August Bebel: Deutsche Agrarier

[Nr. 866, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 48, 19. November 1887, S. 4]

: : Letzte Woche tagten die Vertreter des krassesten Agrariertums, die Mitglieder des deutschen Volkswirtschaftsrats in Berlin, um über die Interessen der „notleidenden Landwirtschaft“ zu beraten. Was sie beschlossen, dürfte dem deutschen Michel doch die Augen öffnen. Die Herren, ohne Ausnahme wohlsituierte Großgrundbesitzer, welche die Stirne haben, im Namen der Bauern zu sprechen, die sie innerlich verachten und nach Möglichkeit ausschlachten, verlangen die Verdoppelung der Getreidezölle und eine sehr bedeutende Erhöhung der Fleisch- und Viehzölle.

Roggen und Weizen, die beiden hauptsächlich in Betracht kommenden Getreidearten, die im Jahre 1874 mit 1 Mark per Doppelzentner besteuert wurden, ein Zoll, den man im Jahre 1885 auf 3 Mark erhöhte, soll also demnach künftig 6 Mark Zoll zahlen. Welche Belastung dies für die arbeitenden Klassen ausmacht, möge folgendes Rechenexempel beweisen. Aus dem Zentner Roggen werden exklusive der Kleie 65 Pfund Mehl gewonnen, die 100 Pfund Brot ergeben. Rechnet man den Tagesverbrauch eines Arbeiters auf 1½ Pfund Brot – eine Ration, die der Gefangene und der Soldat bekommt und eher zu niedrig als zu hoch gegriffen ist – so beläuft sich der Jahresverbrauch für den Kopf auf 5½ Zentner Roggen, was bei einem Steuersatz von 3 Mark per Zentner, die kolossale Steuer von 17½ Mark per Jahr, für eine Familie von 3 Köpfen von 87½ Mark per Jahr nur für Brot ergibt. Eine solche Steuer ist ein Verbrehen an der Armut, ein Frevel an der Menschheit, sie ist der bitterste Hohn auf all‘ die schönen Redensarten von Sozialreform und christlichem Mitgefühl für die Notleidenden.

Und wem kommt dieser frevelhafte Raub an der Armut zu Gute! Dem Kornbauern, dem Tagelöhner? Nein, einzig und allein dem mittleren und großen Grundbesitzer, die allein in der Lage sind, Getreide zum Verkauf zu bauen, und mit jedem Jahre mehr sich bemühen, durch Einführung aller möglichen landwirtschaftlichen Maschinen den Landarbeiter überflüssig zu machen.

Nach der im Jahre 1882 aufgenommenen Betriebsstatistik gab es im Deutschen Reich im Ganzen 5.276.344 landwirtschaftliche Betriebe. Von diesen hatten 2.323,316 oder 44,03% der Gesamtheit nur bis zu einem Hektar Bodenfläche inne. 1.719.923 oder 33,17% hatten 1-5 Hektar Bodenfläche im Besitz, doch betrug der Durchschnittsbesitz knapp 3 Hektar. Diese 77,20%, aller Bodenbesitzer sind notorisch außerstande Getreide zu verkaufen, sie sind sogar fast ausnahmslos genötigt solches zu kaufen und haben deshalb an der Zollerhöhung gar kein Interesse. 554.174 Betriebe oder 10,05% der Gesamtheit haben 5-10 Hektar Bodenfläche inne, es sind also solche Betriebe, die durchschnittlich ihren Bedarf an Getreide erzeugen, aber kaum davon verkaufen können und sicher ebenfalls kein Interesse an einer Zollerhöhung haben. Es bleiben also nur 678.931 over 12,75% der Betriebe, die ein mehr oder minder großes Interesse am Getreidezoll besitzen und denen der Zoll allein zugute kommt.

Ein lebhaftes Interesse am Getreidezoll haben eigentlich nur die Besitzer von über 50 Hektar. Dies sind aber nur 66.614 Wirtschaften oder 1,24% der Gesamtheit, die aber 9.636.249 Hektar Getreideland im Besitz haben, wohingegen auf die übrigen 98,76, nur 3.747.647 Hektar Getreideland kommen.

Nimmt man an, das die 4.597.413 Betriebe, die unter 10 Hektar Boden besitzen, eben so viele Familien bilden, und dass zu diesen 4.343.598 Familien im Deutschen Reich kommen, die keinerlei Bodenbesitz haben, so stehen 9.619.942 Familien, die durch den Getreidezoll geschädigt werden oder wenigstens kein Interesse an demselben haben, 678.931 Familien gegenüber, denen der Zoll fast ausschließlich Vorteil bringt. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung wird durch den Zoll schwer geschädigt, nur eine kleine Minderheit hat große Vorteile und diese gehört allerdings zu der einflussreichsten Klasse im Reich. Vor uns liegt eine Liste von 26 der größten Grundbesitzer im preußischen Staat, welche zusammen über 406 Quadratmeilen, die Quadratmeile gleich 550.629 Hektar, Grundbesitz haben. Darunter befindet sich Fürst Bismarck mit zirka 20.000 Hektaren und diese Grundbesitzer profitieren durch den Kornzoll ganz kolossal. Fragt man, wer unter den Großgrundbesitzern in erster Linie figuriert, so sind es unsere Fürsten und Prinzen, die gesamte Aristokratie, die hohe Finanz (die Bleichröder, Rothschild, Krupp, Oppenheim, Erlanger etc. etc.), zahlreiche Fabrikanten, die heute alle ihr überschüssiges Kapital in Grund und Boden, als der sichersten Kapitalanlage und der steigender Wert innewohnt, investieren. Diese Alle haben durch die Getreide-, Vieh- und Holzzölle, durch die Vorteile, welche ihnen das Branntweinsteuer- und Zuckersteuergesetz gewährt, alljährlich großes Vermögen zu gewinnen, und da begreift sich ihr Eifer und ihr Patriotismus für ein Staatswesen, das in so vortrefflicher Weise ihren materiellen Interessen dient. Für sie ist der Staat nur die große Interessen-Versicherungsanstalt, der für sie sorgt, jede Schädigung ihnen fernhält.

Ob die unverschämten Gelüste unserer Agrarier auch im Reichstag Gehör finden, ist einstweilen noch zweifelhaft. Wirft sich, wie dies nach den bisherigen Erfahrungen wohl zu erwarten ist, auch die Reichsregierung für sie ins Zeug, dann ist wahrscheinlich, dass die Agrarier siegen. Wenn sie ihre Forderungen auch nicht ganz erreichen, werden sie dieselben doch zum größten Teil durchbringen. Das arbeitende Volk aber ist’s, aus dessen Haut auch hier wieder die Riemen für die Reichen geschnitten werden. Wird seine Geduld ewig dauern? Wird es immer und immer wieder den Rücken geduldig hinhalten und zu den alten Lasten sich neue aufladen lassen? Unsere herrschenden Klassen scheinen das zu glauben, sonst würden sie so freche und unverschämte Forderungen nicht stellen. Aber sie dürften sich doch täuschen. Die Erhöhung der Branntweinsteuer hat bereits sehr viel böses Blut gemacht, diese, wie die Erfahrungen, die wir auf dem Gebiete der Politik gemacht, hat den Massen die Erkenntnis gebracht, das sie am 21. Februar die Betrogenen waren. Die Verdoppelung der Kornzölle dürfte diese Einsicht mächtig fördern. Die sozialreformerische Quacksalberei wird daran nicht das Geringste ändern. Nur so weiter und der sozialdemokratische Weizen kommt zum blühen. Können die herrschenden Klassen ihr Wirtschaftssystem ohne staatliche Hilfe nicht mehr aufrecht erhalten, ist’s immer nur die Masse, die die Kosten bezahlen soll, was ist natürlicher als der Ruf: Weg mit diesem Wirtschaftssystem, Beseitigung der Privatwirtschaft zugunsten der Gemeinwirtschaft.

Wenn unsere Agrarier dieses Ziel vor Augen hätten, gründlicher könnten sie nicht dafür arbeiten als sie’s jetzt tun.


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