August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 863, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 48, 19. November 1887, S. 6 f.]

Norddeutschland, 15. Nov. Einen ganz unerwarteten, wenn auch nur vorläufigen Ausgang, nahm der Prozess gegen die angeblichen 8 Mitglieder des Berliner sozialdemokratischen Zentralkomitees, die in der Nacht vom 15. Juli d. J., bei dem Verlassen eines Privathauses polizeilich abgefasst wurden und unter der Anschuldigung, die geheime Leitung der Berliner Sozialisten zu bilden, seitdem in Untersuchungshaft saßen Der Prozess kam am 12. d. M. zur Verhandlung. Die Staatsanwaltschaft behauptete, die Angeklagten seien die Leiter einer geheimen Organisation, die auf dem Kongress in Wyden beschlossen worden sei. Die Angeklagten bestritten dies; sie seien weder in Wyden gewesen, noch seien ihnen die dort angeblich gefassten Beschlüsse bekannt. Eigentliches Beweismaterial für ihre Anklage schien die Staatsanwaltschaft nicht zu besitzen Geständnisse der Angeklagten lagen auch nicht vor. Das Verlangen der Staatsanwaltschaft, die Protokolle der Kongresse zu Wyden und Kopenhagen als Beweismaterial vorzulesen, wurde von den Verteidigern als für den Fall nicht passend bestritten. Das schließliche Resultat der Verhandlung war, dass der Gerichtshof die Verlesung der Protokolle ablehnte und, da diese das Hauptanklagematerial der Staatsanwaltschaft bildeten, weiter beschloss, die Akten der Staatsanwaltschaft wieder zuzustellen und dieser anheimzugeben, neues Beweismaterial zu erbringen. Ferner beschloss der Gerichtshof, gegen den Widerspruch der Staatsanwaltschaft, die Angeklagten auf eine Kaution von je 1000 Mark in Freiheit zu setzen.

Schlimmer ist wohl kaum eine Staatsanwaltschaft hereingefallen als die Berliner. Der Prozess wirft ein merkwürdiges Licht auf unsere Rechtszustände, über die jetzt von allen Seiten geklagt wird. Den eifrigsten Verteidigern des neuen Deutschen Reichs fängt es an unheimlich zu werden bei den Urteilen und Rechtsgrundsätzen, die gegenwärtig seitens unserer höchsten Gerichtshöfe gefällt und aufgestellt werden. Das preußische Obertribunal hat in seiner schlimmsten Zeit nicht reaktionärere Rechtsgrundsätze ausstellen können, als sie seit einiger Zeit in rascher Reihenfolge seitens des obersten deutschen Gerichtshofes, des Reichsgerichts zu Leipzig aufgestellt worden sind, Rechtsgrundsätze und Interpretationen, die in den konservativsten juristischen Kreisen lebhaftes Kopfschütteln hervorrufen. Diejenigen, die einst im Reichstag für Leipzig als Sitz des obersten Reichsgerichtshofes stimmten, weil sie in Berlin nach den damals noch in frischer Erinnerung haftenden Urteilen des preußischen Obertribunals den Einfluss der Regierungsgewalt auf die Rechtsprechung fürchteten, dürfen heute sich eingestehen, das sie sich irrten. Reaktionärer konnten die Beschlüsse in Berlin nicht ausfallen, als sie bis jetzt in Leipzig ausgefallen sind, ja es unterliegt kaum einem Zweifel, das soweit die Stimmung der Umgebung auf einen Gerichtshof einwirken kann, diese Stimmung inmitten des großstädtischen Lebens der Berliner Bevölkerung dem Volksrecht günstiger sein würde, als in der Krämerresidenz, dem nationalliberal verkommenen Leipzig, wo eine dem Kretinismus verfallene Bourgeoisie den maßgebenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss hat.

In dem Berliner Prozess drängen sich doch einige Fragen auf: Wie konnte überhaupt der Anklagebeschluss gefasst werden, wenn das Anklagematerial so dürftig war, wie sich nach dem nunmehr gefassten Urteil der Strafkammer herausstellt? Und warum lies man die Angeklagten nur gegen Kaution frei, da doch sehr fraglich ist, ob die Staatsanwaltschaft überhaupt besseres Anklagematerial, als sie bisher hatte, zu beschaffen vermag? Die Angeklagten sind wahrhaftig hart genug gestraft, das sie wegen einer höchst zweifelhaften Anklage volle vier Monate Untersuchungshaft zu verbüßen hatten.

Unsere Presse ist eifrig bemüht, die Schönfärberei in Bezug auf unsere sozialen Verhältnisse en gros zu betreiben. Heuchlerisch weist sie auf England hin, wo die Arbeitslosigkeit bisher kaum gekannte Dimensionen angenommen hat und rühmt dagegen die befriedigenden Zustände im Deutschen Reich. Ab und zu entschlüpft ihr aber doch ein Geständnis, das die Dinge in richtigerem Lichte erscheinen lässt So berichten z.B. die „Dresdener Nachrichten“, ein Blatt, das die Zustände im Deutschen Reich und speziell in Sachsen auf Kosten anderer Länder nicht rosig genug malen kann, über die Zustände in unseren Weberdistrikten also:

„Von der wirklich trostlosen Lage unserer Weberbevölkerung kann man sich einen Begriff machen, wenn man sich die Löhne vergegenwärtigt, welche durchschnittlich gezahlt werden. so bezahlt eine Meraner Firma für ein Stück ganzwollene Ware, Länge 33⅓ Meter, Breite 127 Ztm., 6 Mk. 25 Pfg. Da nun der Weber durchschnittlich in der Woche nicht viel mehr als 1-1½ Stück verfertigen kann, so kommt eben ein Verdienst heraus, der nur mit „Hungerlöhne“ zu bezeichnen ist. Von diesem Verdienst gehen oft noch Ausgaben für Nebenarbeiten, wie spulen und außerdem für Reparatur von Werkzeug ab. Welcher Segen liegt in dem Umstande, das wir unsere Kleiderstoffe verhältnismäßig spottbillig kaufen? Es ist ein Missverhältnis, welches zu beseitigen, mit allen Mitteln angestrebt werden sollte. Wenn man bei Anschaffung eines neuen Anzuges die Kosten für den Stoff mit dem Betrage der Schneiderrechnung vergleicht, so muss man wahrlich finden, das der Weber einen Hungerlohn erhält, mit dem er nicht im Entferntesten imstande ist, ein menschenwürdiges Dasein zu fristen.“

Ganz ähnlich wie in der Baumwoll- und Webindustrie liegen die Verhältnisse in der Strumpf-, Handschuh- und Trikotindustrie. Die Konkurrenz und in Folge dessen die Überproduktion ist in allen diesen Branchen eine enorme und gehören Wochenverdienste von 3 bis 5 Mark nicht zu den Seltenheiten Das geben Blätter zu und schreiben es, die sonst bei ähnlichen Nachrichten aus sozialdemokratischer Feder über gehässige Schwarzmalerei und Übertreibung zetern. Die Wahrheit bohrt sich eben durch, auch wenn sie noch so unangenehm ist. schließlich sind es nicht bloß die Arbeiter, welche unter diesen entsetzlichen Zuständen leiden, sondern auch die große Zahl der selbstständigen Gewerbetreibenden, für deren Waren der Arbeiter als Konsument auftritt, die Schuhmacher, schneider, Bäcker, Fleischer, Wirte, Wohnungsvermieter usw. Die einzigen Geschäfte, die in diesem Jahre, wenigstens in den größeren Städten, leidlich flott gingen, sind die Baugewerbe, doch klagt auch hier alle Welt, dass, obgleich es nicht an Arbeit fehle, die Preise sehr gedrückte seien. Die bürgerliche Welt geht eben an ihrem Überfluss zugrunde.


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