Clara Zetkin: „Ihr hemmt uns, doch Ihr zwingt uns nicht.“

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 8, 17. April 1895, S. 57 f.]

Das Umsturzgesetz wirft seine Schatten voraus und besonders tief fallen dieselben auf die proletarische Frauenbewegung. Was Köllerei gegenüber proletarischem Freiheitsstreben an Nücken und Tücken, an Polizeischneidigkeit und Juristenkunstsinn zu leisten vermag, das leistet sie im Kampfe mit den klassenbewussten Proletarierinnen reichlich und täglich. Ausweisungen von Frauen aus Volksversammlungen reihen sich an Ausweisungen; Auflösungen von Versammlungen wegen Anwesenheit von Frauen folgen auf Auflösungen; Organisationen nach Organisationen werden zerschmettert; Komitees, die jahrelang unbeanstandet in der gleichen Weise tätig gewesen sind, erklärt man zu Vereinen und schließt sie auf Grund vorgeblichen gesetzwidrigen Tuns.

Der Zopf der Chineserei, der in Sachen der Frauenfrage Deutschland so tief und baumstark im Nacken baumelt, er ist dem deutschen Klassenstaat mehr als ein bloßer Schmuck. Er wird in der Hand der staatlichen Gewalten zur Schlinge, in der diese die Bestrebungen der Proletarierinnen zu erwürgen trachten, die zielklar und zukunftsfroh zusammen mit den Männern ihrer Klasse in der Arbeit heil’gen Krieg ziehen. Das alles aber von Rechtswegen, auf Grund eines Rechts, das für die Frau die Rechtlosigkeit bedeutet, das dem weiblichen Geschlecht eine Ausnahmestellung anweist, zusammen mit Kindern, Blödsinnigen und Ehrlosen. Und weil dem so ist, so bedarf der Staat der Kapitalisten zur Knebelung der klassenbewussten Proletarierinnen nicht erst besonderer Ausnahmegesetze, nicht erst einer Vergemeinerung des gemeinen Rechts. Was er an gesetzlichen Bestimmungen vorfindet, genügt ihm vollauf, gewappnet und gerüstet den Kampf aufzunehmen gegen freiheitliches Sehnen und Ringen innerhalb der proletarischen Frauenwelt.

Nachdrücklicher als je vorher, ja sogar als unter dem Sozialistengesetz, wird seitens der Behörden in den letzten Jahren dieser Kampf geführt. Erklärlich genug. Wohl standen zur Zeit des Schandgesetzes hier und da einzelne Frauen im Heerlager des geächteten Proletariats; wohl gab es damals an dem und jenem Ort kleine Häuflein Mitstreiterinnen für die Sache der Arbeit. Aber die Masse der proletarischen Frauenwelt war noch nicht im Zeichen des Sozialismus in Gärung und Bewegung geraten. Auch ließ sie sich und die Ihrigen in geduldigem Stumpfsinn vom Kapital an das Kreuz der Armut und Unterkultur schlagen; noch war sie blind gegen das Licht, das ihrer Klasse Befreiung verheißend durch die Nacht der Gegenwart schimmerte; noch drang sie nicht kämpfend über Steine und durch Dornengebüsch auf dem jetzigen Weg vorwärts, der zu ihrer vollen Menschwerdung führt. Anders in unserer Zeit. Die reaktionäre Gesetzgebung hinderte, dass sich große Scharen von Proletarierinnen in festgefügten Organisationen zusammenballten. Aber auch die reaktionärsten Gesetzesbestimmungen vermochten nicht zu hintertreiben, was auf dem Untergrund der gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit Naturnotwendigkeit erfolgen musste: die Einwurzelung des Sozialismus in der proletarischen Frauenwelt.

Wenn in Sachsen, in Berlin, in Hamburg, in allen Zentren der deutschen Großindustrie der Sozialismus eine Statt fand „in jeder Werkstatt, drin es pocht“, so nicht minder „in jeder Hütte drin es ächzt“. Die Masse der proletarischen Frauenwelt hat angefangen, sich der Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zur kapitalistischen Gesellschaft bewusst zu werden. Ein Frühlingsahnen von Freiheit, Bildung und Glück zittert durch ihre Reihen. und was sie von der Zukunft hofft, sie hofft es allein vom Sozialismus, durch die Macht der sozialistischen Arbeiterbewegung, und was sie hofft und glaubt, sie macht es zur Hoffnung, zum Glauben ihrer Kinder. Allenthalben regt sich in der proletarischen Frauenwelt neben dem Bewusstsein der Klassenlage, der feste, unerschütterliche, opferbereite Wille, kämpfend eine sonnige Zukunft zu erobern. Die proletarischen Frauen verwandeln sich mehr und mehr aus stummen Opfern der kapitalistischen Gesellschaft in bewusste Gegnerinnen derselben; wissend, wollend, tatkräftig stehen sie zu Tausenden und Abertausenden ihrer Überzeugung nach in Reih und Glied des kämpfenden Teils ihrer Klasse.

Die Genossen unterschätzen vielfach noch die Bedeutung des vollzogenen Umschwungs, die Bedeutung der proletarischen Frauenbewegung. Sie erblicken in ihr ein Etwas, das man im sozialistischen Lager wohlwollend dulden kann, das man aber nicht mit aller Kraft unterstützen und fördern muss. Anders die Wertung der Behörden. Diese fassen die proletarische Frauenbewegung sehr richtig als eine Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft auf, als ein Etwas, das sie in deren Interesse nicht dulden dürfen, das sie zu Nutz und Frommen der Besitzenden mit aller Energie bekämpfen müssen. Ihrer Erkenntnis entspricht die Tat, ihrer Pflicht im Klassenstaat getreu kehren sie gegen die proletarischen Frauen die volle Schärfe ihrer Machtmittel, und diese sind nicht klein.

Aber der Erfolg von alledem? Wohl werden Organisationen und Persönlichkeiten, die im Vordertreffen des Kampfes stehen, schwer geschädigt; wohl wird die proletarische Frauenbewegung in ihrem Fortschreiten vorübergehend gehemmt, allein vernichtet wird sie nicht. An Stelle der gefallenen Streiterinnen treten neue; andere Gruppierungsformen lösen die früheren Organisationen ab; politische und wirtschaftliche Aufklärung findet auf noch unbetretenen Pfaden ihren Weg zu der Proletarierin: Solidarität heilt die geschlagenen Wunden, Begeisterung schöpft aus erlittenen Niederlagen Erfahrung, und Überzeugungstreue gibt Mut zu neuen Kämpfen. Denn Polizeimacht und Richterweisheit vermögen wohl den Erscheinungsformen, den Lebensäußerungen der proletarischen Frauenbewegung entgegenzutreten, ihre treibenden Kräfte, ihre Lebensquellen entziehen sich dagegen vollständig dem Machtbereich der staatlichen Gewalten: sie liegen im Wesen der kapitalistischen Gesellschaft selbst.

Stetig schwillt mit dem Gange der wirtschaftlichen Entwicklung das Heer der Industriearbeiterinnen stärker an. In Gestalt der Lohnsklavinnen aber, die für kärgliches Entgelt und unter harter Mühsal fremdem Drohnentum fronden müssen, züchtet die kapitalistische Gesellschaft klassenbewusste Kämpferinnen gegen die Ordnung der Dinge, welche die Besitzenden sakrosankt erklären, weil sie ihnen einträglich ist. Die proletarische Frau, welche als Lohnarbeiterin mit den Skorpionen des Kapitals gezüchtigt wird, erwacht zum Bewusstsein ihrer Klassenlage, zum Bewusstsein der Solidarität aller Ausgebeuteten, des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Proletariat und Kapitalistensippe, zur Erkenntnis des notwendigen Kampfes von Klasse zu Klasse. Und die staatlichen Gewalten tragen redlich das Ihrige dazu bei, die proletarische Frau für diesen Kampf zu erziehen, zu schulen, zu diszipliniere. Durch den Anschauungsunterricht der Tatsachen bläuen sie ihr ein, was Worte bedeuten wie Klassenstaat, Klassenrecht, Klassengewalt etc. Durch ihre brutale Schneidigkeit gewöhnen sie an kühle Besonnenheit, an ruhiges Abwägen der Wirklichkeit, durch ihre spitzfindige Tüftelei an kluge, scharfsinnige Ausnutzung der Verhältnisse. Verfolgungen und Maßregelungen schmieden Männer und Frauen des Proletariats zusammen zu der einen revolutionären Arbeiterklasse, in der es keinen Platz für Eigenbrötelei und Sonderbestrebungen gibt.

Die Lebensverhältnisse zwingen die Frau des Proletariats in den tosenden Kampf zwischen der alten und neuen Welt, die klassengewaltlichen Nücken und Tücken hämmern sie zur gestählten, gewitzigten, sturmerprobten Streiterin. Mögen deshalb die Behörden tun, was sie nicht lassen können: der klassenbewussten Proletarierin in ihrem Kampf in den Arm zu fallen. Die Verhältnisse werden auch sie zwingen, zu lassen, was sie nicht tun können: die proletarische Frauenbewegung zu vernichten, dem Umsichgreifen des Sozialismus in der proletarischen Frauenwelt Halt zu gebieten. Nach wie vor werden sich die Proletarierinnen in immer dichteren Reihen unentwegt, opferfreudig, begeistert und siegesgewiss um das Banner der Sozialdemokratie scharen. Auf alle reaktionären Machenschaften antworten sie mit stolz – geringschätzigem Achselzucken:

„Ihr hemmt uns, doch Ihr zwingt uns nicht!“


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