[Eigene Übersetzung des russischen Textes in „Nasche Slowo” Nr. 221, 22. Oktober 1915]
Im Schweizer Dörflein Zimmerwald tagte im Verlauf von vier Tagen eine internationale Konferenz, auf der erstmals seit Anfang des Kriegs sozialistische Internationalisten aus der Mehrzahl der europäischen Länder zusammenkamen. In den Vermerken „Aus dem Notizbüchlein”* konnten wir bisher nur aus Anlass der Konferenz sprechen. Jetzt können wir unseren Lesern schließlich manche faktische Mitteilungen über die Konferenz berichten und die Dinge beim Namen nennen. Aber auch jetzt haben wir noch nicht die Möglichkeit, das Manifest der Konferenz zu veröffentlichen.
Die Vorgeschichte der Konferenz ist allen Lesern von „Golos“ und „Nasche Slowo“ bekannt. Diese Zeitungen haben alle Ausprägungen des Internationalismus in der Kriegsepoche und alle Versuche der Wiederaufnahme internationale Beziehungen sorgfältig dokumentiert: die Konferenzen in Lugano und Kopenhagen, die Frauenkonferenz und den Kongress der sozialistischen Jugend.
Nachdem wir in den vorangegangenen Anmerkungen eine allgemeine Charakteristik der Arbeit der Konferenz und der Ideen- und politischen Gruppierungen in ihrem Umfeld gegeben haben, wollen wir nun die Hauptdaten über ihre Zusammensetzung vermelden.
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Von den großen kriegführenden Ländern waren zwei nicht vertreten: England und Österreich-Ungarn.
Die englischen Sozialisten wollten ihre Fahrt zur Konferenz selbst zu einer agitatorischen Aktion machen und sagten den Behörden offen, wozu sie Auslandsreisepässe benötigten. Sie wollten auf diese Weise ihre Regierung zwingen, gegenüber dem internationalen proletarischen Kampf für den Frieden Position zu beziehen. Die Regierung nahm tatsächlich eine Position ein … indem sie Pässe verweigerte. Die deutsche Presse, einschließlich auch der sozialpatriotischen, beeilte sich selbstverständlich, dieses Muster von Polizeigeist publik zu machen, der das „Prestige“ des bewährten britischen Liberalismus schädigte. Damit hat sich die frömmste deutsche Presse jedoch selbst die Möglichkeit entzogen, ihren Lesern auch künftig zu erzählen, dass alle englischen Sozialisten als vollkommen gute Patrioten die Beteiligung an einer internationalen Beratung abgelehnt hätten.
Unvergleichlich trauriger verhält sich die Sache in Österreich-Ungarn. Lange vor dem Krieg entlang nationaler Grenzen gespalten, tief vom Nationalismus angesteckt und durch den Fall der deutschen Sozialdemokratie völlig demoralisiert, war die österreichische „Arbeiter“partei im Verlauf dieses Krieges eine Leerstelle. In Österreich wurde das Parlament nicht ein einziges Mal einberufen, die sozialistischen Deputierten hatten keine Gelegenheit, ihre Standpunkte offen vor den Massen zu demonstrieren, die Opposition blieb getrennt und formlos, und in ihrem Umfeld befanden sich keine Leute, die das moralische, geschweige denn das formelle Recht gehabt hätten, im Namen des revolutionären Sozialismus Österreichs an der Konferenz teilzunehmen.
Die französische Delegation war aufgrund der Umstände und der Maßnahmen der Behörden zahlenmäßig auf ein Minimum reduziert: Einem wurde der Reisepass verweigert, ein anderer wurde an der Grenze zurückgeschickt, die prominentesten Internationalisten waren durch ihre Kriegslage gebunden. Die französische Delegation vertraten die Gewerkschaften. Auf der Konferenz war nicht ein Deputierter: Die von Pressemane und anderen angeführte Parteiopposition kapitulierte auf der nationalen Konferenz am 14. Juli jämmerlich vor dem offiziellen Parteikurs. An der Spitze der französischen Partei, der „parlamentarischsten” aller Parteien der Internationale, zeigte weder unter den Jaurèsisten noch im Umfeld der Guesdisten einen einzigen Menschen, der fähig und berechtigt gewesen wäre, auf einer internationalen sozialistischen Konferenz im Namen des revolutionären Teils des französischen Proletariats zu sprechen! Diese Ehre fiel den französischen Syndikalisten** zu. In ihren leitenden Kreisen gab es noch eine Reihe ehrlicher und standhafter Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung, wie Monatte, Merrheim, Dumoulin***, Rosmer und andere. Die alten Gruppierungen unterlagen besonders deutlich dem Einfluss der Kriegsereignisse gerade in Frankreich. In der Zeit, als die patriotischen Syndikalisten wie Jouhaux (derjenige, zu dem Kautsky und Bernstein in die Schweiz gereist waren, um sich mit ihm zu verabreden) Hand in Hand mit der Partei von Sembat-Guesde ging, gingen Monatte und seine Freunde Hand in Hand mit den sozialdemokratischen Internationalisten Russlands und Deutschlands.
In der deutschen Delegation fehlten die strahlendsten Vertreter der Opposition: Liebknecht war einberufen, Luxemburg und Zetkin im Gefängnis (kurz nach der Konferenz wurde K. Zetkin bekanntlich freigelassen). Dennoch war die „Opposition” ganz vollständig vertreten: die Minderheit der Parlamentsfraktion, die Strömung der Zeitschrift „Internationale”, die internationalistischen Frauen, die Frankfurter und Stuttgarter Opposition, die Gruppe der Zeitschrift „Lichtstrahlen” u. a.
Die italienische Delegation vertrat die Partei insgesamt: ihr Zentralkomitee und ihre Parlamentsfraktion. Auf der rechten Flanke der Delegation stand der Sekretär der Parlamentsfraktion Odino Morgari, der so tätig an der Vorbereitung der Konferenz teilnahm, auf der linken Flanke – das Mitglied des Zentralkomitees Angelika Balabanowa, die Mitarbeiterin unserer Zeitung. Im theoretischen Bereich vertreten die italienischen Delegierten, mit Ausnahme Balabanowas, keine marxistischen, sondern eklektische Positionen.
Die Sozialdemokratie Russlands war vertreten in Gestalt des Zentralkomitees der Bolschewiki, von „Nasche Slowo“, der lettischen Sozialdemokratie, des Organisationskomitees der Menschewiki und des Auslandskomitee des Bund; letzteres zu Informationszwecken. Die Sozialrevolutionäre Partei wurde in Form von „Schisn“ und den internationalistischen Elementen ihres Zentralkomitees vertreten.
Aus Polen kamen drei Delegationen – entsprechend der Anzahl der sozialdemokratischen Organisationen, die auf dem Boden der Prinzipien des internationalen Klassenkampfes stehen: Die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (Gruppe des Hauptvorstands), die sozialdemokratische „Opposition“ und die PPS („Linke“).
Die Sozialdemokratische Balkan-Föderation, die sich im Juli auf der Bukarester Konferenz vereinigt hatte, war in Gestalt einer Delegation der bulgarischen (W. Kolarow) und der rumänischen Partei vertreten. Von letzterer nahm Ch. Rakowski, einer der engsten Freunde von „Nasche Slowo“, tätig an den Arbeiten der Konferenz teil.
Von den zwei niederländischen revolutionären Gruppen war nur eine vertreten, nämlich die Gruppe „Internationale“, in der die bekannte sozialdemokratische Schriftstellerin Roland-Holst eine leitende Rolle spielt. Die Vertretung der „Tribune“, einer den Bolschewiki nahestehenden Gruppe, erschien nicht: offenbar aus Ursachen rein technischen Charakters.
Schweden und Norwegen waren durch eine Delegation des revolutionären Sozialdemokratischen Jugendverbandes geführt vom Deputierten Höglund vertreten.
Von der Schweizer Sozialdemokratie nahmen teil: Grimm, einer der tätigsten Organisatoren der Beratung, Karl Moor, Charles Naine und Fritz Platten – alle auf eigene Initiative.
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Den Hauptinhalt der Konferenzarbeiten bildeten Berichte der nationalen Delegationen und die Ausarbeitung eines Manifests, das das Proletariat Europas zur Wiederaufnahme des revolutionären Kampfes für Frieden, Brüderlichkeit der Völker und Sozialismus aufrief.
Nach der einmütigen Verabschiedung des Manifests blieb nur noch die Schaffung eines Büros als ständigem Mittelpunkt der wiederbelebten internationalen Verbindungen und der internationalen Kampagne gegen den Krieg. Eine solche Einrichtung wurde in Bern unter dem Namen Internationale Sozialistische Kommission mit drei Personen (Grimm, Naine, Morgari) gegründet. Formal steht die Kommission dem alten Büro nicht entgegen. Aber dem Wesen nach wird sich die Formierung einer echten sozialistischen Internationale – daran darf man nicht zweifeln – rings um die Berner Kommission und nicht um das Brüsseler Büro herum vollziehen. In jeden Fall werden die Bemühungen der russischen Internationalisten in diese Richtung gerichtet sein.
* Meine Artikel in „Nasche Slowo”. IV. 22. L. T.
** Einer der Delegierten – Bourderon – ist, das stimmt, ein altes Mitglied der Sozialistischen Partei. Aber auch er vertrat auf der Konferenz nicht die Partei, sondern die Gewerkschaftsorganisation.
*** Dumoulin kehrte wie auch Merrheim später mit reumütigem Kopf in den Schoß von Jouhaux und Co. zurück.
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