[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 2, 23. Januar 1895, S. 9]
Wie Euch Allen bekannt sein wird, fordert die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, getreu dem Programm ihrer Partei, in zwei Initiativanträgen bezüglich der Volksvertretungen der Bundesstaaten und des Vereins- und Versammlungsrechts gleiche politische Rechte für die Frau wie für den Mann. Her mit dem Vereins- und Versammlungsrecht für das weibliche Geschlecht, erklärt die Sozialdemokratie, denn die proletarische Frau bedarf seiner, um sich behufs Verteidigung ihrer wichtigsten Lebensinteressen aufklären und organisieren zu können, insbesondere aber und nicht zum wenigsten, um gewerkschaftlich mit den Arbeitern zusammen gruppiert den wirtschaftlichen Kampf gegen das Unternehmertum aufzunehmen! Her mit dem Wahlrecht für das weibliche Geschlecht, denn die proletarische Frau muss in den Stand gesetzt werden, zusammen mit dem Mann ihrer Klasse auf politischem Gebiete durch Beeinflussung der Gesetzgebung um ihr Brot kämpfen, durch Eroberung der politischen Macht seitens ihrer Klasse ihre volle soziale Befreiung erringen zu können! Nicht nur vom Standpunkte eines ideologischen Gerechtigkeitsprinzips aus tritt sie mit aller Energie für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts ein, sondern im wohlverstandenen Klasseninteresse des Proletariats. Täglich wird es mehr von ausschlaggebender Bedeutung, dass die proletarische Frau an der Seite des proletarischen Mannes die wirtschaftlichen und politischen Schlachten ihrer Klasse in treuer, begeisterter Kampfesgemeinschaft mit schlagen hilft.
Genossinnen! Wie oft, wie so sehr oft habt Ihr es bitter empfunden, dass Euch in Folge der politischen Rechtlosigkeit Eures Geschlechts die wichtigsten Waffen mangeln – das freie Vereins- und Versammlungsrecht, das Wahlrecht – mit denen das Proletariat kämpfen muss und siegen wird. Fortwährend müsst Ihr damit rechnen, dass man Eure Organisationen erdrosselt, Eure Zusammenkünfte auflöst. Eure Anwesenheit in Versammlungen verbietet. Eure politische Rechtlosigkeit als Frauen muss als Vorwand herhalten für Eure Entwaffnung, Eure Knebelung als klassenbewusste, kämpfende Proletarierinnen.
Genossen! Wie oft habt Ihr nicht bedauert, dass die proletarischen Frauen sich als Streitgenossinnen nicht in dem Maße betätigen können, als es das Interesse des Proletariats erheischt, weil sie wie Unmündige und bürgerlich Ehrlose politisch rechtlos sind.
Genossinnen, Genossen! Es liegt im Interesse des einen Ziels, dem Ihr gemeinsam zustrebt, dass Ihr in gewohnter Einmütigkeit kraftvoll und entschieden die erwähnten Anträge Eurer Reichstagsfraktion unterstützt. Zu diesem Zwecke ist eine energische Agitation im ganzen Reiche zu entfalten. Überall, wo es klassenbewusste Proletarier gibt, sind in nächster Zeit öffentliche Volksversammlungen zu veranstalten, welche sich mit der Bedeutungdes Wahlrechts, des Vereins- und Versammlungsrechtsfür die Frauen des Proletariats befassen, um im Anschluss an die Anträge der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion von den gesetzgebenden Gewalten die entsprechenden Reformen zu fordern.
In Berlin finden Ende Januar vier Versammlungen statt, in denen die Forderung erhoben wird: Her mit dem Wahlrechtfür das weibliche Geschlecht! Andere Versammlungen werden folgen, in denen das Vereins- und Versammlungsrecht fürdie Frauen verlangt wird.
Genossinnen, Genossen! Organisiert allerorten ähnliche Versammlungen, sorgt angelegentlich dafür, dass dieselben sehr zahlreich von proletarischen Frauen besucht werden, dass diese laut, unzweideutig und kräftig allerorten die gleichen Forderungen erheben.
Gewiss, wir geben uns keinen Illusionen über das Zustandekommen der einschlägigen Reformen hin. Die politische Befreiung des weiblichen Geschlechts widerstreitet den Interessen der Kapitalistenklasse, weil sie den proletarischen Frauen Waffen ausliefert, dem Heere der proletarischen Klassenkämpfer neue Streiter zuführt. Das zopfigste Vorurteil gegen das weibliche Geschlecht ist gerade in Deutschland besonders stark. Klasseninteresse und Vorurteil verbündet fallen nicht auf den ersten stürmenden Anlauf. Aber wieder und wieder wird und muss die Sozialdemokratie den Ansturm wagen, bis ihr endlich der Sieg geworden ist.
Genossinnen. Genossen! Wir sind überzeugt, dass Ihr überall in gewohnter Pflichttreue, begeisterter Opferfreudigkeit und zäher Ausdauer auf dem Posten seid! Fröhlicher Mut! Vorwärts! Ans Werk!
Die Berliner Frauen-Agitations-Kommission.
Die Redaktion der „Gleichheit“.
Die Arbeiterpresse wird um Abdruck gebeten.
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