalen Arbeiterassoziation abgelegt wurde, bis zur Dresdner Parteitag [1903], auf der die Grundsätze des revolutionären Sozialismus betont wurden, hat Bebel an allen Phasen der theoretischen Reifung der Sozialdemokratie so aktiv wie möglich teilgenommen. Sie spiegeln getreu seine eigene schrittweise Entwicklung wider; denn Bebel hat sich mit der Partei und dem proletarischen Klassenkampf entwickelt und ist mit ihr gewachsen. Aber den Problemen, die dieser Kampf aufwirft, begegnete er nicht im Geiste eines Akademikers, dessen Schreibtisch mit fertigen Lösungen vollgestopft ist; er begegnete ihnen als ein Mann der Tat, der die Massen bewegen will, der arbeitend und kämpfend heiß um neue Erkenntnisse ringt und dabei begreifen muss, dass oft „des Tages Übel genug ist.“ So konnte er an der Spitze der Massen marschieren, ohne dass ihm der kalte Vorwurf gemacht wurde, er sei dogmatisch oder wolle den Pädagogen spielen; so konnte er ein Pionier sein, ohne den Kontakt zu ihnen zu verlieren oder sich zu isolieren. Man denke in dieser Hinsicht nur an seine unvergleichliche Arbeit für die Befreiung der Frau, vor allem an sein Buch „Die Frau und der Sozialismus“, aus dem Ströme von Leben strömten; so erschien seine große Festigkeit in Prinzipien und Taktik nicht als trockener, starrer Dogmatismus, sondern schien im Gegenteil die natürliche Frische des Lebens selbst zu atmen.

In der Tat sind Bebels Leben und Wirken mehr als nur ein Spiegelbild der Zeitgeschichte des proletarischen Freiheitskampfes. Sie sind die Inkarnation des proletarischen Klassenlebens, dessen unbändiger Wesensausdruck diese Geschichte formt. So wurde Bebel nicht nur zu einem Pfeiler der Geschichte, sondern er hat sie mitgestaltet. So konnte er sowohl der Agitator als auch der feinste Typus des Parlamentariers sein, der feurige Führer der Massenaktionen im ganzen Land und der kluge, kühle Taktiker im Reichstag. So fand er auch immer das richtige Verhältnis zwischen der unentbehrlichen, langweiligen politischen Alltagsarbeit und dem erhebenden Kampf für das Endziel des Sozialismus – das Ziel vor Augen, das die alltägliche Tätigkeit emporhebt, indem er dieses Ziel nie aus den Augen verliert und alle Tätigkeit nur in ihrer Beziehung dazu betrachtet; und er hatte den Mut, auch die kleinste Erleichterung der gegenwärtigen Verhältnisse des Proletariats mit so viel Eifer zu suchen, als ob der große historische Tag der Freiheit selbst auf dem Spiel stünde, und dieses erhabene Ziel der Massen emporzutragen, als ob es sofort erreicht werden sollte. Bebel war die persönliche Verkörperung der höchsten geschichtlichen Existenz der zeitgenössischen Arbeiterklasse; er war der lebendige Ausdruck der Verwirklichung, des Willens, des Handelns jener Namenlosen, Zahllosen, die die entscheidenden Schlachten des proletarischen Emanzipationskampfes schlagen. Dieses Einssein mit dem geschichtlichen Leben der Massen war die letzte und tiefste Wurzel seiner Macht über sie und machte ihn zugleich zu ihrem einflussreichsten und beliebtesten Führer; aus dieser Quelle schöpfte Bebels Beredsamkeit ihre brennende Kraft, seine Überzeugung ihre unbeugsame Festigkeit und ihr jugendliches Feuer. „Der Odem der Menschheit, die unaufhörlich nach Freiheit lechzt“, wehte aus seinem Wesen und seinem Tun. Daraus folgt zwangsläufig, dass Bebels Wesen und Handeln ganz und gar vom Geist des Sozialismus beseelt war.

Aber die Art und Weise, wie sich diese historische Notwendigkeit in seiner Person verwirklichte, machte den unerschöpflichen Schatz an wertvollen Kräften deutlich, der in dem noch unbearbeiteten und unkultivierten Boden der Massen schlummert. Diese persönlichen Kräfte trugen ihren Teil dazu bei, Bebel persönlich und politisch auf die höchste Stufe der Menschlichkeit zu heben. In der engsten Berührung mit der „Herde“ der Namenlosen schmiedete er selbst die Fülle und das Gewicht seines Lebens. Was die ästhetischen Zwerge, die Verächter der Masse, durch das unnatürliche Mittel des Rückzugs als Übermenschen aus dem gemeinsamen Leben zu erlangen suchen, die Originalität einer starken, historischen Persönlichkeit, das hat er durch das Leben mit und für die Masse erlangt.

Ein Mensch und ein Werk stehen in Bebel vor uns; ein Mensch, der ganz in seinem Werk verkörpert ist, und ein Werk, das den Menschen besitzt. In früheren Zeiten zwangen die historischen Bedingungen die Massen, Throne für diejenigen zu errichten, die sie bei der Eroberung neuer Länder anführten. Die proletarischen Massen unserer Tage, deren Aufgabe es ist, die letzten Tyranneien, durch die die Menschen versklavt sind, zu stürzen, schenken ihren Führern ihre Dankbarkeit und Liebe. Niemand bekam einen reicheren und größeren Anteil an ihr als Bebel. In ihm liebten und verehrten die Massen einen großen Mann, der sich ohne Schachern und Feilschen um persönliches Glück mit brennender Begeisterung und selbstloser Hingabe ganz ihrer großen Sache widmete – den Moses, der auf dem Marsch durch die Wüste der kapitalistischen Ordnung die ausgedörrten Seelen immer von neuem mit der Vision des verheißenen Landes der Freiheit erfrischte – den kühnen Angreifer, der mit revolutionärem Trotz die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft erschütterte. Mit ihm ist einer der herausragendsten Kämpfer des ersten heroischen Zeitalters des deutschen sozialistischen Proletariats gerade in dem Augenblick gefallen, in dem die raschen, unerbittlichen Schritte der Entwicklung dieses Proletariat zwingen, alle seine Kräfte zu konzentrieren, um in einem zweiten und stärkeren heroischen Zeitalter die Barbarei zu überwinden, die vom Kapitalismus entfesselt wird. Aber dieses Mal werden die Massen selbst der Held und der Führer sein. Seine Kraft bis zu seinem letzten Atemzug gegeben zu haben, um die Massen für diesen historischen Augenblick zu vereinen und bereit zu machen, ist Bebels Glück und seine Unsterblichkeit zugleich.


Kommentare

Eine Antwort zu „Clara Zetkin: August Bebel“

  1. […] August Bebel (Nachruf, British Socialist, August 1913) […]

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