[Die Neue Zeit, X. Jahrgang 1891-92, I. Band, Nr. 5, S. 129-132]
Berlin, 19. Oktober 1891
Die „Schlesische Zeitung“ ereiferte sich vor einiger Zeit über den „Gipfel der Frechheit, “ mit welcher an dieser Stelle König Ludwig XVI. von Frankreich und Kaiser Wilhelm Il. in einen Vergleich gestellt worden sein sollten. Die Behauptung war erfunden; was in unserer tagespolitischen Chronik etwa über den deutschen Kaiser zu sagen war, ist stets ohne Umschweif gesagt worden, Aber um dem loyalen Blatte wenigstens in etwas entgegenzukommen, möchten wir heute – mit dem bekannten Körnlein Salzes – Bismarck mit Ludwig XV. und Caprivi mit Ludwig XVI. insofern vergleichen, als dieser ehrliche, aber schwache Minister die Suppe der Korruption auslöffeln muss, welche jener starke, aber nicht ehrliche Minister eingebrockt hat. Die Plünderung des Welfenfonds, der Baare-Skandal in seinen mannigfaltigen Ausstrahlungen, und nun der Prozess Manché – es ist für den Zeitraum eines halben Jahres ein bisschen gar viel an kompromittierenden Enthüllungen.
Der Prozess Manché stellt die deutsche Auflage der Affäre Wilson dar. Die gerichtlichen Verhandlungen haben einen Ordens- und Titelschacher aufgedeckt, der sich bis in die nächste Umgebung des Kaisers Wilhelm I. erstreckte. Eine Vertrauensperson aus dem kaiserlichen Zivilkabinett, ein ehemaliger Finanzminister, eine Palastdame, ein Polizeipräsident, ein Polizeihauptmann sind darin verwickelt. Dazu kommen ein Fabrikant und Millionär, der teils für die Bestechung von Beamten, teils für sogenannte Wohltätigkeitszwecke Zehntausende aus dem Fenster wirft, um den Titel Kommerzienrat zu erlangen, und der, nachdem er nur den Kronenorden vierter Güte erhalten, und überdies seine Millionen an der Börse verspielt hatte, seine sogenannten Wohltätigkeitsspenden zurück haben will, wobei sich denn herausstellt, das der Bestechungs- und der Wohltätigkeitsfonds ineinander geflossen ist; ferner der Rektor einer städtischen Gemeindeschule, der sich um pekuniärer Erfolge willen zum Schlepper für den Ordens- und Titelschacher hergibt und, da die gehofften Erfolge ausbleiben, sich als antisemitischer Agitator auftut, um im Allgemeinen die sündige Welt durch das läuternde Feuer seines Zornes zu bekehren und im Besonderen den Skandal, den er selber eingerührt hat, an die große Glocke zu hängen. Bei alledem aber ist der Schleier nur erst an einem kleinen Zipfelchen gelüftet worden, mehrere mit hohen Titeln geschmückte Zeugen zogen es vor, nicht zu erscheinen, auch kürzte der Gerichtshof die Beweisaufnahme ab, da er die Überzeugung von der Schuld der Angeklagten, des Geheimen Hofrats Manché und eines Agenten Meyer, bereits gewonnen zu haben glaubte.
Es ist nicht ohne Interesse, das die bürgerliche Presse trotz ihrer sonstigen Ehrfurcht vor preußischen Richtersprüchen wider das in dem Prozesse Manché ergangene Urteil sehr vernehmlich murrt. Indessen, welches immer ihre Motive sein mögen, in der Sache hat sie nicht ganz Unrecht. Der Gerichtshof hatte nicht über den Ordens- und Titelschacher an sich zu urteilen, sondern nur darüber, ob in einem bestimmten Falle dieses Schachers der Bestechungs- und der Wohltätigkeitsfonds genügend auseinander gehalten war, beziehungsweise ob die Komplizen sich in besagtem Falle untereinander um die Bestechungsgelder geprellt hatten. Es scheint nun in der Tat, als ob das gerichtliche Urteil in dieser Beziehung die Schuld der beiden Komplizen, welche auf die Anklagebank geraten waren, nicht richtig abgemessen hat; so behauptet wenigstens derjenige Komplize, welcher den Denunzianten gespielt hat, und er kann es am Ende wissen. Allein es liegt auf der Hand, dass die Frage, ob und wie die Ordens- und Titelschacherer sich unter einander betrogen haben, den Ordens- und Titelschacher als politisch-soziale Erscheinung nur nebensächlich berührt, und wie wünschenswert es immer ist, dass ein etwa falsches, gerichtliches Urteil wieder gut gemacht wird, so hat eine neue gerichtliche Verhandlung für das allgemeine Interesse doch nur die Bedeutung, das sie hoffentlich noch „ein wenig mehr Licht“ über die inneren Zustände des preußischen Beamtenstandes verbreitet.
Das Ordens- und Titelwesen berührt in mehr als einer Beziehung das innerste Wesen dieses Standes Was Schopenhauer von den Orden und Titeln rühmt, nämlich, dass sie erstens gestatten, die Beamten schlecht zu besolden, indem sich dieselben gern den Schmachtriemen enger zögen im Besitze eines Titels und in der Aussicht auf einen Orden, und das sie zweitens dem urteilslosen Haufen zuriefen: der Mann hat Verdienste, er ist nicht euresgleichen – das sind tiefsinnige Wahrheiten, welche der preußische Staat längst betätigt hatte, ehe der Philosoph des urteilslosen Spießbürgertums sie entdeckte. Franz Ziegler hatte namentlich auch das Ordens- und Titelwesen im Auge, als er schrieb: „Man muss ein eingeschulter Bürokrat sein, wie ich selbst, um genau zu wissen, welch ein grandioser Wunderbau der preußische Staat ist, an den das bas empire bei Weitem nicht heran reicht. Es gibt nichts Raffinierteres, als die Methode, mit welcher er seine Beamten heranbildet, und ihnen, bevor sie reif sind, in einer bewurderungswürdigen Dressur alle geistige und moralischen Rippen bricht,“ Damit rückte er dem wahren Zusammenhange der Dinge weit näher auf den Leib, als sein einstiger Parteigenosse Graf Reichenbach, welcher in der Verhandlung der preußischen Nationalversammlung von 1848 über die Abschaffung der Orden und Titel verächtlich ausrief: „Wenn der Herr Minister Eichmann für Beibehaltung der Orden spricht, das verstehe ich. Wenn die Botokuden sich warum streiten, ob der Eine oder der Andere von Ihnen einen blau oder grün gemalten Knochen durch die Nase bohren darf, das verstehe ich auch. Wenn aber diese Versammlung noch länger Worte verschwendet über Ordenskreuze und Bändlein, das Spielwerk der Höflinge und Bedienten, das verstehe ich nicht,“ so sprach Graf Reichenbach am 31. Oktober 1848, und in der Tat schämte sich die Versammlung und diskutierte nicht länger, sondern dekretierte einfach die Abschaffung von Orden und Titeln. Am 1. November 1848 aber ernannte Friedrich Wilhelm IV. seinen Stiefsohn, den Grafen Brandenburg, zum Ministerpräsidenten, der seinen Auftrag, die Nationalversammlung zu sprengen, denn auch binnen weniger Tage ausführte.
Damit soll nicht gesagt sein, das jener Beschluss allein, aber wohl, das er auch den Staatsstreich veranlasste Preußen ist – nächst China – nicht umsonst das klassische Land der Orden und Titel. Ohne diese Hilfsmittel hätte der preußische Absolutismus, dessen materielle Macht immer eine verhältnismäßig beschränkte war, niemals die Rolle spielen können, die er tatsächlich gespielt hat. Mit seinen größeren Zwecken ist denn auch immer das Ordens- und Titelwesen gewachsen; absolut wie relativ ist es niemals früher so angeschwollen, wie unter der Regierung Wilhelms I. Die große Aufmerksamkeit, welche dieser Fürst den Orden und Titeln schenkte, geht auch aus der von seinem Biografen Schneider berichteten Tatsache hervor, dass er den General Reille, der ihm am 1, September 1870 den Kapitulationsbrief des Louis Bonaparte auf dem Hügel vor Sedan überbrachte, mit den erstaunten Worten empfing? „General, sie tragen da einen Orden, den ich niemals gesehen habe.“ Aber auch nach dem Tode Wilhelms I. haben die preußischen Orden noch zugenommen, und abgesehen davon, das jeder einzelne Orden in zahlreiche Klassen und Unterklassen zerfällt, so kombinieren, variieren und permutieren die verschiedenen Orden und Klassen mit ihren Bändern und Schleifen, ihren Ringen und Schwertern so mannigfaltig unter einander, das die Menschheit sich wirklich beglückwünschen dürfte, wenn sie für jede preußische Ordensvarietät eine entsprechende Tugend stellen könnte.
Leider nur hat das preußische Ordens- und Titelwesen kein besseres Schicksal, als größere Dinge schon gehabt haben; es geht an der Dialektik seiner inneren Entwicklung unter. Wenn die Orden und Titel nach Schopenhauers tiefsinniger Ansicht einerseits die knurrenden Mägen der Beamten täuschen, andererseits eine besondere Klasse von erhabenen Staatsbürgern schaffen sollen, so lag für ehrgeizige Leute eigentlich immer der Gedanke nahe, ob sie sich nicht auch dadurch, das sie hungernde Beamte sättigten, in die höhere Menschenklasse schwingen könnten. Und wer unter den Schleier blickt, von dem der Prozess Manchés ein äußerstes Zipfelchen gelüftet hat, der wird sofort erkennen, das der Ordens- und Titelschacher keine Sache von heute oder gestern und auch keineswegs bloß ein Erzeugnis der Ära Bismarck ist, obwohl er unter diesem korrumpierten und korrumpierenden Systeme eine besonders starke Entwicklung gehabt haben mag. Hier kommt das schon erwähnte Körnlein Salzes zu seinem Rechte. Wenn die freisinnigen und liberalen Blätter den Prozess Manché ganz und gar auf die Schultern Bismarcks abladen wollen, so ist wirklich ein bissele Falschheit dabei; ein gut Teil der schuld sollten sie doch bei einiger Ehrlichkeit für ihr eigenes Konto zurückbehalten. Der Ordens- und Titelschacher hätte niemals solche Korruption gezeitigt, wie der Prozess Manché aufgedeckt hat, wenn die bürgerlichen Klassen und ihre publizistischen Organe dem Ordens- und Titelwesen immer diejenige Missachtung erwiesen hätten, welche ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen wäre.
Indessen seit 1848 ist nur zweimal aus den bürgerlichen Klassen ein männlicher Protest gegen das Ordens- und Titelwesen laut geworden. Uhland lehnte den Orden pour le mérite, dessen Band sich selbst um den Nacken eines Arago und eines Carlyle zu schmeicheln wusste, mit unumwundener Deutlichkeit ab, und Jakob Grimm nannte es am 10. November 1859 in der hiesigen Akademie der Wissenschaften „unedel, geschmacklos, ja ohne Sinn,“ das der liberale Minister von Schwerin in einer amtlichen Verfügung von dem Dichter „Friedrich von Schiller“ gesprochen hatte. Aber das ist auch alles. Sonst haben es die Piepmeyer des bürgerlichen Fortschritts immer mit lauten Gepiepse begrüßt, wenn einmal ein bunter Vogel in ihre Reihen geflattert kam, ein bunter Vogel von untergeordneter Güte, denn der schwarze Adler ist selbstverständlich noch nie auf solchen rollenwidrigen Seitensprüngen ertappt worden, Ein Mann wie Virchow hat es doch wahrlich nicht nötig, mit Orden behangen zu werden, und doch haben eben erst die freisinnigen Blätter seine fünfzehn Orden an den Fingern abgezählt, unter gleichzeitigem Gejammer darüber, das er zu seinem siebzigsten Geburtstage nicht den sechzehnten Orden erhalten habe.
Hätten die bürgerlichen Klassen seit vierzig Jahren in dieser doch wahrlich nur bescheidenen Frage ein wenig selbstbewussten Stolz besessen, so würden sie eine der stärksten Stützen des Absolutismus erschüttert und solche deutsche Wilsons, wie sie in dem Prozesse Manché gleich dutzendweise ans Tageslicht getreten sind, unmöglich gemacht haben. Mit dem Abschieben auf die „Ära Bismarck“ ist denn doch noch nicht alles getan, schon deshalb nicht, weil diese Ära gar nicht möglich gewesen wäre ohne die Feilheit und Feigheit der bürgerlichen Klassen. Mindestens sollte man, falls denn doch einmal geheuchelt werden soll, die Heuchelei etwas geschickter betreiben. Wenn gleichzeitig mit der Verhandlung des Prozesses Manché die bürgerliche Demokratie in Berlin über einen nicht empfangenen Orden zu Tode betrübt ist und die bürgerliche Demokratie in Frankfurt a. M. über einen empfangenen Händedruck des Kaisers himmelhoch jauchzt, so muss es am Ende doch schon ein Blinder mit dem Stocke fühlen, dass der Ordens- und Titelschacher im neuen deutschen Reiche noch einige andere Quellen hat, als die Ära Bismarck.
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